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Zu dieser Zeit hat Bruno, am Steuer des nachgebauten Funkstreifenwagens, die Heerstraße erreicht und fährt westwärts, dem Mercedes 300 nach, an dessen Steuer Knarje sitzt.

Bruno hält sich knapp hinter Knarje. Der kennt Berlin doch wie seine Westentasche. Darum hat der ›Hauptreferent‹ auch bestimmt, daß er als Lotse fährt. Auf dem Rücksitz des Mercedes liegt Herr Fanzelau, reglos und bleich. Er wirkt noch kleiner, wie ein Kind.

Ab und zu begegnet den beiden Autos ein Wagen, der stadteinwärts fährt. Passanten sieht man kaum noch …

Himmelherrgottnocheinmal! Knarje bremst scharf. Das war knapp. Idiot von einem Radfahrer! Ich habe doch Vorfahrt, Mensch! Ja, nun glotzt du mir auch noch blöde nach. Wenn ich nicht so aufgepaßt hätte, wärst du jetzt Mus. Halt mal! Wer sagt, daß dieser Radfahrer ein gewöhnlicher Radfahrer war und wirklich nicht gemerkt hat, daß er eine Straße mit Vorfahrt kreuzt? Wollte der etwa einen Unfall bauen? Sei wachsam, Knarje, wachsam mußt du jetzt sein … Bruno Knolle, am Steuer des Polizeiwagens, denkt: Der schläft wohl beim Fahren, dieser Knarje. Wenn er jetzt noch etwas versaut … nicht auszumalen! Jetzt, wo wir es gleich geschafft haben. Jetzt, wo ich die Kneipe so gut wie sicher habe. So muß man es machen! So muß man mit den Brüdern umspringen, wenn man etwas erreichen will im Leben.

Aus dem eingeschalteten Lautsprecher seines Wagens meldet sich die Stimme des diensthabenden Beamten der Funkzentrale. Er ruft ›Berta sieben‹.

»Fahren Sie zur Deutschlandhalle, S-Bahnhof Eichkamp. Gliedvorzeiger hat da eben zwei Frauen belästigt. Gegend absuchen. Die Frauen warten …«

Gliedvorzeiger.

Bruno grinst.

Eine Sprache haben die Brüder von der Polente!

Dann konzentriert er sich wieder. In präzisem Abstand folgt er dem Mercedes 300.

Zu dieser Zeit sitzt Kommissar Wilhelm Bräsig in der guten Stube seiner Friedrichshagener Wohnung. Der große Mann mit dem eisgrauen Haar, den grauen Augen und den grauen, buschigen Brauen darüber hat die Jacke ausgezogen, die Krawatte abgelegt. Entspannt lehnt er in einem Sessel und raucht eine rumänische Zigarette. Seine Frau Marie sitzt in einem Sessel neben ihm. Sie hält Bräsigs Hand. Marie ist sehr klein, ihr weißes Haar strähnig und dünn, nach hinten gekämmt, zu einem armseligen Knoten hochgesteckt. Sie hat ein gütiges Gesicht. Immer lächelt sie. Die Lippen sind dünn und blutleer und, wie die Augen, von vielen kleinen Fältchen umgeben. Zweiundsechzig Jahre ist die Marie alt, zwei Jahre jünger als ihr bullig kräftiger Mann.

»Ach, Wilhelm«, sagt die Marie, »was war das doch für ein schöner Tag heute.«

»Ja«, sagt der Kommissar und streichelt ihre Hand, »nicht wahr?« Er war wirklich schön, dieser Tag. Wunderbar war er!

Bis es dunkel wurde, haben sie beide am Wasser gesessen, auf dem Angelsteg des Häuschens, das nun ihnen gehört. Der Kommissar hat hinausgeblickt auf den großen See, er hat die Kiefern gesehen, das Schilf, die vielen Segelboote. Und alles, was er sah, berichtete er der Marie. Welche Farbe das Wasser hatte und welche Farbe die Boote hatten, wie ihre Segel in der Sonne leuchteten, und was für Vögel über ihnen kreisten und wie sich der Himmel verfärbte, zuerst hellblau, dann grün, dann rosa, dann rot, dann purpurn, dann golden, zuletzt ganz dunkelblau …

»Wann werden wir das Haus beziehen, Wilhelm?« hat die Marie gefragt.

»Wenn du willst, schon nächsten Mittwoch. Das Haus soll bis Dienstagmittag geräumt sein. Dann können wir mit unseren Möbeln rein.«

»Und mit deinem Angelzeug«, hat die Marie gesagt.

Dann sind sie nach Hause gegangen, Arm in Arm, er hat das Abendessen bereitet, und nun sitzen sie also in der guten Stube, und der Kommissar raucht eine Zigarette aus der Rumänischen Volksrepublik. Er macht sich eigentlich nichts aus Zigaretten. Aber die Marie hat den Duft so gerne, besonders den dieser Marke.

»Ich möchte mich so gern bei dir bedanken, Wilhelm«, sagt die fast blinde Frau.

»Was denn? Wofür denn bedanken?«

»Für alles, was du mir Gutes getan hast in all den Jahren.«

»Hör auf!«

»Nein, laß mich reden. Für alles, was du mir Gutes getan hast, möchte ich mich bedanken. Heute. Denn so glücklich wie heute war ich noch nie. Glücklicher werde ich nie sein können.«

»Warte mal ab! Wenn wir erst drüben wohnen …«

»Nein, nein. Heute! Heute ist unser glücklichster Tag! Eben weil wir noch nicht drüben wohnen und doch schon alles uns gehört.«

»Hm …«

»Und ich möchte mich einmal dafür bedanken, daß du immer geduldig warst mit mir und mich nie angeschrien hast oder allein gelassen, und …«

»Also! Was heißt denn allein gelassen? Glaubst du, daran hätte ich je auch nur gedacht?«

»Du nicht, Wilhelm. Andere vielleicht schon.«

»Nie lasse ich dich allein! Warum, glaubst du, habe ich immer wie ein Verrückter gearbeitet? Doch nur, damit wir uns nun das Häuschen leisten und etwas beiseite legen können für die Zeit, in der ich nur noch bei dir bin.«

»Nur noch bei mir …«, wiederholt die Marie und lächelt. »Möchtest du mir etwas vorlesen, Wilhelm?«

»Natürlich. Was denn?«

»Etwas, an das ich schon den ganzen Tag denken muß. Das Gedicht vom kleinen Hanus Hachenburg.«

Er runzelt die buschigen Brauen.

»Ausgerechnet daran mußt du heute denken?«

»Ich weiß auch nicht, warum. Aber dauernd fällt es mir ein.«

Das Gedicht vom kleinen Hanus Hachenburg steht in einem Buch, das vor einigen Jahren erschienen ist. In diesem Buch sind Zeichnungen und Gedichte von Kindern gesammelt, die im Konzentrationslager Auschwitz waren. Von fünfzehntausend Kindern kehrten nur hundert zurück.

Der Kommissar steht auf, geht zu einem Bücherbord und holt den schmalen Band. Er setzt sich wieder, blättert, findet, was er sucht, und liest: »Von Hanus Hachenburg. Geboren am 12. Juli 1929. Ermordet am 18. Februar 1943.« Der Kommissar räuspert sich. Dann liest er das Gedicht: »Einst war ich jung. Drei Jahre sind es her. Wie sehnte doch die Jugend sich so sehr nach andern Welten. Bin jetzt nicht mehr Kind. Nun bin ich erwachsen. Ich – ich hab die Angst erkannt.« Maries Hand tastet nach dem Arm des Kommissars, findet ihn, streichelt ihn. »Und trotzdem«, liest Bräsig, »glaub ich immer noch, ich schlaf jetzt nur und werd erwachen, ein Kind dann wieder, das wie einst zu spielen weiß und froh zu lachen.«

Bräsig läßt das Buch sinken.

»Und froh zu lachen«, sagt die Marie leise und nickt sanft dazu.

Da läutet in Bräsigs Arbeitszimmer das Telefon.

Der Kommissar geht schnell hinüber und schließt die Tür hinter sich. Sofort, nachdem er abgehoben hat, hört er die Stimme dieses Bonzen, dieses Peter Wieland. Sofort weiß er mit absoluter Bestimmtheit: Etwas ist geschehen.

»Wieland hier. Da haben wir also die Scheiße, mein Lieber.«

»Was ist passiert?«

Wielands Stimme bebt vor Wut: »Zwei Funksprüche kamen rüber. Einer vor zwanzig Minuten, einer vor fünf. Ich lese Ihnen den ersten vor: Alles in Ordnung, Fanzelau entführt. Alles unterwegs. Erwartet uns ab 23 Uhr 15.«

»Und … und der zweite?«

»Der zweite lautet: Auf der Fahrt zum Treff von Polizei gestoppt. Nach Schießerei entkommen. Werden verfolgt. Fahren in Richtung Stadtmitte, um Polizei vom Treff abzulenken. Schickt sofort Mann, der Knolle und Fanzelau hinüberbringt. Waren mit ihm und Knargenstein am Weinmeisterhornweg verabredet. Das letzte Stück Weg kennen sie nicht. Bitte augenblick …«

»Weiter!« sagt Bräsig.

»Weiter geht es nicht. Das ist alles, Kollege Kommissar. Hier bricht der Funkspruch ab.« (›Kollege Kommissar‹ – ganz dienstlich, der Herr ›Kollege‹ Bonze von der Zentrale, denkt Bräsig erbittert.)

Dann tobt er los: »Dieser verfluchte Idiot von einem Kornmann! Wußte genau, daß er nicht mit Rettich zusammen da rausfahren durfte! Tagelang habe ich ihm das eingebleut! Rettich mit dem Laster, er mit dem VW

»Ihr Schüler, Kollege Kommissar«, sagt Wielands Stimme kalt.

»Bitte?« Bräsig bemerkt plötzlich, daß er zittert. Aber nicht vor Wut. »Was heißt, mein Schüler? Was kann ich dafür, wenn dieser dämliche Hund …«

»Schluß!« Wielands Stimme klingt jetzt scharf und hart. »Sie sind verantwortlich für die Aktion, Kollege Kommissar! Sie haben alles vorbereitet! Gut. Aber nicht gut genug. Kornmann können wir abschreiben. Rettich auch. Knolle und Knargenstein sind mir egal. Aber Fanzelau müssen wir haben! Verstehen Sie? Wir müssen ihn haben! Unter allen Umständen!«

Bräsig beißt sich auf die Lippe. Ein Leben lang hat ihn sein Instinkt geleitet, gewarnt, gelockt, hat ihn unorthodox und erfolgreich handeln lassen – manchmal so, als sei er ein Hellseher. Was hier nun anrollt, fühlt er direkt körperlich. Was er nicht sieht: Wie er es aufhalten oder abwenden könnte.

»Wenn sie Kornmann und Rettich erwischen, ist drüben doch der Teufel los!« sagt er, hinhaltenderweise.

»Noch hat niemand Kornmann und Rettich erwischt. Noch lenken die beiden die Polizei vom Treff ab, weit ab! Aber sollen Fanzelau, Knolle und Knargenstein vielleicht bis Weihnachten am Weinmeisterhornweg stehen?«

»Natürlich nicht, nur …«

»Ja, Kollege Kommissar? Bitte? Nur was? Ich höre!«

»Nichts … Sie haben recht. Es muß einer hinüber!«

Und ich weiß auch schon genau, wer da hinüber muß, denkt Bräsig, wobei es ihn erstaunt, wie ruhig er bleibt. Ich werde es sein. Natürlich ich! Und ich werde gehen. Denn dann habe ich immer noch eine Chance. Wenn ich mich weigere zu gehen, ich, der Initiator des ganzen Planes, habe ich keinen Funken einer Chance mehr. Dann ist es aus mit mir. Dann bricht mir diese Sache den Hals. Ja, ein schöner Tag war das heute …

»Sie, Kollege Kommissar, werden hinübergehen.«

Na also! Auf meinen Instinkt kann ich mich verlassen. Von Anfang an hatte ich doch auch das Gefühl, daß diese Überprüfung aller Außenstellen einer einzigen galt: Meiner. Und einem einzigen Projekt: Meinem. Jetzt kommt mir ein völlig wahnsinniger Gedanke: Und wenn Wieland für den Westen arbeitet?!?

Wahnsinnig?

Wieso eigentlich?

Ich habe schon ganz andere Dinge erlebt. Aber jetzt ist keine Zeit für Spekulationen. Weil sie nämlich zu nichts führen. Wieland ist der Bonze. Gehandelt werden muß, sofort, augenblicklich. Um zu beweisen, daß Wieland ein Westagent ist (wenn er einer ist), würde ich Wochen und Monate benötigen. Der Mann sitzt immerhin seit vielen Jahren in der Zentrale. Vielleicht trügt mein Instinkt mich hier. Ich glaube es nicht. Aber auch das ist nun müßig: Wieland wird auf alle Fälle schneller sein als ich. Wenn ich mich weigere, hinüberzugehen, werde ich keine Gelegenheit mehr haben, Nachforschungen anzustellen. Wenn ich mich weigere, bin ich morgen in Haft. Ich, Wilhelm Bräsig, unsicherer Kantonist von Anbeginn. Nur geduldet. Immer mißtrauisch beäugt. Allen wackeren Genossen zuwider.

Ich habe es stets gewußt: Einmal wird eine solche Situation kommen. Und ich habe mir stets gesagt: Wenn sie kommt, mußt du so handeln, daß du mit größtmöglicher Wahrscheinlichkeit heil davonkommst, das Pensionsalter erreichst, in Ehren entlassen wirst, endlich bei deiner Marie bleiben kannst.

Aus dieser Einstellung heraus habe ich jede Gemeinheit begangen, jeden Verrat, habe andere die Kastanien aus dem Feuer holen lassen. Nun ist die Reihe an mir!

Viele meiner Kuriere wurden verhaftet. Viele sind zurückgekommen. Ein Roulettespiel. Ach, ich komme schon zurück – und dann bin ich für immer sicher, und meine Marie ist für immer geschützt. Ich komme zurück! denkt Bräsig, und seine Kiefer mahlen. Doch nur, wenn ich hinübergehe, kann ich auf dieses ›Zurückkommen‹ hoffen. Wenn ich nicht gehe, ist alles verloren, war alles umsonst, was ich bisher getan habe für Marie und mich, mich und Marie, Marie und mich.

Sagt Kommissar Bräsig, den der schreckliche Begriff ›Liebe‹ zu so vielen schrecklichen Taten veranlaßt hat, mit fester Stimme: »Natürlich bin ich der Mann. Ich habe die Aktion gestartet!«

»Genau«, meint Wieland. »Ich hätte mich sehr getäuscht in Ihnen, wenn Sie zurückgezuckt wären.«

Todsicher: Wieland ist ein Westagent. Aber was fange ich mit dieser Überzeugung an? Nichts! Meiner Haut muß ich mich nun wehren … und das wie noch nie! Muß mich in acht nehmen. Vor Wieland – und vor denen drüben. So vorsichtig wie möglich werde ich sein. Hoffentlich ist das vorsichtig genug. Unsinnig, darüber zu grübeln. Ich muß hinüber. Wie hieß dieser französische Film? ›Lohn der Angst‹. Guter Titel. Ich habe den Film gesehen. Hat keiner den Lohn für seine Angst bekommen darin. Ich … werde ich meinen Lohn bekommen?

»Los, los, Kollege Kommissar!«

»Los – wie? Mit einem Wagen? Da muß ich um halb Berlin herumfahren! Da brauche ich ja Stunden, bis ich zum Weinmeisterhornweg komme …«

»Natürlich nehmen Sie keinen Wagen. Sie rennen rüber zum Sportplatz. Das sind keine fünf Minuten von Ihnen. Ein Hubschrauber erwartet Sie.«

Hubschrauber! Natürlich, denkt Bräsig, ja, so geht es …

»Mit dem Hubschrauber schaffen Sie den Weg in einer Viertelstunde. Sie landen entsprechend weit hinter der Grenze, der Pilot weiß genau, wo. Der Westen ist in Alarmbereitschaft. Wenn da jetzt einer den Hubschrauber sehen oder hören würde …«

»Ja, ja, ja, klar.«

»Sie müssen dann ein Stück vorlaufen – wohin, wissen Sie ja.«

»Weiß ich …«

»Der Pilot ist genau informiert. Gibt Ihnen Ausweise, Waffen und so weiter.«

Ich werde mir eine gute Waffe aussuchen, denkt Bräsig. Die beste. Und wenn ich schießen muß, werde ich treffen. Ich komme zurück. »Jetzt brennt’s! Unser Freund Fanzelau ist spätestens in einer Viertelstunde am Treff.«

»In Ordnung. Ich bin bereit.«

»Großartig. Toi, toi, toi, Kollege Kommissar«, sagt Wieland und hängt ein. Er läßt sich in Bräsigs Bürosessel sinken und drückt auf einen Knopf. Max Hepp, der Mann mit dem nervösen Gesichtsleiden, kommt herein. Sein ganzes Gesicht zuckt – furchterregend!

»Funkspruch an Kornmann«, sagt Wieland. Hepp notiert. »Fahren Sie weiter Stadtzentrum. Bei Festnahme durch Aussageverweigerung so lange wie möglich Zeit gewinnen. Unser Mann ist unterwegs. Juni.« (›Juni‹ ist Wielands Tarnname.) Der CIC-Agent ›Juni‹ sieht Hepp an. »Fertig aufgenommen?«

»Ja, doch …«

»Los also! Sofort verschlüsseln und durchgeben!«

Hepp verschwindet.

Peter Wieland verschränkt die Arme und lehnt sich noch weiter in Bräsigs Sessel zurück. Wenn dieser Funkspruch ausgestrahlt wird, dann empfangen ihn Prangel und Snowden. Und wissen, daß Bräsig unterwegs ist. Das geht aus der Formulierung des Spruchs hervor. Ist alles längst bis ins Detail vorbereitet. Hat alles geklappt. Er kann, findet Peter Wieland, mit sich äußerst zufrieden sein.