In den nächsten zwei Jahren baut Kurt Mittenzwey vier Tunnel. Alle werden von Fanzelau bezahlt. Auf Heller und Pfennig rechnet Mittenzwey ab. Mit der Monatsgarantie kann er den Haushalt und das Studium seiner Frau finanzieren und die Eltern unterstützen, die inzwischen eine eigene Wohnung erhalten haben.
Durch die ersten drei Tunnel kommen insgesamt zweihunderteinunddreißig Menschen, bevor die Einsteiglöcher entdeckt werden. Mittenzwey hat seine feste Mannschaft, wieder Studenten, Arbeiter und ein paar Spezialisten. Die nennen ihm jedesmal Namen von Freunden und Verwandten oder von Verwandten und Freunden von Freunden und Verwandten, die rüber wollen oder müssen. Bei den ersten drei Tunnel sind das zusammen vierundsiebzig Menschen. Die restlichen einhundertsiebenundfünfzig heißen ›Fanzelau-Leute‹. Mittenzwey kennt keinen einzigen von ihnen. Alle Flüchtlinge kommen sofort in das Auffanglager Marienfelde. Mittenzwey sieht sie nie wieder.
Er ist ein erstklassiger Tunnelbauer geworden, der alle Tricks und Bluffs und Sicherheitsmaßnahmen kennt. Sein Leben hat einen Sinn! Davon ist auch die schöne, rothaarige Barbara überzeugt. Sie liebt ihren Mann noch mehr nach dessen Wandlung. Nun erst sind sie richtig eins geworden in ihrem Kampf um die Freiheit. Ein großer, pathetischer, eher furchtbarer Begriff ist das, ›Freiheit‹! Wer kann ihn definieren? Wer wagt es überhaupt?
Barbara Mittenzwey.
»Freiheit, das ist immer die Freiheit der anderen!« sagt sie. Und diesen Satz findet ihr Mann wunderbar, ganz glücklich macht es ihn, sich die Worte wieder und wieder vorzusprechen. Denn um anderen Freiheit zu bringen, buddelt er doch weiter und weiter wie ein Berserker. Barbara hilft, wo sie kann. Auch sie ist glücklich: Im Westen darf sie den Kampf weiterführen, den sie im Osten unterbrechen mußte.
Zwei glückliche Menschen – eine glückliche Ehe. Was macht es, daß Mittenzwey oft wochenlang in einem fremden Keller, an einer neuen Baustelle schläft? Überhaupt nichts! Barbara kommt ihn besuchen. Sie plant doch jedesmal von Anfang an mit – auch im Januar 1964, als der vierte Tunnel in Angriff genommen wird.
Einen ganzen Monat hat das Ehepaar Mittenzwey überlegt und gesucht, bevor es sich für die Hasenauerstraße 67 entschied. Ausschlaggebend dabei war der Umstand, daß Herr Friedrich Czibilsky seine Dampfwäscherei daselbst ab 1. Januar 1964 stillgelegt hat. Der alte Herr, der in Wilmersdorf wohnt, schaffte es nicht mehr. Die Angestellten behumpsten ihn.
Herr Czibilsky will sich nicht zu Tode ärgern. Er wird den Laden verkaufen! Und er gibt eine Annonce in der ›B. Z.‹ auf.
Das ist der Moment, da Kurt Mittenzwey erscheint. Die Leute in der Hasenauerstraße 67 dürfen nicht ahnen, was er vorhat, aber Herrn Czibilsky sagt er es. Der wohnt erstens ganz woanders, zweitens haben sie seinen Bruder in der Zone bei der großen Kollektivierung gräßlich gepiesackt, weil er nicht gleich jubelnd in eine Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft eintreten wollte, drittens hat Czibilsky also eine Riesenwut auf die Roten, und viertens ist er enorm geldgierig. Das hilft natürlich am meisten.
»Sie geben mir Vollmacht, alle Verhandlungen bei Behörden und mit Firmen über den Umbau Ihrer Wäscherei zu führen. Die Arbeiten werden spätestens Ende August abgeschlossen sein. Bis dahin bieten Sie den Laden niemandem zum Verkauf an. Wir renovieren ihn vollkommen – es kostet Sie keinen Groschen. Im Gegenteil: Sie erhalten noch zweitausend Mark von mir, sobald wir das alles schriftlich fixiert haben. Wenn Sie jedoch. ein Wort darüber verlieren, was in Ihrem Keller wirklich geschieht …«
»Nun machense aber’n Punkt, junger Mann, ja? Wollen Sie mir beleidigen? Nach allem, was mein Bruder, der arme Franz, gelitten hat …«
»Also, Sie sind einverstanden?«
Klar ist Czibilsky einverstanden.
Und so kann es am 28. Januar dann losgehen, ganz öffentlich.
GESCHLOSSEN WEGEN TOTALUMBAU steht auf breiten Papierstreifen, die quer über den Auslagescheiben der Wäscherei kleben. TOTALUMBAU – das ist ein wichtiges Wort. Immerhin wird es ein halbes Jahr dauern, bis der Tunnel fertig ist. Eine gewöhnliche Renovierung würde nie so lange dauern. Ein Totalumbau – neues Geschäft, neuer Wäschereibetrieb, alles neu – das ist etwas anderes! Das kann so lange dauern. Sieht jeder ein, nicht wahr? Auch die Vopos …
Ah, und total umgebaut wird! Junge Männer in Overalls, Windjacken, Pullovern und Pelzjacken erscheinen mit Werkzeugen. Ein Kleinbus bringt Material: Holz, Farben, Beton, Maschinen.
Wie die im Geschäft herumwerken, den Fußboden herausreißen, neue Wände ziehen, Kabel legen! Alle Leute, die im Hause zu tun haben oder da wohnen, sehen es. Und ab und zu sieht es sicherlich auch ein Volkspolizist. Aus einem Fenster der Häuser auf der anderen Straßenseite. Die Häuser auf der anderen Straßenseite sind nämlich in der Hasenauerstraße so etwas wie der Mauerersatz. Quer durch die Riesenstadt läuft die Mauer, mit Stacheldrahtverhauen, Wachttürmen, Betonsperren, Stahlbarrieren, Sichtblenden, Scheinwerfern und Stolperdrähten. Tja, aber manchmal ist gerade eine Häuserfront die Grenze des Demokratischen Sektors, oder sie läuft durch die Spree oder den Wannsee. Im Wasser kann man keine Mauer bauen. Da patrouillieren Tag und Nacht Motorboote der Volksarmee. Wenn eine Häuserfront das Pech hatte, an der Grenze zu liegen, dann wurden alle Türen und Fenster vermauert. Weil es ja doch die einfachste Sache von der Welt gewesen wäre, aus den Haustoren zu gehen oder aus den Fenstern zu springen – in den Westen. Das war in der ersten Zeit tatsächlich auch die große Masche.
Nicht lange. Am 24. September 1961 wurden allein auf der Ostseite der Hasenauerstraße 2000 Menschen aus ihren Wohnungen evakuiert. Heute sind 50 Hauseingänge, 67 Läden und 1235 Fenster vermauert – auf einer Strecke von 750 Metern.
Wie jede Straße, so hat natürlich auch die Hasenauerstraße Kreuzungen mit anderen Straßen. Die sind jetzt keine Kreuzungen mehr. An der Ostseite verbindet die richtige Mauer zwei vermauerte, leere Häuser. Auch auf den Dächern dieser Gespensterhäuser hat man Drahtsignalsperren und Stolperdrähte angebracht. Damit keiner, juppheidi, juppheida, vom Dach eines fünf- oder sechsstöckigen Gebäudes springt.
So ein Gespensterhaus ist Mottlstraße 35. Kein Mensch wohnt mehr darin. Erst wieder in 34 und 171. Bei manchen Fenstervermauerungen fehlt ein Ziegel. Das ist keine Schlamperei! Das sind Sehschlitze. Durch sie beobachten Vopos von Zeit zu Zeit Leben und Treiben auf der Westseite der Hasenauerstraße. Ab 28. Januar können sie sehen und lesen, daß da die Wäscherei Czibilsky umgebaut wird. Total.
Nach Rücksprache mit dem kleinen Herrn Fanzelau baut Mittenzwey den Laden tatsächlich um. Hypermodern! Czibilsky ist selig und läßt sich nicht blicken.
Selbstverständlich arbeitet nur ein Teil von Mittenzweys Crew im Laden, die meisten schuften im Keller. Schichtweise. Ohne Pause. Ursprünglich hatten sie eine Tiefe von siebzehn Metern unter der Erdoberfläche für den Tunnel geplant. Damit wäre er nämlich außerhalb der Reichweite aller Horchgeräte gewesen. Als sie im Keller aber einen zwölf Meter tiefen Schacht gegraben haben, bricht plötzlich Wasser ein. Der Schacht droht einzustürzen.
Die jungen Arbeiter und Studenten hetzen sich ab wie irre. Sie füllen den Schachtgrund mit Holz und Sandsäcken auf und stützen die Wände ab. Alles im eiskalten Wasser. Jeder einzelne muß immer wieder an einem Stahlseil in die Tiefe hinabgelassen oder heraufgeholt werden. Endlich haben sie den Wassereinbruch besiegt. Nun beginnen sie, horizontal zu buddeln, Richtung Osten. Der Tunnel soll unter der Hasenauerstraße und den Kellern des Hauses gegenüber verlaufen – bis in den Hinterhof von Mottlstraße 35. Da will man dann schräg aufwärts stoßen.
Nachdem sie zwanzig Meter weit gegraben haben, zeigen sich Folgen von Sauerstoffmangel. Mittenzwey kennt das. Aber diesmal ist es besonders schlimm. Ein paar Leute brechen zusammen, alle leiden unter rasenden Kopfschmerzen, und zuletzt gehen den Männern, die in den Schacht hinabgelassen werden, die Zigaretten bereits aus, wenn sie die Schachtsohle erreichen. Ein Exhaustor mußte her, um Frischluft in den Tunnel zu pumpen!
Den Exhaustor bringt Barbara Mittenzwey. Elegant gekleidet, in einem geliehenen Leopardenmantel, geschminkt und kokett, so fährt sie eines Tages im Februar mit dem Taxi vor.
Das Ganze war Mittenzweys Einfall. Immerhin, wenn so ein Laden umgebaut wird, dann erscheint doch von Zeit zu Zeit der neue Besitzer, um nach dem Rechten zu sehen, nicht wahr? Ist der Besitzer eine schöne, junge Frau, wird sein Besuch zur optischen Annehmlichkeit für alle. Auch für die Vopos. Und gerade eine Wäscherei kann sehr gut eine Besitzerin haben.
Überlegte Mittenzwey.
Aber kenne einer das menschliche Herz! Sage einer voraus, was Menschen denken werden!
Zuerst geht alles gut: Der Chauffeur schleppt die schwere Kiste mit dem Exhaustor in die Wäscherei, und keiner beachtet ihn, denn Barbara Mittenzwey führt inzwischen auf der Straße vereinbarungsgemäß ein ganz hübsches Theater auf: Lächeln, Flirten, Blicke schmeißen, Arbeiter befragen.
Viele Leute sehen dieses Theater – hauptsächlich Geschäftsleute, Tipsen und Ehefrauen, es ist Vormittag, und die Männer sind weg, die im Hause wohnen. Bei Heisterbergs, im vierten Stock, rührt sich vormittags meist überhaupt nichts, nur manchmal erscheint der Volkswagen des Wirtschaftsredakteurs, und Egon Heisterberg rennt die Treppen hoch, weil er irgend etwas vergessen oder zu erledigen hat …
Na schön, einmal kann so was Aufgedonnertes, Nuttiges ja herkommen, finden die Damen, die im Hause wohnen. Neue Besitzerin der Wäscherei ist die natürlich nie! Viel zu jung! Aber vielleicht eine Verwandte? Sollte sie im Laden als Angestellte auftauchen, wird man sie schon weggraulen, darüber sind die Damen sich einig. Das ist und war immer ein anständiges Haus. Und wenn die Herren Ehemänner so etwas sehen – kommt ja gar nicht in Frage! Alle Ehen in Nummer 67 sind vorbildlich. Bis auf die – na ja, traurig, traurig, bis auf die von Heisterbergs natürlich.
Wäre Barbara Mittenzwey nur einmal gekommen, um den Exhaustor zu bringen, alles hätte noch gutgehen können. Aber nach Mittenzweys Plan kommt sie immer wieder. Nun ist sie ja doch schon bekannt, denkt Mittenzwey. Nun kann sie kochen für die im Keller, allerlei im Taxi heranbringen, was, anders herangebracht, vielleicht auffällig wäre, und sie darf – Mittenzwey ist auch nur ein Mensch – Gott behüte die eine oder andere Nacht bei ihrem Mann verbringen, nicht wahr? Weiß ja keiner, daß sie da ist. Beobachtet sie ja keiner mehr. – So kann man sich irren.
Die Damen im Haus beobachten schärfer denn je. Natürlich interessiert es sie nicht, wenn Barbara in den Laden geht. Die macht sich ja doch bloß wichtig. Den Arbeitern soll sie ruhig die Köpfe verdrehen! Daß Barbara kocht und manchmal übernachtet, bemerken die Damen gar nicht. Alles um den Laden herum ist ihnen gleichgültig. Ihretwegen mag es die Nutte da unten auch ruhig mit den Handwerkern treiben. Nur ins Haus herein – also dann kann sie was erleben!
Das Ehepaar Mittenzwey fühlt sich sehr sicher. Bei Berechnungen und Vermessungen für den Tunnelverlauf ist es oft nötig, auf den Dachboden hinaufzugehen und da vor der Luke in Czibilskys Verschlag mit allerlei Gerät zu hantieren. Zuerst geht Mittenzwey allein hinauf. Dann kommt Barbara nach. Sie hilft ihm. Sie versteht sich auf Theodoliten und solche Dinge.
Das Unglück will es, daß man sie im Stiegenhaus sieht. Einmal. Zweimal. Das drittemal an einem Vormittag, an dem Egon Heisterberg kurz aus der Redaktion zurückkommt, weil er ein Manuskript vergessen hat. Er wird genauso gesehen wie Barbara. Ihre Wege kreuzen sich zu allem anderen auch noch im vierten Stock, sie geht hinunter, er geht hinauf. Danach steht es bei den Damen fest: Die Nutte ist Heisterbergs Freundin!
Zunächst einmal allgemeine Erleichterung. Gott sei Dank, die gehört also zu Heisterberg. Konnte man sich ja denken. So wie es mit der Ehe steht. Anschließend wird die Sache bei einem Damenkränzchen durchgehechelt. Es ist beileibe nicht Sadismus, beileibe nicht Schadenfreude (obwohl die Heisterbergsche sich wirklich nie richtig beliebt gemacht hat, diese hysterische Zicke!), welche die Damen zu der Ansicht bringt, daß es nötig ist, der Betrogenen die Augen zu öffnen. Weibliches Solidaritätsgefühl allein schon gebietet das.
So wird die farblose, früh gealterte Margot Heisterberg also informiert. So kommt der Tag, an dem sie Barbara Mittenzwey wahrhaftig und wirklich begegnet, als sie eines Mittags das Haus betritt. Da geht dieses rothaarige Flittchen leibhaftig an ihr vorüber!
Margot Heisterberg stürzt in die Wohnung hinauf. Natürlich ist Egon nicht da. Schon vor dem Flittchen weggegangen. Margot hat noch Barbaras Parfümduft in der Nase, nun glaubt sie, ihn in der Wohnung zu spüren, überall!
Daß Egon dann am Abend, zur Rede gestellt, den Idioten spielt, der von nichts weiß, hat Margot erwartet.
Oh, diese Gemeinheit!
Wie dankbar ist sie den lieben Damen, die sie aufmerksam machten. Was für ein Teufel ist dieser Egon!
Margot muß wissen, wie das Flittchen heißt. Margot beginnt ihre Nachforschungen. Immer wieder, wenn sie nachmittags einmal Barbara Mittenzwey verfolgt, vorsichtig, vorsichtig, um herauszufinden, wo das Aas lebt, immer wieder verliert sie das Mädchen aus den Augen. Aber sie gibt nicht auf. Bis zur Hardenbergstraße hat sie die Rote einmal schon verfolgen können. Irgendwo in Charlottenburg muß sie wohnen. Margot Heisterberg wird herausfinden, wo!
O ja, sie wird es herausfinden, und Unheil, schweres Unheil wird sie anrichten mit ihrer manischen Besessenheit, mit ihrer fanatischen Überzeugung, daß ihr Mann und diese Hure sie betrügen, im eigenen Haus, in der eigenen Wohnung, im eigenen Bett.