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Fünf Minuten später fährt ein schwarzer Mercedes 300, gefolgt von einem Polizeifunkwagen, in nordöstlicher Richtung die Koenigsallee hinab und passiert die Caspar-Theyß-Straße. An den Lenkrädern beider Autos sitzen Polizisten.

Bei der Kreuzung Caspar-Theyß-Straße – Koenigsallee steht eine Telefonzelle. Vor ihr steht ein Mann. Er sieht den Wagen nach, betritt dann die Zelle und wählt die Nummer der Autoreparaturwerkstatt Fritz Rettich in der Wustermarker Straße. Der Mann sagt, kaum daß die Verbindung hergestellt ist: »Hier ist Ludwig Meier. Herr Rettich?«

»Ja …«

»Verzeihen Sie den späten Anruf, Herr Rettich. Noch dazu am Sonnabend. Ich wollte – ich bin so aufgeregt, es ist immerhin der erste Wagen meines Lebens! –, ich wollte Ihnen nur sagen: Ich habe mit meiner Frau hin und her debattiert, bis eben jetzt. Sie meinte immer wieder, nein und nein. Sie wissen doch, wie Frauen sind, erinnern Sie sich, als wir zu Ihnen kamen …«

»Ich erinnere mich.«

»… und ich sagte, das ist ein Gelegenheitskauf, und sie sagte, wir können uns das Auto nicht leisten. Also kurz und gut: Ich habe sie überzeugt! Ich nehme den Wagen!«

»Deshalb müssen Sie mich jetzt anrufen? Morgen ist Sonntag.«

»Ich sagte Ihnen doch, ich bin so aufgeregt! Und ich hatte auf einmal Angst, Sie verkaufen das Ding jemand anderem. Also Montag früh bin ich da und zahle. Bar. In Ordnung?«

»In Ordnung.«

»Wunderbar, Herr Rettich! Wunderbar! Ach, jetzt freue ich mich erst richtig. Und verzeihen Sie noch einmal. Gute Nacht!«

Der Mann hängt ein; verläßt die Zelle langsam; schlendert langsam zur Herbertstraße und diese hinab zum Johannaplatz.

Im Büro hinter seiner Werkstatt legt Fritz Rettich strahlend den Hörer eines normalen Telefons, das auf dem Fensterbrett steht, in die Gabel.

»Sie haben es geschafft«, sagt er zu Kornmann.

Impulsiv fällt dieser ihm um den Hals, tritt sofort zurück und murmelt: »Mein erster Auftrag, und …«

»Ich bin doch genauso froh wie Sie!« meint Rettich. »Na, dann wollen wir aber machen! Wir brauchen euch nicht mehr, Genossen.«

Das sagt er zu sechs Männern, die sich im Hintergrund des Büros halten. Es sind seine und Kornmanns Ersatzsprecher für den Fall, daß Fanzelau herumtelefoniert hätte. Er hat nicht herumtelefoniert. Er hat nur die Nummer angerufen, die Kornmann ihm gegeben hatte, die der Funkzentrale.

Einer nach dem anderen, verlassen die sechs Männer das Haus – durch einen Hintereingang, einen kleinen Garten, über einen Zaun. Sie gehen einzeln, ohne miteinander zu sprechen. Kornmann und Rettich warten noch ein paar Minuten, nachdem der letzte verschwunden ist, dann wandern sie in die Werkstatt.

Der Volkswagen neben dem Laster ist dunkelblau. Alle Papiere, die zu ihm gehören, trägt Kornmann bei sich. Rettich wuchtet den Koffer mit seinen Sachen auf den LKW und öffnet das Tor der Werkstatt.

Er läßt Kornmann in dem VW auf die Straße hinausrollen, dann startet er den Laster und fährt hinterher. Steigt aus. Schließt das Garagentor. Setzt sich wieder in den Laster und fährt bis zur Hochgerichtstraße. Hier biegt er ein und hält. Der VW parkt vor ihm. Kornmann springt heraus, läuft zum Laster und steigt ein. Rettich gibt wieder Gas. Sie fahren die Zeppelinstraße nordwärts bis zur Falkenseer Chaussee, den Askanierring südwärts, Galenstraße. Langsam nähern sie sich wieder der Hochgerichtstraße.

Während dieser Rundreise ist Kornmann nach hinten geklettert und hat den Sender eingeschaltet. Er morst eifrig. Dann kommt er zurückgekrochen.

»So«, sagt er. »Die drüben wissen also jetzt Bescheid. Sie fahren mit dem Laster bis zur Folkungerstraße und lassen ihn da stehen. Ich fahre mit dem VW. Wir treffen uns Ecke Weinmeisterhornweg. Dorthin habe ich auch Knolle und Knargenstein bestellt. Das letzte Stück müssen wir zu Fuß gehen.«

»Klar«, sagt Rettich und hält wieder neben dem Volkswagen.

»Lassen Sie sich Zeit. Die haben den weiteren Weg«, sagt Kornmann beim Aussteigen.

»In Ordnung«, brummt Rettich. Dann fährt er los. Diesmal beschreibt er einen kleineren Kreis: An der Kappe, Borkzeile. Links sieht er den S-Bahnhof Spandau-West. Rechts geht es in die Staakener Straße. Da kommt ihm, gleich hinter der Unterführung, ein anderer Laster entgegen – auf der falschen Straßenseite.

Verflucht!

Ist der Kerl nun besoffen oder …

Rettich verreißt das Steuer, gerät damit selbst in die linke Fahrbahnhälfte. Es taucht ein zweiter Laster vor ihm auf.

Blick in den Rückspiegel.

Da kommen gleich drei Limousinen auf einmal und verfolgen ihn. Nein, da ist niemand besoffen!

Rettich macht sich keine Illusionen. Er hat sich nie welche gemacht. Das Spiel ist verloren. Er hält. Die beiden schweren Laster vor ihm halten desgleichen. Aus dem einen springen Bereitschaftspolizisten, Maschinenpistolen in den Händen, aus dem anderen amerikanische und britische Soldaten, ebenfalls mit Maschinenpistolen. Hinter dem DELEKATESSEN-WERNER-Laster halten die Limousinen. Ihnen entsteigen zahlreiche Zivilisten.

Auch Rettich steigt aus, die Arme hoch über dem Kopf. Ein Mann mit dichtem dunklem Haar, hoher Stirn, ausgeprägtem Kiefer, melancholischen Augen und einem Zug des Ekels um den Mund tritt dicht vor ihn.

»Fritz Rettich?«

»Ja.«

»Sie sind verhaftet.«

Ein zweiter Zivilist, der dem Kriminalrat Prangel sehr ähnlich sieht, tritt hinzu und sagt etwas in englischer Sprache zu einem der Soldaten.

Dieser stößt Rettich den Lauf einer Maschinenpistole in die Rippen. »Okay, you son of a bitch, let’s go!«

Rettich marschiert zu dem Laster, der die amerikanischen Soldaten gebracht hat, und klettert auf die gleichfalls mit einer Plane verdeckte Ladefläche. Auch hier gibt es Bänke.

Ein zweiter amerikanischer Soldat erwartet Rettich schon, stößt ihn auf eine Bank und legt ihm Handschellen an.

»Freundschaft, Freundschaft«, sagt er dazu. Der Soldat, der Rettich gebracht hat, spricht englisch mit dem Kameraden.

»Allright«, sagt der zweite Soldat. Der erste ruft dem Fahrer des Lasters etwas zu. Der Wagen rollt los. Einen Moment lang kann Rettich noch ins Freie blicken. Amerikanische Soldaten laufen die Nauener Straße nordwärts. Wohin wohl? Natürlich zur Wustermarker Straße. Zu seiner Werkstatt, seiner Wohnung, klar. Na, wenigstens hat er alle Dokumente vernichtet. Andere Soldaten steigen in den zweiten Laster, der die Schupos gebracht hat …

»Too bad, sunny boy«, sagt der Amerikaner, welcher Rettich gegenübersitzt, und grinst.

Unterdessen hat sich ein Polizist hinter das Lenkrad des Delikatessen-Lasters geschoben. Mit ihm sind der Kriminalrat Prangel, Mr. A. C. Snowden und ein weiterer, blasser, schmaler Zivilist eingestiegen. Die drei sitzen auf der Ladefläche, vor dem Sender, als Rettichs Laster nun abfährt. Der schmale Zivilist betrachtet den Sender fachmännisch.

»Ich muß euch loben«, sagt Snowden. »Daß ihr den Code so schnell entschlüsselt habt, ist wirklich eine Leistung. War doch sehr kompliziert, der Code.«

»Die Kerle haben zum Glück häufig gefunkt.«

»Keine falsche Bescheidenheit, Herr Dupler«, sagt Prangel. »Eure Abteilung ist Klasse!«

»Danke, Herr Kriminalrat.« Der Mann, der Dupler heißt und ein Spezialist der Abhör- und Dechiffrierabteilung der Westberliner Polizei ist, schaltet den Sender ein.

»Wie lautete die letzte Meldung des Hauptreferenten?«

»›Alles in Ordnung. Fanzelau entführt. Alles unterwegs. Erwartet uns ab 23 Uhr 15‹«, zitiert Dupler.

»Das haben Sie auch prima in Ihrem Wagen entschlüsselt.«

»Wenn man den Code einmal kennt, ist das kein Kunststück, Herr Kriminalrat. Langsam wird der Kasten warm.«

»23 Uhr 25«, sagt Snowden zu Prangel. »Jetzt ist es 22 Uhr 40. Kann also nicht sehr weit von hier sein.«

»Vielleicht doch. Die sollen ihn ja nur erwarten mit seinen Leuten, hat der Hauptreferent gemorst«, sagt Prangel.

»Wo immer es ist, wir werden es bald wissen. Schließlich sind unsere Leute auch hinter dem Volkswagen her. Genauso wie hinter diesem Funkstreifenwagen und hinter Fanzelaus Mercedes!« Er wendet sich an Dupler, der eben Kopfhörer anlegen will. »Sie funken den verabredeten Text.«

»Natürlich, Mr. Snowden. Ist schon verschlüsselt.«

»Und Sie sind sicher, daß das drüben echt wirken wird?«

»Absolut! Das erkennt ein Fachmann sofort! Ich habe sogar die besondere Art geübt, in der dieser Hauptreferent gemorst hat. Sie können beruhigt sein.« Er beginnt, einen Zettel vor sich, auf den das Licht einer kleinen Lampe des Senders fällt, zu arbeiten. Zuerst morst er nur ein Rufzeichen. Erst als er in seinen Kopfhörern das Antwortzeichen vernimmt, sendet er die Nachricht.