Der Weinmeisterhornweg ist lang. In der Mitte etwa kreuzt er die Spandauer Wilhelmstraße. Deren Fortsetzung nach Südwesten ist die Potsdamer Chaussee, die ein weites Stück die Grenze zwischen Westberlin und der Zone bildet. Etwa dreihundert Meter von der Kreuzung Weinmeisterhornweg – Wilhelmstraße entfernt macht diese Grenze einen scharfen Knick nach Nordwesten.
Öde ist es hier draußen, dunkel und still. Jenseits der Potsdamer Chaussee liegen einige wenige Häuser des ehemaligen Gutes Karolinenhöhe. Rieselfelder sind das hier. Dichtes Buschwerk. Auf der Westberliner Seite gibt es überhaupt keine Häuser. Einen halben Kilometer südwestlich, nach Groß-Glienicke zu, hat die Westberliner Polizei eine Außenstelle. Um so weniger wird sie vermuten, daß gerade hier …
Den Weinmeisterhornweg nun wandert Ernst Kornmann auf und ab. Der Volkswagen ist in der Falstaffstraße geparkt. Kornmann wartet auf Rettichs Eintreffen und auf das Erscheinen der beiden Autos, die Bruno, Knarje und den kleinen Herrn Fanzelau bringen. Ohne Ungeduld schlendert der SSD-Mann hin und her. Er ist nicht nervös. Jetzt nicht mehr. Daß er warten muß, stört ihn nicht. Die Männer können ja nicht auf die Minute pünktlich und alle zusammen kommen. Sie sind unterwegs, das ist die Hauptsache. Ich habe meinen Bewährungsauftrag also fast schon bestanden, denkt er. Und dann denkt er: Komisch, so sehr freue ich mich gar nicht einmal darüber! Ich müßte mich doch eigentlich wie verrückt freuen. Aber ich tu es nicht. Eher bin ich ein wenig traurig und müde. Weil alles so einfach war? Weil die Spannung nun vorüber ist? Warum? Und während er den Weinmeisterhornweg auf und ab geht, verhört Kornmann zur Abwechslung sich einmal selbst. Und weil er allein ist und weil sich das alles nur in seinen Gedanken abspielt und weil keine Zeugen da sind, die sein Gesicht beobachten können, gesteht Kornmann die Wahrheit, die ganze Wahrheit.
Als die Nazis da waren, da habe ich stets gedacht: Nur überleben! Nur erleben, daß diese Brut verreckt! Die gerechte Sache siegt zum Schluß immer. Ich weiß es. Aber manchmal dauert es lange, und ich hatte solche Angst, es würde zu lange dauern für mich. Es hat nicht zu lange gedauert. Ich habe es erlebt. Ach, war ich glücklich, glücklich!
Nun begann eine neue Zeit. Nun durfte ich für den Kommunismus arbeiten – mit aller Kraft. Denn nur der Weltkommunismus kann unsere Welt erlösen von Hunger und Not und Krieg, alle Menschen in allen Ländern.
Das erzkapitalistische Amerika und die Sowjetunion, das Vaterland aller Werktätigen, hatten gemeinsam Hitlerdeutschland besiegt. Amerika und die Sowjetunion – Verbündete im Krieg! Freunde! Auch noch nach dem Krieg. Emigranten kamen aus USA zurück. Sie erzählten uns, wie sozialistisch es schon in den Staaten zuging. Viele amerikanische Offiziere waren Sozialisten, sympathisierten mit der Sowjetunion. Auf einer Gesellschaft in der ›Möwe‹, dem Künstlerklub, den die Russen damals eröffnet hatten und in den alle, alle kamen, Franzosen, Deutsche, Russen, Amerikaner, Engländer, in der ›Möwe‹, da sagte ein amerikanischer General einmal zu mir: »Was heißt das, ob ich ein Sozialist bin, Mr. Kornmann? In unserer Zeit ist jeder Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, Sozialist!«
1946 war das. Achtzehn Jahre alt war ich da erst, aber mitten drin schon im Neuaufbau. Als junger Aktivist.
Da habe ich geglaubt, nun würden wir – mit Schwierigkeiten natürlich, aber mit gutem Willen – alle zusammen, alle Völker, die Erde wieder zu dem machen, was sie einmal gewesen sein soll. Ein Paradies.
Es ist nicht zu fassen. So idiotisch war ich! Das dachte ich wirklich, damals.
Viele waren übrigens genauso idiotisch.
Natürlich ging alles daneben. Wer begann damit, die Zukunft zu verraten? Die Bundesrepublik! Da kamen die alten Nazis aus ihren Löchern, in die Regierung. Herr Adenauer nahm sich einen Mann wie Globke, den Kommentator der Nürnberger Judengesetze, ins Bundeskanzleramt, machte ihn zum Staatssekretär und erklärte, auf ihn nicht verzichten zu können. Ich vergesse die Worte nie, die Adenauer gesagt hat: »Die politische Vergangenheit Doktor Globkes ist von den Alliierten minuziös nachgeprüft worden. Eine deutsche Stelle braucht nicht noch minuziöser zu sein als die Besatzungsmächte.« Ein schlauer Mann, der Herr Adenauer, ein großer Politiker. Nicht umsonst hat er seit 1949 jede Wahl gewonnen. Mit Hilfe der Globkes. Und der vielen Nazis.
Es gab auch andere Politiker in der Bundesrepublik. Theodor Heuss zum Beispiel. Der sagte im März 1952 – auch diese Worte vergesse ich nicht –: »Es ist um des gemeinen Wohles willen notwendig, daß bestimmte Typen, die gestern im Dienst des Hasses standen, heute schweigen müssen.«
Armer Heuss. Sagen ließen sie dich so etwas. Schwiegen sie? Ha! Lauter und lauter wurden sie, aggressiver und aggressiver. Die Schwerindustrie witterte Morgenluft, die Großbanken desgleichen – dieselben Leute, die Hitler zur Macht gebracht hatten. Sie hetzten die Heimatvertriebenen auf. Hallo, Herr Seebohm! Ihr seid keine Revanchisten, was?
Blitzschnell ging das. Die Saat des Mißtrauens schoß auf, die Saat der Angst. Alle, die erlebt hatten, wie Deutschland unter Hitler ihre Länder zerstört, ihre Angehörigen umgebracht, ihre Habe vernichtet, sie selbst terrorisiert hatte, bekamen Angst. Die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei, Jugoslawien, Rumänien, Ungarn und so weiter und so weiter. War das ein Wunder? Sollten wir uns alle – denn nun gehörte ja auch die DDR zum ›Osten‹ – noch einmal überfallen lassen? Wir begannen zu rüsten. Darauf hatte der ›Westen‹ nur gewartet! Nun rüstete auch er. Wie noch nie wurde gerüstet. Auf beiden Seiten. Ein Wettlauf des Todes war das. Wer hatte die meisten Atombomben? Wer die stärksten? Wer die furchtbarsten Fernraketen?
Auch ich bereitete mich vor. Auch ich wollte nicht alles noch einmal erleben. So ging ich zum SSD. Aber immer war da diese Bitterkeit in mir. Die in Westdeutschland, die hatten die feinsten Kleider und die feinsten Autos, Villen, Bankkonten, Millionen. Und wir in der DDR hatten so wenig, so wenig.
Meine Frau ist jung. Junge Frauen machen sich gern hübsch, ziehen sich gern hübsch an. Ich bin auch jung. Nicht eitel. Aber ich sah oft Bilder, die zeigten, wie die Männer im Westen sich kleideten. So schick. So modern. Ich hatte nie im Leben einen guten Anzug besessen. Es ist verrückt, ich weiß es, wenn man in einer Zeit wie dieser an Anzüge, Kleider, Parfüm, Lippenstifte, Nylonstrümpfe denkt. Aber ich dachte daran! Und meine Frau dachte daran! Wir sind nur Menschen. Wir sagten uns: Der Kampf gegen den Neuen Faschismus ist das Wichtigste. Alles muß vor diesem Kampf zurückstehen. Wir allein können die Welt noch retten, so wie sie sich nun entwickelt.
Was weiß ich, wo das steht: ›Der Mensch lebt nicht vom Brot allein.‹
Wo immer es steht, es stimmt!
Sollten wir ewig arm bleiben, schlecht gekleidet, ohne jeden Luxus, unser ganzes Leben lang – für das Leben anderer? Das war doch nicht gerecht – oder?
Sollte auch meine schöne junge Frau nur in Westzeitungen sehen dürfen, wie die Frauen des Westens sich anziehen? Sollte sie kein kleines Stück von dem Glück haben? Es kann doch nicht sein, daß man nur geboren wird, um zu kämpfen, sich zu fürchten, zu hassen. Und so kaufte ich für meine Frau Kleider und Schuhe und Wäsche und ein bißchen Schmuck in Westberlin, bevor die Mauer stand und man noch hinüber konnte. Für mich selbst kaufte ich Anzüge, wie die Männer im Westen sie tragen, dieselben Hemden, dieselben Schuhe, dieselben Krawatten.
Sogar als die Mauer stand, brachten Freunde im SSD uns noch Sachen mit, wenn sie von Außenmissionen heimkehrten.
Ich weiß, alle in der Warschauer Straße ärgert es, daß ich so elegant herumlaufe. Besonders den Bräsig. Der kann das nicht begreifen. Sicher spioniert er, um herauszubekommen, wo ich das Zeug herkriege. Ist das nicht jämmerlich? Dem Naziterror sind wir entkommen. Auf das Paradies haben wir gehofft. Und was haben wir dafür eingetauscht, was haben wir bekommen? Reinseidene Hemden. Weiche Slipper. Ein halbes Dutzend Kleider und Wäsche aus Paris. Ist das nicht zum …
Und jetzt weiß ich, warum ich nicht so froh über das Gelingen meines ›Bewährungsauftrags‹ bin, wie ich es sein müßte. Weil ich im Osten nun ganz schnell den nächsten Auftrag bekommen werde und den übernächsten. Immer schwierigere. Immer wichtigere, natürlich. Aber so wird mein Leben verlaufen: Im Kampf, im Kalten Krieg. Und wir alle haben uns so sehr nach einem wärmenden Frieden gesehnt. So wie es geht, wird es immer weitergehen – bestenfalls!
›Ach, wir, die den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit, durften nicht freundlich sein …‹
Und glücklich, denkt Kornmann, sorglos, heiter dürfen wir also auch nicht sein. Schön ist das nicht. Nein, gar nicht schön ist das … Jäh bleibt der SSD-Mann stehen. Er hört ein Auto näherkommen, halten. Wagentüren schlagen dumpf.
Pad, pad, pad …
Kornmann tritt hinter den Pfosten eines Gartentors. Seine Hand tastet nach der Pistole im Schulterhalfter.
Da biegen sie um die Ecke der Folkungerstraße. Bruno und Knarje in ihrer Polizistenkluft, und zwischen sich schleppen sie den bewußtlosen kleinen Herrn Fanzelau, dessen Schuhe über das Pflaster gleiten.
Kornmann tritt auf die Straße vor und geht ihnen entgegen.
Das Motorengeräusch eines Lasters ertönt. Stirbt ab. Das ist jetzt Rettich, denkt Kornmann. Hat seinen Wagen gleichfalls in der Folkungerstraße geparkt. Muß gleich hier sein. Kornmann nickt Bruno und Knarje ermutigend zu. Die müssen den bewußtlosen Fanzelau nun nur noch die paar hundert Meter schleppen, dorthin, wo es hinübergeht, und dann …
Pad, pad, pad …
Rettich kommt, denkt Kornmann.
Lauter wird dieses Pad-pad-pad, immer lauter. Sie sehen zur Folkungerstraße.
Kornmann fragt flüsternd: »Wollen Sie also vielleicht doch mit rüber, Herr Knargenstein?«
»Nee!« Knarje schüttelt energisch den Kopf.
»Bitte sehr. War nur eine Frage. Wenn wir fertig sind, gehen Sie in die Falstaffstraße. Dort steht ein blauer Volkswagen. Hier sind Schlüssel und Papiere. Im Wagen liegen die Sachen, die Sie am Nachmittag getragen haben. Ziehen Sie sich um. Werfen Sie die Uniform weg. Lassen Sie den Wagen irgendwo stehen. Ihre Handschuhe schmeißen Sie natürlich erst danach fort.«
Knarje nickt.
Überlaut sind die Schritte nun geworden.
Alle drei sehen gebannt zur Folkungerstraße hinunter.
Jetzt muß Rettich sofort um die Ecke biegen.
Niemand biegt um die Ecke.
Aber eine Stimme sagt halblaut hinter ihnen: »Hände hoch! Sofort! Oder es knallt!«
Kornmann fährt herum. Es fällt ihm nicht auf, daß Bruno und Knarje gar nicht erschrocken sind und sich langsam umwenden, ohne die Hände zu heben, ohne Fanzelau fallen zu lassen.
Drei Polizisten stehen da, Maschinenpistolen im Anschlag, auf Strümpfen.
Diese Strumpfparade ist ungemein lächerlich – wenn man sie beispielsweise als Zuschauer im Kino betrachten würde. Hier findet sie niemand lächerlich.
Kornmann sieht, wie plötzlich ein Rudel Menschen aus der Falstaffstraße in den Weinmeisterhornweg einbiegt. Westberliner Polizisten, amerikanische und britische Soldaten, Zivilisten kommen auf ihn zu. Auch sie alle mit Waffen in den Händen!
Kornmann überlegt blitzschnell. Dann hat er seinen Fehler begriffen: Niemals hätte er so weit östlich im Weinmeisterhornweg warten dürfen! Die Falstaffstraße und die Folkungerstraße münden derart in den Weinmeisterhornweg, daß man sie von der Grenze aus nicht sehen kann. Die Kreuzung Weinmeisterhornweg – Wilhelmstraße kann man einsehen. Da hätten die Brüder ihn niemals überfallen können! Da hätten die Volksarmisten drüben sie ja längst bemerkt! Sie kamen aber aus der Falstaffstraße. Nun kommen andere aus der Folkungerstraße. Die kann man auch nicht drüben im Osten sehen. Zwischen diesen beiden Seitenstraßen ist Kornmann also in die Falle gegangen. Er blickt sich verzweifelt um. Da tritt ein Mann mit dunklem Haar und angewidertem Gesichtsausdruck auf ihn zu.
Zu Knarje und Bruno sagt er: »Danke, meine Herren.« Zu den Polizisten sagt er: »Bringt sie alle in Rettichs Laster.«
»Wir jehn schon«, sagt Bruno. »Jetz wirds hier richtig lustich, wat, Herr Kriminalrat?«
Prangel nickt.
»Du dreckiges Schwein!« Kornmann will sich auf Bruno stürzen. Da schlägt ihm ein britischer Soldat den Kolben seiner MP auf den Schädel. Kornmann sackt zusammen. Zwei amerikanische Soldaten fangen ihn im Sturz auf. Es geht alles sehr schnell.
Knarje und Bruno schleppen den kleinen Herrn Fanzelau fort, die beiden amerikanischen Soldaten den besinnungslosen Kornmann. Der Trupp verschwindet um die Ecke der Folkungerstraße. Immer mehr Polizisten, Soldaten und Zivilisten tauchen jetzt auf – auch jener Herr, der Prangel so ähnlich sieht.
Mr. A. C. Snowden weist die Männer mit kurzen Handbewegungen auf ihre Posten. Sie verschwinden in der Falstaffstraße, in der Folkungerstraße, im Weinmeisterhornweg. Keinen kann man von jenseits der Grenze sehen.
Snowden geht zu Prangel.
»So«, sagt er. »Nun müssen wir nur noch ein wenig warten. Spielen Sie Golf?«
»Nein.«
»Schade. Ich spiele leidenschaftlich. Wollte Sie einladen.«