DAS ZWEITE GESICHT
Marie sah durch das Fenster auf den dunklen Garten vor dem Anwesen hinunter - nein, man musste doch wohl eher von einem Park sprechen - und schüttelte lächelnd den Kopf. Noch immer schien ihr die gestrige Nacht unwirklich. Nach dem Essen hatten sie getanzt, und sie, die sie immer geglaubt hatte, zwei linke Füße zu haben, war geschwebt wie auf Wolken.
Daran hatte sich ein langes Gespräch in einer prächtigen Bibliothek angeschlossen, mit viel schwerem Portwein und köstlichen Pralinen. Sie hatten über das Schicksal und Horoskope diskutiert, und auch wenn der Alkohol dafür gesorgt hatte, dass Marie sich jetzt nicht mehr genau an alles erinnerte, wusste sie doch, dass es das anregendste Gespräch gewesen war, das sie seit einer langen Weile geführt hatte. Und es hatte die Kopfschmerzen restlos vertrieben.
Jetzt, nach traumlosen, langen Stunden des Schlafes, war es schon wieder Nacht, als sie in ein luftiges Sommerkleid schlüpfte. Der trübe Himmel draußen rechtfertigte ein solches Outfit nicht, aber in ihrem Herzen schien zum ersten Mal seit Langem wieder die Sonne.
Bist du verliebt?, fragte sie sich kritisch, konnte es sich aber nicht beantworten. Die Aufmerksamkeit des charmanten Hagen von Stein schmeichelte ihr, und seine kleinen, beiläufigen Berührungen und der starke Halt beim Tanzen hatten sie durchaus erregt.
Eine Schwärmerei, beschied sie, denn obwohl sie seine Anwesenheit genoss, war Marie doch recht sicher, dass er nicht »der Richtige« war. Etwas an seiner Art war zu kühl, zu distanziert, zu …
Tot.
Marie erschauderte und schaltete eilig die Lampe neben sich an. Der helle Schein verbannte den Garten und ließ stattdessen ihr Spiegelbild erscheinen. Nach dem Gelage gestern und der durchgemachten Nacht hatte sie tiefe Augenringe erwartet, aber das Gegenteil war der Fall. Sie sah so frisch und ausgeruht aus wie schon lange nicht mehr. Es mochte daran liegen, dass die Scheibe ihr Bild nur unvollständig zurückwarf, aber sogar die zarten ersten Andeutungen von Krähenfüßen und die etwas zu tiefen Lachfalten schienen zurückgegangen. Sie wirkte fünf Jahre jünger und gefiel sich heute richtig gut - auch das ein Novum.
Es klopfte sanft an ihre Tür, und auf ihr »Herein« öffnete sie sich, um Hagen zu offenbaren. Seine Präsenz, seine Aura der Selbstsicherheit und Stärke erfüllten ihre Wahrnehmung, dominierten den Raum. Er trug ein schwarzes Hemd und eine ebensolche Hose, die seine schlanke Gestalt unauffällig betonten.
Wenn man vom Teufel spricht, dachte Marie, und das breite Lächeln, mit dem sie ihn empfangen wollte, erzitterte. Warum erschien ihr dieses Sprichwort mit einem Mal so bedeutungsschwer?
»Störe ich?«, fragte Hagen noch an der Tür. Erst als sie den Kopf schüttelte, kam er herein und deutete erneut einen Handkuss an. »Hast du gut geschlafen?«
»Ja«, sagte Marie und versuchte sich daran zu erinnern, wann sie endgültig zum »Du« übergegangen waren, aber dieser Teil des Abends war unter Portwein-Schleiern verborgen.
»Sehr gut, danke«, setzte sie hinzu.
»Das freut mich zu hören. Wenn du erlaubst, würde ich dir gern zwei sehr gute Freunde von mir vorstellen. Wir kennen uns schon eine Ewigkeit.«
Hagen lächelte hintergründig, als habe er einen Scherz gemacht, doch Marie verstand ihn nicht. Dann machte der Mann eine einladende Geste zur Tür, und Marie folgte ihm.
Der Weg durch das prunkvolle Haus, in dem jeder Meter Geschichte atmete, brachte sie in einen Flügel, den sie tags zuvor noch nicht betreten hatte. Hier wich das schwere, mit Bedeutsamkeit vollgesogene Interieur einer etwas gelösteren, leichteren Einrichtung. Schweres dunkles Holz machte hellen Möbeln Platz, verschlungenes Schnitzwerk wich glatten, schlichten Formen, und auch die Bilder wurden moderner. Dennoch blieb das Anwesen in seiner Pracht beeindruckend. Allein die Zeit, die sie für den Weg brauchten, bewies, wie riesig es war.
Aus einigen der Räume, die sie passierten, drangen Geräusche, die Marie größtenteils TV-Geräten oder Gesprächen zuordnen konnte. Einige der Laute klangen jedoch beinahe tierisch.
»Wohnen hier noch andere Leute?«, fragte sie und wurde langsamer.
Hagen reichte ihr den Arm, in den sie sich nach kurzem Zögern einhakte, und antwortete, während er sie weiterführte: »Ja, eine ganze Menge sogar. Ich habe meine Freunde gern um mich. Aber im Augenblick sind sie kein Umgang für eine junge Dame. Es sind einige sehr … wilde Gesellen darunter.«
Da war wieder dieses hintersinnige Lächeln, als ginge etwas vor sich, das Marie nicht durchschaute. Sie wollte eben nachfragen, als Hagen sich von ihr löste und eine für die Verhältnisse des Hauses kleine, dunkle Tür öffnete.
Der Raum dahinter war jedoch gewohnt weiträumig, wenn auch spärlich möbliert. In der Mitte lag ein großer Läufer beinahe verloren im Raum, und als Marie eintrat, ließ ein junger Mann gerade eine Ecke des Teppichs fallen.
»Darf ich vorstellen?«, fragte Hagen und wies auf den Mann, der nun mit einem kecken Lächeln auf sie zukam. Schlangenlederschuhe, Jeans, enger Rollkragenpullover, unter dem sich eine sportliche Figur abzeichnete, sogar Haar und Augenbrauen strahlten in makellosem Weiß.
»Edgard Perceval Modeste Carteaumois«, stellte sich der Mann vor und verneigte sich vollendet, aber irritierend tief vor ihr. »Enchanté, Mademoiselle Saal.«
»Nennen Sie mich Marie«, sagte sie, ohne weiter darüber nachzudenken, und bereute es sofort, denn jetzt hob der Mann sein Gesicht und blickte aus der Verbeugung zu ihr auf. Das sympathische Lächeln wurde dabei zu einer Fratze und, nur für einen Augenblick, blitzten Irrsinn oder Hass in seinen Augen auf. Marie beschloss, dass dieser Mann sie aus irgendeinem Grund nicht mochte, und das beruhte auf Gegenseitigkeit.
»Und dies ist Emma Roser«, fuhr Hagen fort und wies auf eine junge Frau, die mit untergeschlagenen Beinen auf einem der Stühle saß, die an der Wand aufgereiht waren. Sie trug eine lange Perücke in Neonrosa und ebensolchen Lippenstift. Ein bauchfreies Lederoberteil, dessen Reißverschluss weit aufgezogen war, zeigte eine Sonnentätowierung um den Nabel. Es passte zu der hautengen Lederhose, die an der Seite geschnürt war, dabei aber den Blick auf einen Großteil des Beines freigab. Als sie sich jetzt erhob und auf lächerlich hochhackigen Stilettos auf sie zukam - noch dazu mühelos mit lasziven, geübten Bewegungen -, hakte Marie sie endgültig als Flittchen ab.
Was wollte ein Mann wie Hagen, der mit jedem Atemzug Klasse und Stil bewies …
Welche Atemzüge?
… mit solchen seltsamen Gesellen?
Hagen bemerkte den verwunderten Blick, den sie ihm aus den Augenwinkeln zuwarf, und erklärte flüsternd: »Wie gesagt, alte Freunde der Familie. Etwas exzentrisch vielleicht, aber durchweg liebenswert.«
Dann hatte die Frau sie erreicht und streckte Marie eine Hand mit langen künstlichen Fingernägeln hin, natürlich ebenfalls neonpink.
»Hallo«, sagte sie und lächelte breit. Obwohl sich Marie vorgenommen hatte, sie nicht zu mögen, empfand sie das Lächeln als sympathisch und warm. Sie ergriff die Hand und sagte: »Marie.«
»Ich weiß, Schätzchen«, erwiderte ihr Gegenüber und beugte sich vor, um sie auf beide Wangen zu küssen. »Wir freuen uns wirklich, dich endlich hier zu haben.«
»Wieso endlich?«, fragte Marie verwirrt, aber da ergriff Hagen ihre Hand und zog sie mit sich in die Mitte des Teppichs. Er war unifarben sandbraun und niederflorig, so dass sie den Eindruck bekam, über festgetretenen Sand zu laufen.
Edgard stellte zwei Stühle in der Mitte des Zimmers auf, die Sitzflächen zueinander, und Hagen bedeutete ihr mit einer einladenden Geste, Platz zu nehmen.
Sie setzte sich, kam sich aber ziemlich dumm dabei vor, ohne erkenntlichen Grund mitten in einem fast leeren Raum zu sitzen. Hagen nahm ihr gegenüber Platz und umfasste ihre Hände mit den seinen.
»Marie«, sagte er feierlich, und sie hätte beinahe aufgelacht, doch dann bemerkte sie den ernsten, bedeutungsschweren Ausdruck auf seinem Gesicht.
»Ich weiß, dass du viel durchgemacht hast, von dem dir das meiste unerklärlich erscheinen muss.«
»Was …«, setzte sie an, doch dann kamen die Erinnerungen, als habe sich eine Schleuse geöffnet. Der gruselige Mann mit den Reißzähnen … der andere Mann, der ihn ohne zu zögern erschoss … ihn überfuhr … sie …
Rettete.
… entführte.
Sie wollte aufspringen, von der Aufregung und dem Schrecken des Vergangenen getrieben, aber Hagen hielt sie mit sanfter Gewalt auf dem Stuhl.
»All das wird schon bald einen Sinn ergeben«, versprach er, und seine ruhige Stimme summte in ihren Ohren, beruhigte sie.
»Wichtig ist im Moment nur: Du hast eine besondere Gabe, besondere Kräfte.«
Marie wich im Sitzen zurück, bis die Lehne knirschte, brachte es aber nicht über sich, Hagen die Hände zu entziehen. Bin ich hier in einer Sekte gelandet?
»Bitte, vertrau mir!« Hagens Stimme war warm und eindringlich und wirkte wie ein starkes Beruhigungsmittel.
Er winkte Edgard zu, und der Weißgewandete brachte ihm einen kleinen Tontopf, in dem eine verwelkte Tulpe wuchs. Die vormals violetten Blätter waren verschrumpelt, hingen herunter und waren am Stängel bereits braun geworden. Es würde nicht mehr lange dauern, dann würden sie abfallen und einen einsamen, traurigen Stempel hinterlassen.
Georg schloss ihre Hände um den Topf und legte seine wieder darauf. Die Berührung war angenehm kühl auf ihrer von der seltsamen Situation erhitzten Haut.
»Konzentriere dich auf diese Blume«, bat er.
»Ich verstehe nicht, was das soll«, protestierte Marie, der das alles langsam zu dumm wurde. Sie zog die Hände zurück, so dass die Tulpe in Hagens Griff zurückblieb.
Hagen streichelte ihr vorsichtig mit den Fingern einer Hand übers Gesicht. Wo sie ihre Wange berührten, schienen sie eine Spur von Wärme nach sich zu ziehen. Kurz schloss sie die Augen und barg ihr Gesicht in seiner großen, sanften Handfläche, genoss das Gefühl der Nähe. Dann bemerkte sie, was sie tat, und setzte sich rasch wieder auf.
»Liebe Marie … Ich bitte dich: Schenke mir noch einige Minuten deiner Zeit. Wenn du danach nichts mehr davon hören willst, lasse ich dich nach Hause bringen und behellige dich niemals wieder, das schwöre ich … bei meinem Leben.«
Edgard hustete auf und wandte sich ab. Oder hatte er aufgelacht?
»Aber worum geht es denn überhaupt?«, fragte sie, langsam erzürnt. Wieso geriet sie nur immer wieder an solche Bekloppten?
»Das kann ich dir nur zeigen, nicht erklären«, sagte Hagen und nickte zur Tulpe. »Es wird dein Leben verändern«, versprach er.
Irgendetwas in seiner Stimme oder in seinem Blick überzeugte sie. Zögerlich umfasste sie den Tontopf wieder und sah auf die Blume.
»Konzentriere dich auf die Blüte.«
»Sie ist fast verwelkt.«
Hagen nickte. »Was spürst du dabei?«
Marie hob den Blick und schaute Hagen skeptisch an. Der lächelte wie ertappt, wies aber wieder auf die Blüte. »Bitte. Was spürst du dabei?«
»Es …« Es ist eine blöde tote Blume, wollte sie sagen, doch dann sah sie die gespreizten Blätter, die braunen, toten Stücke daran. »Es macht mich traurig. Sie muss sehr schön gewesen sein.«
»Dann schließe jetzt die Augen«, verlangte Hagen, und Marie tat, wie ihr geheißen.
»Spüre die Blume«, verlangte er, doch als sie eine Hand von dem Topf lösen wollte, hielt er sie fest und sagte: »Nein, mit dem Geist!«
Marie schnaubte. Wie soll das denn gehen?
Als wolle er ihre Frage beantworten, sagte Hagen: »Stelle dir ihren Geruch vor, die weiche Struktur der Blätter, das saftige Grün des Stängels. Versuche, sie vor deinem geistigen Auge zu sehen.«
Marie hörte die beiden anderen Personen im Raum leise murmeln. Es klang, als sprächen sie immer wieder die gleichen Worte. War das Latein?
»Konzentriere dich!«, verlangte Hagen ungewohnt scharf, und Marie gehorchte verdutzt. Sie stellte sich die verdorrte Tulpe vor, versuchte sich in sie hineinzudenken. Gerade als sie sich dabei so dämlich vorkam, dass sie die Augen öffnen wollte, geschah etwas.
Mit einem Mal wurden ihre Gedanken irgendwie … dichter. Verwandelten sich von flüchtigen Lichtblitzen in ihrem Kopf in ein goldenes Rinnsal, das ihre Wahrnehmung füllte.
»Ja!«, ermunterte Hagen sie.
Die Tulpe setzte sich vor ihrem geistigen Auge zusammen. Erst als grobe Silhouette, dann zunehmend klarer, bis der schwarze Schattenriss Tiefe bekam und Farben die Struktur erfüllten.
»Erfasse sie ganz, ihr innerstes Wesen!«, verlangte Hagen mit sanfter Stimme.
Marie stellte sich vor, sie strecke die Hand aus, um die Tulpe zu berühren, sie zu streicheln. Das Bild erzitterte, als sie erschrocken bemerkte, dass sie die Krankheit der Blume spüren konnte. Ihr naher Tod umgab das Gewächs wie eine dunkle Aura.
»Was geschieht hier?«, fragte Marie, doch Hagen verbot ihr mit einem Zischen das Reden.
»Kannst du ihren Makel spüren?«
Marie nickte langsam, ließ sich wieder auf die Pflanze ein, konnte jetzt sogar erahnen, wie sich die dünnen Wurzeln durch die trockene Erde gewühlt hatten, auf der Suche nach der dringend benötigten Flüssigkeit.
»Dann«, sagte Hagen und atmete tief durch, »dann behebe ihn!«
Marie öffnete die Augen und schnappte nach Luft, denn das Bild veränderte sich nicht. Sie sah nicht den leeren Raum, nicht Hagen. Noch immer schwebte die Blume vor ihr, in leicht veränderten Farben, nahm ihre Sinne ganz gefangen, Die dunkle Aura zog sich dichter zusammen, umklammerte die sterbende Pflanze, schien das Leben aus ihr herauszusaugen.
Sie öffnete den Mund und Worte sprudelten heraus, lateinische Silben, deren Sinn sie nicht verstand und die doch ohne Stottern von ihren Lippen strömten. Sie hörte, wie ein leises Echo, die gleichen Worte aus anderen Kehlen.
Schließlich spürte sie Wärme in sich aufsteigen. Von ihrem Unterbauch ausgehend, verbreitete sie sich in ihrem Körper, bis sie ihn vollständig auszufüllen schien. Ihr Solarplexus schien zu glühen, und zum ersten Mal verstand sie, warum er auch das Sonnengeflecht genannt wurde.
Sie blinzelte, aber noch immer sah sie nicht mit den Augen, 0sondern...
Mit der Seele?
Die Wärme erreichte ihre Hand, und staunend, noch immer fremde Worte murmelnd, die sie nie gelernt hatte, sah sie ein goldenes Licht von ihren Fingerspitzen aufsteigen. Es tastete, wie eine schillernde Libelle hin und her schnellend, über die Pflanze.
Dann glitt es in die vertrockneten Blätter hinein, vertrieb den schwarzen Schatten des Vergehens, drängte ihn aus der Blume heraus. Die Blüte schloss sich wieder, die erstarkten Blätter wie einen Mantel um den Kern schlingend.
Marie spürte, wie die Tulpe gesundete, wie neues Leben in ihr zu pulsieren begann, und dieser Eindruck beglückte sie wie nichts zuvor in ihrem Leben. Ihr lächelnder Mund formte weiter Worte, die nicht in ihrem Verstand gebildet wurden. Sie bemerkte, wie die Wärme zunahm, wie immer dickere goldene Ströme aus ihr flossen.
Die anderen Stimmen verstummten. Das Licht nahm weiter zu, wurde so hell, dass sie die Blume kaum noch erkennen konnte. Mittlerweile wurde die Wärme unangenehm, doch das Gefühl war zu berückend, als dass sie hätte aufhören können. Außerdem hätte sie gar nicht gewusst, wie sie die Energie unterbrechen, den Strom versiegen lassen sollte.
Sie hatte das Gefühl, als kanalisiere sie wilde Fluten honiggoldener Kraft durch ihren Körper. Jetzt brannte die Wärme unter ihrer Haut, und sie erahnte, dass es nicht mehr lang dauern würde, bis sie zu Schmerzen würde.
»Das reicht!«, hörte sie Hagens Stimme, und seine Worte schnitten wie eine eisige Klinge durch den glühenden Fluss.
Marie wehrte sich gegen die Unterbrechung, wollte das beglückende Gefühl nicht loslassen, aber dann gab sie nach. Die Wärme unter ihrer Haut war zu einer unangenehm brennenden Glut geworden. Pulsierend sickerten die letzten Reste der Kraft aus ihren Fingerspitzen, wurden von der Blume aufgesogen.
Sie blinzelte erneut, und diesmal verschwand das Bild. Sie saß schwer atmend auf dem Stuhl und sah verblüfft auf die prächtige, dunkelviolette Blume in ihrer Hand. Zwei weitere Blüten hatten sich aus der Tulpenzwiebel herausgeschoben und waren ebenfalls erblüht.
»Das tun sie normalerweise nicht, oder? Mehrere Blüten ausbilden?«, fragte Edgard von seinem Platz aus angestrengt.
Hagen schüttelte den Kopf. »Sie ist mächtiger, als ich gedacht habe.«
Marie nahm die Worte nur am Rande wahr. Der Teppich zu ihren Füßen schwelte an mehreren Stellen, als habe sich ein verschlungenes geometrisches Muster von unten durch den Stoff gebrannt.
Die Blume vor ihr aber war mit ihrer Lebensenergie angefüllt, pulsierte im Gleichklang mit ihrem Herzschlag. Marie fühlte Freude und Entsetzen zugleich. So etwas gab es nicht … durfte es nicht geben. Und doch hielt sie den Beweis in der Hand, und sie erkannte: Ich habe Leben geschenkt. Mit beinahe mütterlichem Stolz strich sie über eines der festen, gesunden Blätter.
Erst dann fand sie die Kraft, etwas zu sagen. »Das war phantastisch!«
Hagen lächelte. »Das, meine Liebe, war erst der Anfang!«