Sie … wat?« krächzt Bruno verblüfft.
Knarje kann nicht einmal krächzen. Der sitzt mit offenem Mund da und starrt Kornmann an.
»Ich sage Herrn Fanzelau«, spricht Kornmann geduldig wie ein Lehrer zu schwachsinnigen Kindern, »daß wir von einem Ostagenten angerufen worden sind, der kalte Füße bekommen hat. Der Ostagent hat uns mitgeteilt, daß Fanzelaus Entführung unmittelbar bevorsteht. Er soll in den Osten gebracht werden – als Financier all der Tunnel unter der Mauer. Wir, werde ich Fanzelau fünf Minuten vor 22 Uhr erklären, hätten schon einen Funkstreifenwagen mit zwei Beamten losgeschickt. Diese Männer würden fürs erste seinen Schutz übernehmen. Er müsse sie sofort einlassen. Danach Lichter im Park aus, Türen zu und warten, bis weitere Funkstreifen und Bereitschaftspolizei eintreffen!« Kornmann steht auf, geht zu einer zweiten Tür und öffnet sie. Knarje und Bruno blicken in eine Kammer. Dort stehen ein großer Tisch und mehrere Stühle. Auf dem Tisch steht ein Kasten mit einem Lautsprecher. Aus ihm erklingt in Abständen das Kennzeichen der Funkstreifenzentrale. Neben diesem Kasten steht ein zweiter, mit Skalen, Drehknöpfen und kleinen Lämpchen. Da münden viele verschiedenfarbene Drähte, die kreuz und quer im Raum hängen und gemeinsam durch ein Loch in der Decke verschwinden. Neben dem zweiten Kasten steht ein Tonbandgerät und neben diesem ein Telefon. Telefon und Tonbandgerät sind durch Kabel mit dem zweiten Kasten verbunden.
»Und zwar«, sagt Kornmann, »werde ich von hier aus telefonieren.«
»Sie ham den Fanzelau seine Leitung anjezappt!« konstatiert Knarje bewundernd.
»Nicht ich. Herr Rettich – und ein paar Freunde. Herr Rettich ist Fachmann auf diesem Gebiet. Vor sechs Tagen sorgte er, mit Hilfe von Freunden, die im zuständigen Fernmeldeamt sitzen, zunächst einmal dafür, daß Herrn Fanzelaus Telefon ausfiel. Herr Fanzelau meldete das der Post. Die schickte einen Störtrupp. Wie es sich so traf, bestand dieser Trupp aus Herrn Rettich und seinen Freunden. Sie haben das Telefon repariert und …«
»Anjezappt, bei die Jelejenheit.«
»Gewiß, Herr Knargenstein. Eine ziemlich komplizierte Angelegenheit. Wenn Sie sich für die technischen Details interessieren, wird Herr Rettich sie Ihnen vielleicht mitteilen. Von diesem Tag an jedenfalls konnten wir hier jedes Gespräch abhören, das Herr Fanzelau geführt hat, und auf Band nehmen.«
Dem Bruno wird jäh schlecht. Verflucht! Und wenn die Kerle Nellys Leitung auch angezapft haben? Er hat doch von Nelly aus mit Prangel telefoniert! Lange. Ausführlich. Ogottogottogott. Ich bin erledigt. Der ›Hauptreferent‹ weiß alles. Ich komme hier nie wieder raus. Ich … Was sagt der da gerade?
Der, nämlich der ›Hauptreferent‹, sagt gerade: »… auch jede andere Leitung anzapfen können. Zum Beispiel die Ihrer Freundin Nelly Pietsch, Herr Knolle …«
Na habt ihr nun, oder habt ihr nicht?
»… aber das wäre vergeudete Mühe gewesen. Ihrer großen Liebe haben Sie ganz gewiß nichts von diesem Unternehmen erzählt. Sie sind ja kein Idiot und erschrecken eine Frau zu Tode, die Sie in Ihrer Kneipe drüben im Osten haben wollen, nicht wahr?«
Falle? Test? Bruno, Vorsicht!
»Natürlich nich, Herr Hauptreferent. So doof kann ja überhaupt keena sein.«
»Was haben Sie ihr denn erzählt?«
»Det ick ’n jroßen Coup starte, und wenn der in Ordnung jeht, denn bin ick alle Sorjen los. Denn hatse ooch keene mehr. Im Moment hatse nämlich ’ne Menge.«
»Ich weiß.«
»Bloß – wie kommt Nelliken rüba in’n Osten, Herr Hauptreferent?« Ich glaube, ich habe Massel gehabt. An Nellys Leitung sind die Kerle nicht rangegangen. (Sie sind tatsächlich nicht an Nellys Leitung gegangen, eben weil Kommissar Bräsig sich Brunos Verrat nicht vorstellen konnte.)
»Von der Kneipe haben Sie natürlich erzählt?«
Langsam, Bruno. Nachdenken, Bruno. Was sagst du nun?
»Ja, hab ick«, sagst du nun.
»Dann ist es gut. Sie werden Ihre Nelly morgen früh in der Warschauer Straße umarmen können. Wenn wir drüben sind, kommt sie sofort nach. Ein Herr bringt ihr Papiere, denen zufolge sie in Düsseldorf wohnt und in Berlin zu Besuch ist. Der Herr sagt ihr, daß Sie drüben warten. Mit den West-Papieren kann sie den Übergang S-Bahn Friedrichstraße passieren. Das wird sie auch.«
Würde sie das? denkt Bruno. Immerhin – Osten …! »Ganz bestimmt wird sie das. Sonst verständigt der Herr sofort die Polizei. Sie sind den ganzen Nachmittag bei ihr gewesen. Wenn der Herr die Polizei benachrichtigt, haben Sie Fanzelau bereits entführt. Dadurch gerät Ihre Nelly automatisch in dringendsten Verdacht, von der Sache gewußt zu haben. Jener Herr wird ihr das vor Augen führen. Ihre Nelly kommt, verlassen Sie sich drauf.«
All das, was Kornmann da sagt, ist wirklich geplant – von Bräsig. Es wird nur nie realisiert werden. Weil Bruno – mit Gottes Hilfe – diesen Fanzelau nie entführen wird. Sondern weil – mit Gottes Hilfe – in ein paar Stunden die Herren Kornmann und Rettich hinter Gittern sitzen werden.
»Und wat is mit meine Wanda?« hört er Knarje fragen. Ist der meschugge? Nein, der spielt Theater. Prima, Knarje!
»Für Ihre Wanda gilt das gleiche-falls Sie mitkommen wollen.«
»Ick gloobe, ick bleibe lieba hier.«
»Das überlassen wir ganz Ihnen. Wenn Sie bleiben, erfährt Wanda überhaupt nichts. Sie können es sich im Laufe des Abends immer noch überlegen. Es liegen auch Papiere für Wanda bereit.«
Der Lautsprecher, der die Meldungen des Polizeifunks aufnimmt, bellt den Ruf des Mannes in der Zentrale nach einem Streifenwagen heraus. Prügelei zwischen Betrunkenen vor dem Eingang des Sportpalastes.
»Jesoffn wird sonnabends überall«, bemerkt Bruno.
Kornmann kehrt nach der kleinen Abschweifung zum Thema zurück: »Also Fanzelaus Anschluß wird abgehört. So einen Mann wie Herrn Rettich würde sich der westdeutsche Verfassungsschutz wünschen. Der hört im herrlichen, freien Westen doch was weiß ich wieviel tausend Anschlüsse ab. Kommt immer wieder zu Pannen dabei. Hat ja deshalb auch den großen Skandal gegeben. Hätten die Brüder Herrn Rettich, wäre es nie dazu gekommen. Bei Rettich gibt es keine Pannen. Wir haben diese Sache wieder und wieder getestet. Wenn ich nachher Fanzelau anrufe, bitte ich ihn, zurückzurufen: Um sicher zu sein, daß er wirklich mit der Funkstreifenzentrale sprach. Ich gebe ihm die Nummer.«
»Und wenna die wählt …«
»… läutet es stets hier«, sagt Kornmann zufrieden.
»Und wenna imma noch nicht beruhicht is und ’ne andre Numma wählt – von’t nächste Revier oder so?«
»Läutet es stets hier. Ich sage Ihnen doch, Herr Rettich ist ein Meister auf seinem Gebiet. Wir hören hier, zum Beispiel, nicht nur das Läuten, nachdem Herr Fanzelau gewählt hat. Wir hören ihn schon, während er noch wählt. Und bevor es zum erstenmal klingelt, wissen wir, welche Nummer er ruft.«
»Wieso?«
»Bei jeder Zahl dreht sich die Wählerscheibe, nicht wahr? Und schnellt dann zurück. Bei neun über neun Tack-tack-tack-Anschläge, bei acht über acht, bei fünf über fünf, bei einem über einen. Wenn er null wählt, sind es zehn!«
»Det is wirklich ’n Ding!« Knarje mimt den Begeisterten.
Bruno mimt den noch immer nicht Zufriedenen. »Wenn a nu aber mehrere Numman wählt … Ick meine … um janz sicherzujehn …«
»Dann läutet es mehrere Male hier. Alle Stellen, die Fanzelau in den Sinn kommen können, befinden sich in dieser Kammer.«
»Sie könn sich aba doch nich imma wieda melden! Ihre Stimme kennta doch schon. Sie jehörn zu de Zentrale. Sie könn doch nich ooch noch uff irjendeen Revier sitzen.«
»Heute abend, vor zehn Uhr und danach, werden mehrere Herren hier warten, um zu antworten, lieber Herr Knolle. Sie werden alle darüber informiert sein, daß eine Entführung des Herrn Fanzelau geplant ist, und ihm dasselbe sagen, was ich ihm gesagt habe. Sogar ein Herr, der reines Englisch und, wenn’s sein muß, auch Englisch mit amerikanischem Akzent spricht, steht uns zur Verfügung. Falls Herr Fanzelau eine britische Dienststelle anruft – die Koenigsallee liegt schließlich im Britischen Sektor. Oder falls es ihn nach dem amerikanischen CIC verlangt.«
»Die ihre Leitungen hamse ooch anjezappt?«
»Nein. Nur Fanzelaus Anschluß. Wenn ich diesen Hebel da herunterdrücke – und das werde ich bald tun –, landet er stets bei uns, der liebe Herr Fanzelau. Und wir wissen, wie gesagt, dann jedesmal schon, wen er anruft, bevor es läutet, und können den entsprechenden Mann ans Telefon lassen. Auf dieser Liste stehen alle denkbaren Stellen mit ihren Nummern.«
»Und wenna nu überhaupt keene von die Stellen anruft, sondern ’n Freund?« bohrt Bruno.
»Dann ist dieser Anschluß besetzt. Es sind für ihn, sobald ich diesen Hebel gedrückt habe, alle Nummern besetzt, die nicht auf der Liste stehen. Schon toll, wie? Selbstverständlich wird er die Polizei und nicht irgendwelche Freunde anrufen. Aber wir haben jede Möglichkeit einkalkuliert. Endlich beruhigt, Herr Knolle?«
Bruno nickt.
Knarje sagt: »Und weita?«
»Wenn Sie im Haus sind, wissen Sie doch, was Sie zu tun haben.«
»Ja, ja. Und wenna nu zu brülln anfängt?«
»Bevor er brüllen kann, hat er schon die Spritze.«
»Moment mal«, raunzt Knarje. »Und det Jeld in den Tresor? Wenna die Spritze weg hat, kanna den doch nich mehr uffmachen!«
Er weiß, daß er dieses Geld, wie die Dinge liegen, nie anrühren darf, aber er weiß auch, daß er weiter Theater spielen muß.
»Das ist Ihr Risiko, Herr Knargenstein. Vielleicht kriegen Sie das Ding auf. Andernfalls müssen Sie mit seinen Antiquitäten vorliebnehmen. Warum wir Sie für diese Aktion gewählt haben, sagte ich Ihnen ja bereits. Eine krumme Sache, und das ganze ›Maiglöckchen-Ballett‹ …«
Knarje winkt ab.
»Und nun«, meint Kornmann, einen Plan öffnend und auf den großen Tisch legend, »erkläre ich Ihnen genau, wie es bei Herrn Fanzelau aussieht …«