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Es gibt, wie Bruno im Zuchthaus erfuhr, zweihundertachtunddreißig Bunker des ›Kommandos Grenze‹ der ›Nationalen Volksarmee‹ rund um Westberlin. Einer dieser Bunker liegt auf dem großen unbebauten Gebiet westlich der Potsdamer Chaussee im dichten Gebüsch des Guts Karolinenhöhe.

Es ist ein Tiefbunker.

Von ihm aus wurde ein Tunnel in östlicher Richtung auf Westberliner Terrain vorgetrieben. Er endet, gleichfalls in dichtem Gebüsch, am Rand der Rieselfelder, ungefähr dreihundert Meter südlich der Kreuzung Weinmeisterhornweg – Wilhelmstraße. Es ist ein sogenannter ›versiegelter‹ Tunnel, das heißt, man hat den Ausstieg nach dem Durchbruch mit Metallplatten, auf denen Sträucher in Erdreich wachsen, geschlossen und die Platten mit Ketten an den Schachtwänden befestigt. Schwere Schlösser hängen da. Im Bedarfsfall, wenn jemand aus Westberlin entführt werden soll, kann man sie öffnen. Es gibt viele solcher Tunnel von Bunkern der Volksarmee nach Westberlin hinein. Bei der Entführung Fanzelaus hat Bräsig sich für den auf Gut Karolinenhöhe entschlossen.

Nun steht der Kommissar, nach einem Hubschrauberflug und einem langen Dauerlauf, zusammen mit drei Offizieren der Volksarmee unter den Metallplatten und wartet darauf, daß die Schlösser geöffnet werden. Haben Knolle und Knargenstein sich mit dem bewußtlosen Fanzelau bis jetzt verstecken können? Ist Kornmann zu ihnen gestoßen? Bräsigs Hand umspannt krampfhaft den Griff der Pistole. Aber es ist ihm gelungen, wieder völlig ruhig zu werden. Das muß er sein, er weiß es. Ruhig und überlegen. Nur so kann er es schaffen.

Mit eindrucksvoller Gelassenheit gab er eben den Offizieren präzise Anweisungen. Sobald er – er allein, niemand darf ihn begleiten! – den Tunnel verlassen hat, werden Volksarmisten im Gebüsch Stellung beziehen und ihm jeden nur möglichen Feuerschutz geben – auf dem ganzen Weg zur Kreuzung, auf dem Weg zurück. Sie haben Befehl, rücksichtslos niederzuschießen, wer Bräsig oder jene Leute angreift, die der Kommissar nun holt. Das Unternehmen muß gelingen. Und wenn es eine kleine Schlacht gibt.

Im Tunnel hinter Bräsig stehen Volksarmisten, Stahlhelme auf dem Kopf. Der Bunkerkommandant hat schon vor Bräsigs Eintreffen seine Aufträge erhalten. Hier herrscht höchste Alarmstufe.

Nein, nein, wenn es sein muß, wird Bräsig seine Haut so teuer wie möglich verkaufen. Soll dabei ruhig ein Haufen Männer verrecken! Der bullige Kommissar mit den buschigen Augenbrauen, der jahrelang gekuscht hat, ist nun entschlossen, sein Leben mit allen Mitteln zu verteidigen. Bräsigs Gesicht wirkt wie aus Stein, grausam, völlig verändert. Was er tut, muß er tun, das weiß er. Aber man wird ihn nicht fangen, er wird Sieger bleiben.

Zur Zeit ist Bräsig um nichts ungefährlicher als ein Amokläufer. Natürlich hat er Angst. Wahnsinnige Angst! Diese wahnsinnige Angst hat wahnsinnigen Zorn in ihm geweckt, wahnsinnige Entschlossenheit, zu töten, töten, töten, jeden, der ihn bedroht. Er ist noch nicht am Ende. Noch lange nicht! Er schafft es. Und wenn er es geschafft hat, kommt dieser Wieland an die Reihe. Dann erledigt er den – vorher findet er nun keine Ruhe mehr.

»Schlösser offen«, meldet ein Soldat.

Bräsig dreht sich zu den Volksarmisten um.

»Das Schußfeld ist frei, Sie wissen es. Sofort mir nach.« Er wendet sich an einen der Offiziere: »Öffnen Sie!«

Drei Offiziere stemmen die erste der schweren Platten hoch, danach die zweite. Bräsig sieht einen Himmel voller Sterne.

»Vorwärts«, sagt er.

Die Offiziere heben ihn hoch.

Im nächsten Moment steht Bräsig neben dem Tunneleingang im Freien, noch geschützt von dichtem Gebüsch. Lange sieht er sich um. Nichts. Der Mond scheint hell. Das ist unangenehm.

Bräsig steckt die Hand mit der Pistole in die Jackentasche und marschiert, Schultern vorgeneigt, los.

Erdschollen. Steine. Unebener Boden. Irgendwo bellt ein Hund.

Bräsig erreicht die Wilhelmstraße.

Nichts.

Überhaupt nichts geschieht.

Bräsig blickt nach links, zur Potsdamer Chaussee. Nichts. Nur das Licht der Westberliner Polizei-Außenstelle leuchtet fern. Er geht das kurze Stück Wilhelmstraße hoch bis zum Weinmeisterhornweg. Biegt in ihn ein. Damit ist er auch aus dem Blickfeld der Volksarmisten verschwunden, die ihn von Karolinenhöhe her beobachten.

Kein Mensch da.

Bräsig kratzt seinen Schädel.

Ist noch keiner da, oder …

Ruhig, ganz ruhig!

Nicht die Nerven verlieren jetzt.

Er geht ein paar Schritte in den Weinmeisterhornweg hinein, vorbei an der Ecke Kattfußstraße.

Und dann geschieht noch einmal, was schon bei Kornmann geschah. Aus Hausfluren, Verstecken, aus der Kattfußstraße, aus der Falstaffstraße, aus der Folkungerstraße, aus der Straße 474 tauchen amerikanische und britische Soldaten, Polizisten und Zivilisten auf. Das geht so blitzartig schnell, daß Bräsig nicht einmal Zeit hat, einen einzigen Schuß abzugeben. Ein Amerikaner schlägt ihm den Arm hoch, die Pistole fliegt in hohem Bogen davon.

Der Kommissar spürt einen Pistolenlauf im Rücken. Er hebt die Hände. Er hört eine Stimme: »Herr Bräsig, Sie sind verhaftet.«

Er zuckt zusammen, als er die Stimme hört. Die Hände über dem Kopf, dreht er sich um. Vor ihm steht der Kriminalrat Berthold Prangel.

Bräsig taumelt.

Prangels Gesicht ist kreideweiß geworden. Die Hand, die seine Waffe hält, zittert. Er stöhnt: »Du … du bist Bräsig?«

Da beginnt der Kommissar zu lachen. Leise noch. Noch kann er sagen: »Ja, der bin ich, mein guter, alter Freund …«

»Um Gottes willen …« Prangel bebt.

Bräsigs Lachen wird lauter. Nur noch stoßweise bringt er hervor: »Und du, Berthold … du … du bist … bist also auch bei … dem Verein gelandet?«

A. C. Snowden tritt neben Prangel und sagt kalt: »Sehr komisch, wie?«

»Ach, wenn … wenn … wer sind denn Sie überhaupt? Ami, wie? … Hahaha! Wenn Sie … ha! … wüßten … hahaha! … wie irrsinnig komisch das ist!«

Ein Soldat sagt böse zu ihm: »Shut up, you god-damned red cocksucker, you!«

Aber Bräsig lacht weiter, ein schreckliches, gellendes Lachen.

Snowden sagt zu Prangel: »Wir wußten natürlich von Anfang an, daß dieser Bräsig Ihr alter Freund Wilhelm Herterich ist.«

»Das wußten Sie …«

»Ja. Unsere Leute drüben brachten es schnell heraus.« ›Unsere Leute‹ sagt Snowden natürlich, nicht: ›Peter Wieland‹. »Sie teilten es uns mit. Aber wir teilten es Ihnen nicht mit. Wir wollten Sie, solange das möglich war, schonen.«

»Was wollten Sie? Mich schonen

»Nun ja, gewiß …«

Schnell tritt der Kriminalrat Prangel zur Seite. Sein Magen krampft sich zusammen. Er übergibt sich heftig.

Und der Kommissar Wilhelm Bräsig lacht immer weiter, ein grauenvolles, hysterisches Gelächter, das sich erhebt über die Häuser, das in die Nacht hineinhallt und zum Himmel emporsteigt, diesem wunderbaren Sommernachtshimmel mit seinem Mond, seinen Gestirnen, seiner gelangweilten Unendlichkeit.