Nachdem Bruno Knolle die kleine Mitzi Szapek in der Nacht vom 13. zum 14. August 1964 verlassen hatte, konnte sie keinen Augenblick mehr Ruhe finden. Abwechselnd trank und betete sie. Daß der Bruno gut in den Westen kam. Daß ihm nichts zustieß. Daß alles glatt verlief. Amen. Ein neues Glas Wodka. Eine neue Zigarette. Die Mitzi betete und trank und trank und betete. Sie hatte ihren Bruno doch so lieb!
Das machte jene Nacht ganz entsetzlich. Und den Tag darauf. Immer unruhiger wurde die Mitzi. Die zweite Nacht war schon die Hölle. Am Sonnabend vormittag hielt Mitzi es nicht mehr aus in der Gotlindestraße. Sie fuhr zum Tierschutzheim am Verlorenen Weg. Frei bewegen durfte sie sich ja, Bräsig hatte sich noch nicht gemeldet; wenn man fragte, wo sie gewesen sei, würde sie halt etwas von Besorgungen erzählen. Mitzi kaufte zur Vorsicht Toilettenartikel und etwas Wäsche ein, bevor sie ihr Ziel erreichte. Als sie in den Verlorenen Weg einbog, sah sie, daß bei dem Heim eine schwarze Limousine parkte.
Die Mitzi wartete. Gut versteckt und geduldig. Vielleicht eine Stunde lang. Endlich kamen drei Männer aus dem Hauptgebäude. Der große, rotgesichtige Dr. Sylt mit dem Walroßschnurrbart begleitete sie auf die Straße. Die Kerle kletterten in die Limousine und fuhren fort. Dr. Sylt sah ihnen sorgenvoll nach.
Die Mitzi wartete weitere fünf Minuten, dann ging sie auf das Heim zu und klingelte. Dr. Sylt empfing sie sofort in seinem Arbeitszimmer. Er war völlig durcheinander, lief auf und ab mit dem Gesicht eines kleinen Jungen, der etwas angestellt und schreckliche Angst vor Strafe hat, stolperte über die eigenen Füße, und von draußen hörte die Mitzi das Miauen der Katzen, das Kreischen der Wellensittiche und das Bellen der Hunde in ihren Käfigen.
Schließlich sinkt der Arzt in einen Sessel und sagt, immer am Rande von Tränen: »Es tut mir leid, Fräulein Szapek. Wirklich. Aber gestern mußte ich entdecken, daß Jürgen verschwunden war. Ich hab gar nicht gleich an Flucht gedacht. Darum habe ich auch nicht gleich die Polizei angerufen. Heute tat ich es. Das war doch meine Pflicht, nicht?«
»Freilich, Herr Doktor.«
Sylt schluckt schwer. »Und dann ist gleich der SSD gekommen …« Zu dieser Zeit war Herr Peter Wieland noch nicht in der Warschauer Straße 115 erschienen. Kommissar Bräsig schickte seine Männer los. Immerhin, das wußte er, hatte Bruno bei seiner bewilligten und vorbereiteten Flucht im letzten Moment einem Jungen geholfen, gleichfalls in den Westen zu kommen. Bräsig wußte zuerst nicht, wie der Junge hieß. Nun wußte er: Ein Knabe namens Jürgen Machon war verschwunden. Instinkt – immer sein Instinkt! – sagte ihm, daß jemand auch Jürgens Flucht vorbereitet hatte. Wer? Bruno selbst nicht. Das wäre unmöglich gewesen. Und also entsandte Bräsig seine Leute …
Die ließen sich dann später allerdings ein wenig zu lange Zeit. In der Warschauer Straße tauchte Wieland auf, und als die Nachricht eintraf, daß die Verbindung durch Mitzi Szapek aus dem Bordell in der Gotlindestraße zustande gekommen und die Mitzi nicht aufzufinden war, da hatte Wieland den Kommissar bereits heim zu seiner Marie geschickt. Er selbst nahm die Nachricht entgegen und befahl eine Fahndung nach der Verschwundenen. Bräsig sprach er erst nachts am Telefon wieder. Da ging es um Minuten, der Kommissar hatte Jürgen Machons Verschwinden vergessen, er stand nun vor ganz anderen Problemen.
Wäre er im Dienst geblieben und hätte er die Meldung erhalten – alles wäre wahrscheinlich anders gekommen, Bräsig hätte annehmen müssen, daß Bruno ein krummes Ding drehte und Mitzi deshalb türmte – bevor nämlich herauskam, was für ein krummes Ding das war. Bräsig hätte noch viel unternehmen und verhindern, den Plan ändern, vielleicht sogar Kornmann, Rettich und sich selbst retten können. Aber er war nicht mehr im Büro, Wieland vertrat ihn, und so nahmen die Dinge den bekannten Lauf.
Weinerlich sagt nun am Sonnabendvormittag Dr. Rudolf Sylt zu der verstörten Mitzi: »Ja, die SSD-Leute kamen also, und sie wollten unbedingt wissen, wer Jürgen zur Flucht verholfen hatte.«
»Und da hams meinen Namen genannt.«
»Mein Gott, ich …«
»Sie ham sich gfürchtet, natürlich. Mach ich Ihnen an Vorwurf? I fürcht mich doch genauso. Also, Sie ham den Herren von mir erzählt.«
Dr. Rudolf Sylt nickt stumm. Er schämt sich sehr. Er ist nun einmal nicht gebaut für solche Dinge!
»Bitte, verzeihen Sie mir, Fräulein Szapek. Ich konnte nichts anderes tun. Stellen Sie sich vor, ich hätte gelogen oder etwas verschwiegen, und man wäre mir draufgekommen – der SSD kommt doch auf alles! –, dann wäre ich das Heim los. Und dürfte nicht mehr bei meinen Tieren sein!«
»I weiß gut, wie Ihnen zumut ist, Herr Doktor.«
»Sie … Sie müssen gleich fort, Fräulein Szapek. Jeden Moment können die Männer wiederkommen. Das darf ich nicht riskieren. Ich hätte Sie überhaupt niemals empfangen und mit dem Jürgen sprechen lassen dürfen.«
»Ham die Herren gsagt.«
»Ja. Nein. Ja. Aber es stimmt doch auch! Ich habe hier nur meine Pflicht zu tun. Ich tue sie gern, das wissen Sie. Ich bin ein unpolitischer Mensch, Fräulein Szapek. Ich muß einer sein und bleiben.«
»Herr Doktor«, sagt die Mitzi, »mir is so mies wie Ihnen, des könnens mir glauben. Mieser. Denn warum? Sie, Sie sind jetzt heraus aus der Gschicht. Ihnen werdens nix tun. Aber i, i muß aus Ostberlin verschwinden eh daß sie mich schnappen. Mir passiert nämlich sonst ganz was Schlimmes. I bin …«
Der Tierarzt ruft: »Nicht! Ich will nichts wissen! Fräulein Szapek, bitte, haben Sie doch ein Einsehen!«
»I geh ja schon«, sagt die Mitzi. »Verzeihens mir alles. I hab einfach kommen müssen – auch heut. Aber i komm nie wieder, das versprech i Ihnen.«
Dr. Rudolf Sylt denkt voller Scham: Ich bin ein ausgewachsener Mann. Das ist eine kleine, hilflose Frau. Und ich benehme mich wie der größte Feigling der Welt. Und helfe ihr nicht. Und will sie los sein. Ja, los sein, schnell, schnell, schnell! Ach, wie böse sind Menschen doch zueinander. Böser als die bösesten Tiere es je sein könnten. Dr. Sylt sagt: »Ich weiß nicht, wo Sie wohnen, Fräulein Szapek. Danach haben die Herren übrigens auch nicht gefragt …«
»Weil sie’s wissen.«
»Vermutlich. Und deshalb glaube ich … niemals werde ich zugeben, die Worte gesprochen zu haben …«
»Was für Worte?«
»Gehen Sie nicht mehr heim – wo immer Sie wohnen, Fräulein Szapek!«
»I bin ja net teppert«, sagt die Mitzi.
»Was werden Sie tun?«
»Na, des …« Mitzi bricht ab. »Des sag i lieber net. Damit i Sie net belast. Sie wissen nix von mir. Gibts hier einen Hinterausgang? Ja? Gut. Dann schleich i mich jetzt. I war net bei Ihnen – heute, meine ich. Des werd i nie zugeben, und wenn man mich noch so oft fragt. Also geben Sie’s auch net zu. So kann Ihnen gar nix passieren, überhaupt nix! Sie dürfen des Heim behalten, und alles geht gut aus für Sie.«
»Aber für Sie …«
»Für mich wird auch schon alles gut gehn,« antwortet die Mitzi Szapek tapfer. Sie bringt es sogar fertig zu lächeln, als sie sich verabschiedet.
Im Heim erblickt sie kein Mensch. Der Hinterausgang bringt Mitzi in die Nähe des großen Jüdischen Friedhofes. Sie sieht sich dauernd scharf nach allen Seiten um. Aber sie kann niemanden entdecken, der sie beobachtet oder verfolgt. Die Kerle mit der Limousine sind gewiß zur Gotlindestraße unterwegs. Oder schon dort angekommen. Auf jeden Fall wird Mitzi bereits gesucht, das ist klar. Ebenso klar ist, was geschieht, wenn man sie erwischt. Also darf man sie nicht erwischen. Also gibt es nur eines: In den Westen flüchten. Ja, flüchten muß sie nun also, die Mitzi. Aber wie? Aber wo?
Das will überlegt sein, gründlich überlegt.
Die Mitzi überlegt gründlich – im Keller eines halbfertigen Neubaus, an dem aus irgendeinem Grunde nicht weitergearbeitet wird. Er liegt in der Hausburgstraße, gegenüber der endlos langen roten Mauer des Vieh- und Schlachthofs. Auf dem Weg hierher hat Mitzi Brot und Wurst gekauft. Eines steht fest: Bis es dunkel wird, darf sie sich nicht auf den Straßen sehen lassen. Es ist erst 12 Uhr mittags, sie wird Hunger bekommen bis zum Abend, und sie wird etwas essen müssen.
Das tut sie, während der endlos langen Stunden des Überlegens und Wartens. Trotz ihrer Aufregung und Angst nickt sie immer wieder ein – genau wie ein Kind, dem eine Nacht Schlaf fehlt. Und immer wieder fährt sie atemlos vor Schreck, schweißnaß, aus einem wirren Traum empor – und braucht eine Weile, bis sie weiß, wo sie ist, in diesem Neubaukeller nämlich. Wieder denkt sie nach …
Tunnel kommen nicht in Frage. Sie kennt keinen, natürlich nicht, und sie wüßte auch nicht, wen sie um Hilfe bitten sollte. Über die Mauer – das ist ihr zu riskant. Da haben schon zu viele das Leben verloren dabei. Nein, es gibt nur eine Möglichkeit: Die Spree!
Mitzi kann ausgezeichnet schwimmen. Und wenn es finster ist … und wenn sie leise ist … ja, die Spree ist die Rettung!
So wartet Mitzi Szapek also den Abend ab. Sie wischt alle Schminke aus dem Gesicht, kämmt sich anders, zieht die auffallende Bluse aus, die sie am Morgen getragen hat, und nimmt eine von den Hemdblusen, die sie kaufte, bevor sie zum Verlorenen Weg fuhr. Um 22 Uhr verläßt sie den Keller. Die Nutten-Bluse bleibt neben dem Netz zurück, in dem Toilettesachen und andere Wäschestücke liegen, die sie gerade erworben hat. Auch Brot und Wurst läßt sie zurück, sie konnte nur wenig essen. Kaum ist die Mitzi fort, da kommen Ratten und machen sich über die Lebensmittel her.
Die Mitzi kennt sich in Ostberlin ganz gut aus. Das Stück Spree, das die Mauer ersetzt und am nächsten liegt, befindet sich an der Sektorengrenze der Bezirke Friedrichshain und Kreuzberg. Da muß sie hin!
Zu Fuß. Sie wagt nicht mehr, einen Bus oder eine Elektrische zu benützen. Denn nun wird sie in ganz Ostberlin gesucht, ohne Zweifel. Und so geht Mitzi durch Seitenstraßen südwärts, paßt auf und verbirgt sich vor jedem Vopo, den sie sieht, und gegen 23 Uhr ist sie dann an der Spree, in der Mühlenstraße.
Sie kann das Wasser schon riechen, bevor sie es sieht. Eine abgeräumte Ruinenstätte. Stacheldraht. Da muß sie jetzt also hindurch. Sie schafft es. Mit blutenden Händen. Runter den Rock, abstreifen die Schuhe. Schnell, schnell, schnell. Es ist warm, das Wasser, warm und schmutzig, der Dreck kommt vom Osthafen her, eine dünne Ölschicht. Mitzi beginnt zu schwimmen, vorsichtig, lautlos, so schnell wie möglich.
Nicht schnell und lautlos genug.
Erst etwa die Mitte der Spree hat sie erreicht, als am Ostufer Scheinwerfer aufflammen, über das Wasser irren und ihren Kopf finden. Eine Stimme brüllt durch ein Megaphon: »Zurück! Zurück, oder wir schießen!«
Natürlich schwimmt die Mitzi weiter. Am Westufer flammen auch Scheinwerfer auf. Mitzi sieht Westpolizisten hin und her laufen. Sie weiß: Die können nichts tun, dürfen nicht helfen, denn die Spree gehört hier in der ganzen Breite zu Ostberlin. Sie muß es aus eigener Kraft schaffen, bis zum Ufer. Dort erst beginnt Westberlin.
Sie wird es schaffen!
Jetzt, im Licht der Scheinwerfer, krault sie wild drauflos. Dann hört sie den Motor eines Patrouillenbootes anspringen. Sie sind hinter ihr her! Ein MP-Feuerstoß dröhnt. Vor der Mitzi spritzt das ölige Wasser hoch, da, da, da. Ein zweiter Feuerstoß. Den hört sie nur. Muß hinter ihr ins Wasser peitschen. Ein dritter Feuerstoß. Dieser liegt richtig. Zwei Kugeln treffen die Mitzi, sie fühlt einen wahnsinnigen Schmerz im rechten Oberschenkel und im Rücken. Aber sie schwimmt weiter. Weiter und weiter. Sie sieht nicht, daß das Wasser hinter ihr sich rot färbt.
Lauter und lauter wird das Motorengeräusch des Patrouillenbootes. Mehr Scheinwerfer. Mehr Schüsse. Noch einer trifft. Wieder in den rechten Oberschenkel. Jetzt bekommt die Mitzi Todesangst. Sie kann kaum noch schwimmen.
Die Westpolizisten schreien ihr zu, daß sie durchhalten soll, durchhalten muß. Die im Osten brüllen auch hinter ihr her. Und Kugeln pfeifen. Immer neue Feuerstöße krachen durch die Stille der Nacht. Die Mitzi hält durch.
Sie erreicht das Westufer. Im Augenblick, in dem sie hier die Hand auf einen Stein der Böschung legt und versucht, sich hochzuziehen, wird sie ohnmächtig. Aber da haben schon kräftige Männerarme zugepackt.