SO GROSSE AUGEN
Georg starrte auf den schmalen Schlitz zwischen den Vorhängen, der sich langsam rot färbte. Dahinter ging die Sonne unter, aber obwohl er seit einer Weile bei Bewusstsein war, hatte er vom Tag nicht viel mitbekommen.
Es ging ihm erstaunlich gut, was vorrangig am Hexenblut liegen dürfte, das man ihm eingeflößt hatte. Der magisch behandelte Sud aus verschiedenen Kräutern enthielt nicht wirklich das Blut einer Hexe - so hoffte er zumindest -, dafür aber genug andere widerliche Zusätze, dass er nicht näher darüber nachdenken wollte.
Er hätte es auch gar nicht gekonnt, denn seine Gedanken kehrten schon nach Sekundenbruchteilen immer wieder zu seinen Eltern zurück. Auch wenn Rigel sich dazu nicht geäußert hatte und Georg nicht den Mut aufgebracht hatte, zu fragen, war er sicher, dass sie tot waren. Rigels Blick ließ keinen anderen Schluss zu, denn ein paar »Kratzer« hätten diese Melancholie und Wut in den eisigen Augen des Kerlingers niemals erklärt.
Das Hexenblut hatte auch seinen Geist so weit beruhigt, dass er nicht mehr glaubte, wahnsinnig werden zu müssen. Aber es war nur eine sehr, sehr dünne Barriere, die ihn davon trennte, und er spürte die Schatten des Irrsinns dahinter lockend zucken.
Georg blickte auf die Zeitung, die Rigel auf dem Besucherstuhl zurückgelassen hatte, als er gegangen war. »Blinker« stand darauf, und das Titelthema dieser Zeitung waren offensichtlich »Forellen«.
Wenn der Soldat ihn wirklich, wie es Georg glaubte, geduzt hatte, war es eine einmalige Sache gewesen. Als er sich verabschiedet hatte, hatte er wieder Distanz aufgebaut: »Wir sehen uns, Vitzthum. Die Pflicht ruft. Halten Sie die Ohren steif.«
Georg setzte sich stöhnend weiter auf, versuchte trotz der Anstrengung flach zu atmen, denn die beiden gebrochenen Rippen drückten sich bei jedem Atemzug schmerzhaft gegen den Stützverband.
»Steif« war das Stichwort. Sein linkes Bein war bis zum Oberschenkel eingegipst. Auch sein linker Unterarm steckte in einem Castverband, aus dem zudem Metallstangen herausragten, die wie ein modernes Kunstwerk wirkten.
Während der Unterschenkel »sauber« gebrochen war, hatte von Stein ihm den Arm regelrecht zertrümmert. Es war nur der magischen Unterstützung zu verdanken, dass die Verletzungen bereits so weit abgeschwollen waren, dass man ihn hatte operieren können.
Er hob die rechte Hand, um sich an der kaltschweißigen Stirn zu kratzen, und verzog das Gesicht, weil Zeigefinger und Mittelfinger von weißem Tape zusammengehalten wurden und den Vorgang erschwerten. Auch der Abzugsfinger war gebrochen und würde möglicherweise für immer steif bleiben, weil die Sehnen durchtrennt waren.
Georg blickte auf die Uhr. Oder besser: Er versuchte es, denn seine treue Breitling, die ihn durch die schlimmsten seiner Tage begleitet hatte, tickte jetzt am Handgelenk des Mörders.
Er lachte leise auf, als ihm die Irrationalität der Wut bewusst wurde, die ihn bei diesem Gedanken erfasste. Der Mann hatte den Befehl gegeben, seine Eltern zu töten; er hatte eine unschuldige junge Frau entführt, um sie für seine blutrünstigen Pläne zu missbrauchen; hatte ihn bis an den Rand des Todes geprügelt … und Georg regte sich darüber auf, dass der Bletzer ihm die Uhr gestohlen hatte.
Er blickte noch immer auf seinen zitternden Unterarm und keuchte auf, als sich seine Haare mit einem Mal weiß färbten.
Das Bild verschwamm vor seinen Augen, und das Rauschen in seinen Ohren stieg zu einem Pfeifen an. Ihm wurde schwindelig, und er sank im Kissen zusammen. Als er die Linke hob, um nach der Schwester zu klingeln, hatte sich seine Hand in eine Pranke verwandelt. Schwarze Ballen, wie an Hundepfoten, waren von blütenweißem Fell umgeben. An den Enden der langen, kräftigen Finger, von denen immer noch zwei mit medizinischem Klebeband zusammengehalten wurden, sprossen scharfe Krallen.
Eine Vision, ermahnte er sich, auch wenn es ihm beinahe unmöglich war, die klaren Bilder als Halluzination zu erkennen. Er war kein Wariwulf. Er konnte sich nicht verwandeln.
Mit einem Stöhnen schob er das Gipsbein aus dem Bett und stockte kurz, als er auf seine Zehen sah, die sich in eine weiß bepelzte Pfote verwandelt hatten. Er stützte sich auf den Besucherstuhl und benutzte ihn als Gehhilfe. Etwas hielt ihn zurück … wütend riss er sich die Kanüle aus dem Arm, und der Schlauch des Tropfs baumelte klingend gegen den Metallrahmen des Bettes.
Schwer atmend und schweißüberströmt erreichte er die kleine Nasszelle seines Einzelzimmers, humpelte hinein und blickte in den Spiegel.
Sein erschrockener Schrei hallte laut von den sterilen weißen Kacheln wider, und der Werwolf im Spiegel riss das gewaltige Maul auf, offenbarte scharfe Fänge und einen roten Schlund.
Georg stützte sich schwer auf das Waschbecken, das unter seinem Gewicht knirschte, und atmete tief durch, versuchte das Zukunftsbild abzuschütteln.
Er kannte diesen weißen Werwolf, hatte ihn schon mehr als einmal in seinen Visionen gesehen. Er hob den Kopf und sah, wie der Schädel des Wolfes zusammenschrumpfte. Das weiße Fell zog sich in ungesund fahle Haut zurück, und schließlich sah ihn ein Gesicht an, das er ebenfalls kannte; sehr gut kannte.
Georg schüttelte den Kopf, aber die Botschaft war eindeutig. Und es gab nur einen Weg, ihr nachzukommen. Mochte die Erkenntnis nun von Gott oder vom Teufel stammen, sie stellte die Lösung für sein Problem dar.
Mühsam zog er sich wieder zum Bett und dachte nach. Er brauchte etwas zum Anziehen, Krücken und eine Menge Glück. Doch er musste es zumindest versuchen.
Er ließ sich auf das Bett sinken und betrachtete seine Hände, wobei die linke zur Hälfte vom Gips verdeckt wurde. Sie waren dünn und schwach, wie sein ganzer menschlicher Körper.
»Der Feind meines Feindes …«, murmelte er leise.