Die Retter
Nun laßt uns Gott, dem Herren, Dank sagen und ihn ehren …« Aus einem Lautsprecher in einer Baracke des Flüchtlingslagers Marienfelde ertönt Gesang. Evangelische Morgenfeier im Rundfunk. Die Stimmen dringen durch die geöffneten Fenster in das Zimmer der amerikanischen Vernehmer, wo alles so sauber und hygienisch und weiß ist: Wände, Möbel, Aktenschränke, Kachelboden.
Mr. Jack Campbell, der junge Mann, der Bruno Knolle in Anwesenheit von Mr. A. C. Snowden verhört hat und der aussieht wie ein junger Bing Crosby, lümmelt sich in einem weißen, bequemen Stuhl hinter dem weißen Schreibtisch, auf dem die Teller des weißen Tonbandgeräts kreisen.
Mr. Jack Campbell raucht wieder Pfeife (Dunhill-Tabak), er ist wieder in Weiß gekleidet, denn diesmal hat er sein Frühtennis hinter sich. Vielleicht ist er heute etwas weniger freundlich als sonst. Immerhin wäre dieser Sonntag sein dienstfreier Tag gewesen. Mr. Campbell kann sich Besseres vorstellen, als auch sonntags in Marienfelde zu ›vernehmen‹. Er hatte sich bereits Besseres vorgestellt. Er war mit diesen Zwillingsschwestern (Zwillingsschwestern!) fest verabredet gewesen. Ausflug zum Wannsee. Jetzt sitzt er hier.
Wem hat Mr. Campbell solche Unbill zu danken? Seinem lieben Vorgesetzten, Mr. A. C. Snowden. Seit jene Entführungsgeschichte aufgedeckt wurde, seit Donnerstag nacht also, ist Snowden, dieser verdammte Narr, völlig aus dem Häuschen. Mittlerweile wurde die Entführung, wie Campbell weiß, verhindert. Drei Ostagenten, darunter ein wichtiger, sind ins Netz gegangen. Aber das ließ Mr. A. C. Snowden erst munter werden! Dauernd hat er neue Ideen, trifft neue Maßnahmen, plant neue Aktionen. Er scheint der Meinung zu sein, daß er imstande ist, nunmehr den gesamten Spionageapparat des Ostblocks aus den Angeln heben zu können. So benimmt er sich.
Jeder der Flüchtlinge, die mit Bruno Knolle herüber in den Westen gekommen sind, muß noch einmal verhört werden, insbesondere ein magerer, kleiner Junge von fünfzehn Jahren mit zerzaustem schwarzem, Haar und sehr großen schwarzen Augen. Jürgen Machon heißt der Junge, der Vater sitzt wegen versuchter Republikflucht im Zuchthaus, die Mutter arbeitet in Köln. Jürgen Machon ist jahrelang zwischen Ost und West hin und her gependelt. Familiärer Umstände halber. Wenn man ein Herz hat, kann man das glauben. Mr. A. C. Snowden glaubt es nicht. Er mißtraut Jürgens ganzer Geschichte.
Der Vater war als Ingenieur eines Volkseigenen Großbetriebs am Wiederaufbau der Saaletalbrücke beteiligt. Eine gewisse Mitzi Szapek hat dem Jungen, der vom zuständigen Ostberliner Jugendamt provisorisch im Tierschutzheim des Dr. Rudolf Sylt am Verlorenen Weg untergebracht gewesen war, zur Flucht verholfen. Indem sie ihm verriet, wann er sich wo aufhalten müsse, um einem Mann zu begegnen, der in den Westen floh – eben jenem Bruno Knolle. Diese gewisse Mitzi Szapek hat Jürgen erklärt, sie sei eine Bekannte des Herrn. Und Jürgen hat den Herrn Knolle getroffen. Beiden ist die Flucht geglückt. Das hat der Junge bereits zweimal erzählt.
Aber A. C. Snowden verlangt jetzt, daß Campbell es ihn ein drittes Mal erzählen lasse, in der Hoffnung, Jürgen könne sich in Widersprüche verwickeln.
So erzählt Jürgen also alles zum drittenmal, an diesem Vormittag des 16. August 1964. In Widersprüche verwickelt er sich nicht. Er erzählt genau dasselbe wie schon zweimal. Er benimmt sich genauso. Es ist überhaupt alles so, wie es schon zweimal war. Nicht ganz. Heute hat Jürgen eine kleine Schildkröte mitgebracht. Die hockt neben dem Tonbandgerät auf dem weißen Tisch. Das Tier hat sich während der Vernehmung nicht bewegt. Nur die winzigen Augen in dem kleinen Kopf blinzelten, und Jürgen streichelte die Schildkröte von Zeit zu Zeit zärtlich und behutsam.
Na ja, denkt Jack Campbell, wie zu erwarten. Nichts Neues. Den Jungen kann ich wegschicken. Den nächsten Flüchtling noch einmal vernehmen. Und so weiter und so weiter. Vierundsechzig habe ich noch vor mir. Feiner Sonntag. Besonders anstrengen werde ich mich! Mit meinen Zwillingen ist George zum Schwimmen gefahren. George! Ausgerechnet auch noch dieser Umleger …
Alle beneiden mich um meine Zwillinge. Jetzt bin ich sie los. George schafft das spielend an einem so langen schönen Tag …
Ein netter Junge ist dieser Jürgen. Bevor ich den nächsten Flüchtling rufe, denkt Jack Campbell und füllt seine Pfeife neuerlich, unterhalte ich mich lieber noch ein wenig mit ihm. Er setzt den Tabak in Brand, schaltet das Tonbandgerät aus und lächelt.
»Das da ist dein Talisman, ja?« fragt er kameradschaftlich, auf die reglose Schildkröte weisend.
»Nein«, sagt Jürgen, »kein Talisman. Meine Freundin. Ich konnte sie nicht zurücklassen. Herr Doktor Sylt hat sie mir vor zwei Wochen geschenkt. Ob er nun Unannehmlichkeiten bekommt?«
»Der? Warum denn?« fragt Campbell und denkt: Warum nicht? »Aber dieser Doktor Sylt kann doch bestimmt nichts dafür, daß du ausgerückt bist.«
»Also, Sie meinen, nicht.« Jürgen lächelt erleichtert. »Es wäre schrecklich, wenn er bestraft würde. Er war so gut zu mir, der Herr Doktor. Ich habe Happy mitgenommen, weil ich ja nun nie mehr in den Osten kommen werde. Sobald Sie mit mir fertig sind und meine Mutter sich meldet, darf ich doch zu ihr, nicht wahr?«
»Natürlich«, sagt Campbell. Und denkt: Falls Mr. A. C. Snowden es gestattet. Falls sich nicht herausstellt, daß ausgerechnet du der sowjetische Meisterspion bist. »Was hast du gesagt? Happy heißt die Schildkröte?«
»Ja, so nenne ich sie«, antwortet der Junge ernst. »Lateinisch heißt sie Hepiphilia africana. Sie wird nicht mehr sehr wachsen, hat Herr Doktor Sylt gesagt.«
»Was ist denn mit ihr los? Gelähmt?«
»Vollkommen«, sagt Jürgen. »Nur den Kopf kann sie bewegen, sehen Sie? Ich muß sie überall hintragen und füttern und so. Deshalb kam sie ja zu Herrn Doktor Sylt.«
»Weshalb?«
»Weil sie so hilflos ist! Im Heim konnte man sie pflegen. Im Tierpark hatten sie keine Zeit dazu. Es wäre da auch zu leicht etwas passiert.« Jürgen streichelt die Schildkröte. Die Schildkröte bewegt den Kopf und blinzelt ihn an.
»Wieso ist sie gelähmt?«
Jürgen seufzt.
»Eine traurige Geschichte. Ist lange geschehen, bevor ich in das Heim kam. Im Tierpark. Happys Mutter war eine ganz besondere Hepiphilia africana. Sie hatte zwei Köpfe!«
»You don’t say«, meint Campbell, »was du nicht sagst.«
»So hat Doktor Sylt es mir erzählt. Eine Rarität!«
»Das will ich meinen!«
»Sie hatte einen eigenen Käfig. Nebenan wohnten Schildkrötenmännchen«, berichtet Jürgen. »Einmal muß ein Gitter offengeblieben sein – bums, schon war es geschehen.«
»Soll das heißen …«
»Wie hätte sie sonst plötzlich Eier legen können?«
»Da hast du recht.«
»Es ging alles gut, zunächst. Die Jungen krochen aus«, erzählt Jürgen weiter. »Dann kam das Unglück.«
Vergessen wir endlich die Zwillinge! Es gibt so viele Mädchen in Berlin. Und das scheint eine komische Geschichte zu werden.
»Die Köpfe begannen, sich um die Kinder zu streiten«, sagt Jürgen. Campbell pfeift.
»Der eine Kopf wollte zu diesem Kind, der andere zu jenem. Der eine Kopf wollte dahin gehen, der andere dorthin.« Jürgen wird lebhafter. Seine Wangen röten sich. »Der Körper der armen Mutter wurde geschüttelt wie in einem Krampf, sagte mir Herr Doktor Sylt. Denn die Köpfe haßten sich nun. Dabei gehörten sie doch zu einem einzigen Tier! Aber statt sich in dieser Lage zu einigen und zusammenzuhalten, haßten die Köpfe sich immer furchtbarer und furchtbarer. Sogar beim Füttern mußte man ein Stück Blech zwischen sie schieben, damit der eine Kopf dem andern nicht alles wegfraß. Eines Nachts begannen sie dann, miteinander zu kämpfen. Die Wärter schliefen, Als endlich einer von ihnen kam, war es schon zu spät.«
»Zu spät wozu?«
»Durch den Kampf der Köpfe«, berichtet Jürgen, Happy nun unablässig streichelnd, als verstünde das Tier jedes Wort, und er wollte es trösten, »wurde der Leib der Mutter herumgeschleudert wie ein Sandsack. Sie erschlug die Kinder. Alle. Bis auf dieses.«
»Das ist aber scheußlich«, sagt Campbell ernüchtert.
»Auch Happy bekam einen Tritt – deshalb ist sie gelähmt. Und immer weiter ging der Kampf! Zuletzt biß ein Kopf den anderen ab. Gleich darauf starb die Mutter. Denn mit einem Kopf konnte sie nicht leben. Happy kam zu Herrn Doktor Sylt. Und der schenkte sie mir, weil ich auf Happy immer besonders …«
Es klopft.
»Ja?«
Ein Polizist tritt ein. »Verzeihen Sie die Störung, Herr Campbell.« Er sieht den Jungen an. »Ist das Jürgen Machon?«
»Warum?« fragt Campbell automatisch.
In den Augen des Jungen steht ein Ausdruck panischer Angst.
»Ruhig, ruhig, mein Kleiner. Du bist hier im Westen. Das ist ein Westpolizist.«
»Ja? Bestimmt?« Jürgen nimmt die Schildkröte und hält sie mit beiden Händen fest vor die Brust.
»Ich müßte Sie einen Augenblick sprechen, Herr Campbell«, sagt der Polizist. »Allein.«
»Gut. Warte bitte vor der Tür, Jürgen. Es kann überhaupt nichts passieren!«
Jürgen geht. Die Tür schließt sich hinter ihm.
»Well?«
»Herr Campbell, ich komme aus dem Bethanien-Krankenhaus am Mariannenplatz. Heute nacht ist ein Flüchtling durch die Spree geschwommen.«
»Wo?«
»An der Sektorengrenze zwischen den Bezirken Kreuzberg und Friedrichshain.«
»Da ist die Spree doch Sektorengrenze!«
»Leider in der ganzen Breite. Wir konnten nicht eingreifen. Die Vopos haben auf den Flüchtling geschossen. Und getroffen.«
»Schwer verletzt?«
»Ja. Erreichte mit letzter Kraft das Westufer. Wurde gleich operiert. Akute Lebensgefahr. Nun ist die Krise vorüber. Die Ärzte sind mit einem ganz kurzen Besuch einverstanden.«
»Kurzen Besuch von wem?«
»Von Jürgen Machon. Es wäre gut, wenn der Junge käme und das Mädchen mit ihm sprechen könnte, meinen die Ärzte.«
Jack Campbell legt seine Pfeife fort.
Vielleicht ist Snowden alles andere als ein verdammter Narr?
»Wie heißt das Mädchen?« fragt Campbell, der es schon weiß.
»Mitzi Szapek«, antwortet der Polizist.