NACH SEINEM BILDNIS
Hagen war außer sich. Wenige Stunden, die er hoch konzentriert für die Vorbereitung des ersten Präliminarrituals hatte verbringen müssen, reichten aus, dass es in seinem Anwesen drunter und drüber ging.
Er riss die Tür so heftig auf, dass sie krachend gegen die Wand schlug, und stürmte in das Zimmer, das er Marie zugewiesen hatte.
Sie lag auf ihrem Bett und wischte sich Tränen aus dem Gesicht, die ihr sichtlich peinlich waren. Ihr Geist war so sehr in Aufruhr, dass er kaum etwas wahrnehmen konnte. Vielleicht verhinderte aber auch seine eigene Wut ein vollständiges Einstimmen auf ihr Blut, oder der erste Kontakt mit ihrem Hexenerbe hatte ihre instinktive Abwehr gestärkt.
Er zwang sich zur Ruhe, sog Luft in seine Lungen, die vor dem ungewohnten Sauerstoff zurückzuweichen schienen, und ließ sie langsam wieder ausströmen. Marie war aufgebracht genug, da musste er sie nicht noch weiter aufregen.
Die Frau schenkte ihm ein unsicheres Lächeln, das er beruhigend erwiderte, dann sank ihr Blick wieder hinab zu Melchior, der mit einem Wattebausch, einer Pinzette und Desinfektionsmittel großflächige Schürfwunden an Beinen und Armen reinigte. Marie hatte die Decke über sich gezogen, aber Hagen konnte trotzdem sehen, dass sie Spitzenunterwäsche trug. Die Verwandlung hatte ihren Anfang genommen.
»Was ist geschehen?«, fragte er Carteaumois, der nur ein - natürlich weißes - Unterhemd am Oberkörper trug und mit verschränkten Armen neben der Tür an der Wand lehnte. Am Boden lag ein blutverschmiertes Hemd, und auch die Hose wies rote Flecken auf.
»Emma«, sagte der Franzose grimmig. »Sie hat sich wohl endgültig entschieden.«
Hagen wandte sich von Marie ab, damit sie die wütende Grimasse nicht sah, die sich seiner Züge bemächtigte.
»Ich habe gleich gesagt …«, setzte Carteaumois an, aber als Hagen den Kopf hob und ihn ansah, verstummte er. Dass er recht mit seiner Vermutung gehabt hatte, Emma werde sich schlussendlich vollends auf die Seite der Vargren und damit gegen Hagen stellen, machte diesen nur noch wütender.
Monatelang schon kokettierte sie mit den Kläffern, holte sich die Wärme der Lebenden von ihnen und berauschte sich am Blut ihrer Opfer und sogar der Werwölfe selbst. Hagen hatte sie gelegentlich mit Informationen gefüttert. Manchmal mit richtigen, um ihre Glaubwürdigkeit auszubauen, meist aber mit falschen, um die Vargr in die Irre zu führen, wenn eine wichtige Unternehmung anstand.
Doch er hatte niemals geglaubt, dass sie so weit gehen würde, das Band zu ihm, ihrem Vater, ein für alle Mal zu durchtrennen. Und das hatte sie getan, indem sie Marie in Gefahr brachte.
»Ein Vargr?«, vermutete er.
»Der Stauchkopf«, bestätigte Carteaumois und formte mit den Fingern das Zeichen für einen erschlagenen Gegner.
Hagen nickte. »Ist großer Schaden angerichtet worden?«, fragte er mit Blick auf die Frau.
Der Franzose schüttelte den Kopf. »Sie hält sich gut, und das Schlimmste konnte ich ihr nehmen.«
Das erklärte den feinen Geschmack von Carteaumois’ Magie an ihr.
»Aber Emma hat sich ihr offenbart. Sie weiß jetzt, dass Vampire unter unserem Dach leben.«
Hagen verschluckte einen Fluch. Das machte es umso schwieriger. Vermutlich wäre es weise gewesen, die angehende Hexe jetzt einige Tage ruhen zu lassen, ihr zu helfen, sich mit der Existenz von Werwölfen und Vampiren abzufinden. Doch dafür blieb keine Zeit.
Zum einen rückte der Zeitpunkt für das Erwecken näher. Zum anderen würde sogar die minderbemittelte Emma früher oder später die Blockade lösen können, die es ihr verbot, die Adresse dieses Anwesens weiterzugeben oder zu offenbaren, wo sich die Bluotvarwes und Bletzer verbargen. Sie hatte es immerhin schon geschafft, einen Vargr in die Nähe des Hauses zu bringen.
Es war also binnen weniger Wochen, möglicherweise schon in den nächsten Tagen mit einem Angriff der Hunde zu rechnen. Ein Grund mehr, die Präliminarien so schnell wie möglich hinter sich zu bringen, die Marie auf das endgültige Ritual vorbereiteten.
Melchior strich unterdessen dick Wundsalbe auf die Abschürfungen und wickelte einen Verband darum. Als er sich mit einem Nicken erhob und Marie sich bedankt hatte, trat Hagen an ihr Bett und ließ sich neben sie auf die Matratze sinken.
»Es tut mir unendlich leid!«, sagte er und ergriff ihre Hand. Es war jetzt wichtig, die Bindung zu erhalten. Sie würde an ihm zweifeln, denn er hatte sie nicht schützen können. Also musste er ihren aufgewühlten, verunsicherten Zustand ausnutzen, um sie weiter auf dem Pfad der Hexen voranzutreiben.
Sie öffnete den Mund, doch dann traten ihr wieder Tränen in die Augen, und sie schlug eine Hand vor den Mund, um ein Schluchzen zu unterdrücken.
Hagen spürte ihre Einsamkeit aufwallen, ein Gefühl, das sich wie ein Tropfstein über Jahre in ihrem Innern zu einem Berg aufgetürmt hatte. Kurz entschlossen zog er sie an sich und war überrascht, als sie ihn heftig umarmte und an seiner Schulter einige Minuten weinte.
Er wusste, was er tun musste, strich ihr beruhigend über den Hinterkopf, wiegte sie sanft. Doch obwohl Marie es als aufrichtiges Mitgefühl deuten würde, war es für Hagen doch nur Mittel zum Zweck, und das erschreckte ihn ein wenig.
Er erinnerte sich daran, wie er Ulda ebenso gehalten hatte, wie ihm das Herz übergeflossen war vor Mitleid und er in dem Wunsch, ihr Leid zu mildern, alles getan hätte.
Jetzt war da kein Mitgefühl mehr. Er musste diese Feder in Bewegung bringen, jenes Zahnrad umlenken, bis alles wie bei einem Uhrwerk ineinandergriff. Ob es ihr dabei gut oder schlecht ging, war ihm gleich. Hauptsache, sie funktionierte.
Endlich löste sie sich von ihm und sagte beschämt: »Verzeihung, ich … ich habe dich vollgeweint.«
Hagen blickte auf den dunklen Fleck auf seinem Hemd und lächelte. Voller falscher Wärme sagte er: »Das ist ein kleiner Preis, wenn es dir nun besser geht.«
»Etwas«, gab sie zu, bemerkte, dass sie den mit Spitze verzierten Büstenhalter entblößt hatte, und zog die Decke wieder bis unters Kinn. »Das alles … ist erschreckend.«
Hagen nickte verständnisvoll. Wie oft hatte er das schon hinter sich gebracht? Ein Dutzend Mal? Oder waren es schon über zwanzig Hexen, die er mit dem Ritual erweckt hatte? Es war immer das Gleiche. Eigentlich wussten sie, dass die Welt nicht so harmlos war, nicht so flach, wie man es sie hatte glauben machen, aber wenn die Wahrheit dann offenbart war, weigerten sie sich, daran zu glauben.
»Es bedeutet eine immense Veränderung in deinem Leben«, sagte er und ergriff wieder ihre Hand. »Doch auch wenn es im Moment schwer zu glauben ist: Es ist eine Veränderung zum Besseren.«
Marie lachte auf. »Werwölfe, Vampire … das soll besser sein?« Sie warf Hagen und Carteaumois einen prüfenden Blick zu, doch noch reichten ihre Sinne nicht aus, um in ihnen Untote zu erkennen.
Zeit für etwas grausame Wahrheit, um die Abwehr aufzuweichen. »Besser als einsam und traurig zu Hause zu sitzen.«
Ihr Blick zuckte zu ihm, überrascht und erzürnt zugleich. »Woher …«, setzte sie an, bemerkte das Eingeständnis schon in diesem einen Wort und verstummte.
»Du bist nicht die Erste, die ich hierher eingeladen habe«, erklärte Hagen. »Die Welt ist voller Frauen, die ihr Erbe verleugnen oder nie entdeckt haben, und sie alle verspüren deswegen eine Leere, die nichts und niemand auf der Welt auszufüllen vermag. Einigen kann ich helfen. Unter anderem dir, Marie.«
»Wobei helfen?«, fragte sie misstrauisch.
Hagen warf einen Blick über die Schulter, und sogleich verließen Melchior und Carteaumois den Raum, schlossen die Tür hinter sich. »Dabei, dein Hexenblut zu wecken, deine Magie zu erkennen und zu nutzen.«
Marie nickte stumm und zog die Beine an, um die Arme um die Knie zu schlingen. Sie verzog schmerzerfüllt das Gesicht, löste den Griff aber nicht. Die Macht, die wie ein Glühwürmchen in ihrer noch so menschlich schwachen Seele glomm, erwachte. Sie erinnerte sich an die Heilung, bei der Hagen sie angeleitet hatte, und der Nachhall der Ekstase nahm sie für einen Moment gefangen. Hagen konnte die Wärme und Stärke ihrer Begabung deutlich spüren und wurde selbst leicht benommen davon. So klar, so rein, so leuchtend war bisher noch kein Funke gewesen.
»Warum?«, fragte Marie schließlich, und die Glut sank in sich zusammen, bis nur noch eine pulsierende Andeutung vorhanden war.
Hagen blickte sie fragend an, auch wenn er ahnte, was sie wissen wollte.
»Warum willst du mir helfen?«, fragte sie.
Hagen musterte ihr Gesicht, das bleich und wächsern wirkte, spürte die Last ihres Geistes auf sich ruhen, während sie sich ganz auf ihn einstimmte. Was andere Menschen als die Gabe guten Zuhörens schätzten, erkannte Hagen als unterbewussten Versuch, seine Gedanken mit Hilfe von Magie zu ergründen.
Natürlich glitten die dünnen, ungelenken Fäden ihres Geistes an seiner Abwehr ab, doch dies war ein weiterer Hinweis auf das gewaltige Ausmaß ihres Potenzials.
Er seufzte. »Weil ich deine Hilfe brauche«, gab er zu.
Sie blickte ihn abwartend an, und er spürte den Druck des Schicksals in seinem Nacken. Wenn er jetzt das Falsche sagte, würde sie ihm entgleiten. Diese Hexe konnte er nicht wie die anderen in seine Dienste pressen. Marie musste er zur Macht verführen, und das ging ironischerweise manchmal mit der Wahrheit am Besten.
»Ich bin kein Mensch«, sagte er darum geradeheraus.
Sie entzog ihm erschrocken die Hand und rollte sich zur Seite, aus dem Bett. Die Decke fiel zu Boden, und sie stand in wei ßer Spitzenwäsche vor ihm, offenbarte einen schönen Körper mit weiblichen Rundungen. Doch Hagens Blick blieb eisern auf ihr Gesicht gerichtet.
Sie wich weiter zurück und fragte, als er keine Anstalten machte, sich auf sie zu stürzen: »Du bist auch ein Vampir, wie Emma?«
Er schüttelte den Kopf.
»Was dann?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte er traurig und erhob sich, die Hände in einer Freundschaftgeste mit den Handflächen nach oben vorgestreckt. »Für den Augenblick soll es reichen, dir zu sagen, dass ich ein unsterbliches Wesen bin, zu ewigem Leben verflucht.«
Die Frau lachte ungläubig auf und schüttelte den Kopf.
Hagen lächelte und kam weiter auf sie zu. »Ich weiß, das ist schwer zu glauben. Aber das sind die anderen Dinge, die du in den letzten Tagen erlebt hast, auch, oder?«
»Ich versuche noch zu ergründen, ob ich träume oder jemand mich unter Drogen gesetzt hat«, sagte die Frau und fuhr sich nervös durch die dichten Locken.
»Weder noch«, sagte Hagen und ergriff ihre Hände. Sie ließ es widerstrebend geschehen.
»Ich, Hagen von Stein, wurde im Jahr 1394 auf der Burg Aichelberg geboren. Nach einem Leben als Krieger wurde ich verraten und verflucht. Seitdem wandele ich auf dem Antlitz der Erde, erst als Sklave meiner Peiniger. Dann konnte ich mich und meine Brüder befreien. Doch seit dem Tag meines Todes und der Widerauferstehung suche ich nach einer Möglichkeit, den Fluch umzukehren.«
Hagen strich mit den Daumen über Maries Finger und ließ dabei seinen Geist in die Abschürfungen an ihrem Arm sickern, drang durch unzählige winzige Wunden in ihr Blut ein. Es reichte aus, das Mitgefühl zu verstärken, das sie ohnehin empfand.
»Und dann?«, fragte sie leise.
»Dann möchte ich eine Frau finden, Kinder zeugen und schließlich im Kreise meiner Familie … sterben.« Er wandte den Blick ab, und eine einsame Träne floss über seine Wange. Er wusste nicht zu sagen, inwieweit sie nur geschauspielert war.
Maries Augen wurden feucht, und mit belegter Stimme fragte sie: »Wie kann ich dir dabei helfen?«
Hagen erkundete ihre Gedanken, die nun greifbarer waren als jemals zuvor. Er hatte ihr Herz erreicht, und sie öffnete sich ihm ganz. Sollte er ihr die Rolle seiner Frau, der Mutter seines Sohnes zugedenken? Nein, das würde sie abschrecken. Sie fühlte sich körperlich zu ihm hingezogen, aber ihre Seele war einem anderen zugeneigt.
Also sagte er: »Du bist eine Hexe, Marie. Du hast nur deine Magie noch nicht entdeckt. Ich kann dir dabei helfen, kann dich schulen, sie zu nutzen, statt von ihr aufgezehrt zu werden, wie es sonst in einigen Jahren der Fall wäre.«
»Und im Gegenzug mache ich dich sterblich?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
Hagen nickte.
»Wäre das nicht Mord, irgendwie?«
Hagen lachte auf. »Ich habe die Zeit von zehn Leben auf dieser Erde verbracht. Der Tod erscheint mir wie eine Erlösung«, log er mühelos.
Marie löste sich von ihm und wurde sich ihrer spärlichen Bekleidung bewusst. Sie ging eilig zum Schrank und zog sich ein leichtes Stoffkleid über den Kopf.
Hagen wartete geduldig, denn er spürte, wie sie sich mehr und mehr der richtigen Entscheidung näherte. Sie hatte die Macht geschmeckt und Gefallen daran gefunden. Sie brauchte nur eine Ausrede, einen guten Zweck, um sich voll und ganz darauf zu stürzen.
»Was muss ich tun?«, fragte sie schließlich.
»Es ist ein Prozess, die Hexenkräfte zu erwecken. Du musst eine Reihe von Ritualen durchlaufen. Ich habe mir die Freiheit genommen, das erste bereits vorzubereiten, denn ich habe gehofft, dass du unser beider Leben verändern willst.«
Er verschwieg tunlichst, dass der Höhepunkt des letzten Rituals darin bestand, das Blut einer Hexe zu trinken.
Marie trat zu ihm und nickte entschlossen. »Tun wir es!«