DIE DUNKLE RÄCHERIN
Marie kicherte, und Hagen setzte den Pinsel ab. »Geht es wieder?«, fragte Hagen, und in seiner Stimme lag ein deutlicher Vorwurf.
»Das kitzelt«, verteidigte sie sich und warf einen Blick über die Schulter. Das markante Gesicht des Mannes nahm einen reumütigen Ausdruck an.
»Tut mir leid. Wir haben nur nicht mehr so viel Zeit.« Er blickte auf eine teuer wirkende Uhr. »Es sind keine vier Stunden mehr bis Mitternacht.«
Marie seufzte und lehnte sich wieder vor. »Ist das denn wirklich nötig?«
Sie sah auf ihre Arme, mit denen sie die Decke an ihren nackten Oberkörper presste. Verschlungene Symbole, die teilweise an Hieroglyphen, teilweise an arabische Schriftzeichen oder Tierkreiszeichen erinnerten, zogen sich hennarot über ihre Haut.
»Es ist unabdingbar«, sagte Hagen. »Die Zeichen leiten die Macht. Sie würde dich sonst von innen heraus zerfressen!«
»Und du bist sicher, dass dir das nicht einfach nur Spaß macht?«
Hagen lachte leise und legte eine Hand in ihren Nacken. »Ich habe nicht behauptet, dass dies eine unangenehme Arbeit wäre.«
Noch vor wenigen Tagen hätte sich Marie zu Tode geschämt, praktisch nackt, nur von einem Laken umhüllt, vor einem fremden Mann zu sitzen. Doch zum einen war Hagen kein Fremder, und zum anderen war sie nicht mehr das verhuschte, verklemmte Ding, das den lieben langen Tag Bettpfannen leerte. Sie war jetzt eine Hexe, und wenn Hagen recht behielt, eine der mächtigsten, die diese Welt je gesehen hatte. Nichts lag mehr außerhalb ihrer Reichweite, alles war möglich. Oder würde möglich werden, wenn sie erst das Ritual begangen hatten.
Sie zuckte zusammen, als der kleine Pinsel über eine besonders kitzelige Stelle glitt. »Wie lange noch?«, fragte sie.
»Eine Stunde«, gab Hagen zurück. »Ich muss auch noch deinen Oberkörper bemalen.«
Marie atmete tief ein. Das war nun doch ein bisschen viel Freizügigkeit. Andererseits … die zärtlichen Berührungen Hagens, seine Stärke, die über das Körperliche hinausging … all das blieb nicht ohne Wirkung auf ihre vor Missachtung verkümmerte Libido. Wer wusste, was aus diesem neckischen Spiel erwachsen konnte?
Das ist kein Spiel, erinnerte sie sich. Sie tat das alles hier nicht aus Vergnügen, sondern weil sie ihre neue Aufgabe erkannt hatte.
Das Bild des zertrümmerten Autos kam ihr wieder in den Sinn. Der Mann war schwer verletzt worden, würde mit großer Sicherheit bleibende Schäden zurückbehalten. Und das, weil sie ihn mittels ihrer neuen Macht in der vergangenen Nacht hatte losfahren lassen.
Ist das wirklich der richtige Weg?, frage sie sich. War sie weise und gerecht genug, um solche Entscheidungen treffen zu können? Sie hätte auch die Polizei verständigen können.
Und was machen die schon? Ein Protokoll schreiben. Die ver ängstigte Frau hätte niemals Anzeige erstattet.
Irgendwann hätte er sie umgebracht, beruhigte sich Marie und biss in das Laken, um nicht aufzulachen, nicht aus Freude, sondern weil Hagen an ihrer Seite angekommen war und mit dem Pinsel bis fast an die Rundung ihrer Brust strich.
Aus großer Macht erwächst große Verantwortung, dachte sie. Wo hatte sie diese weisen Worte gehört? Spiderman, fiel ihr ein, und sie verzog das Gesicht. Auf dem Motto eines Comic-Helden wollte sie ihr neues Leben nun wirklich nicht errichten.
Und wenn überhaupt, wäre ich eher so jemand wie Batman.
Erneut lachte sie, doch diesmal über den Gedanken daran, in Cape und Latexanzug durch die Straßen zu laufen und Bösewichte zu jagen.
»Das Ritual wird schmerzhaft sein«, sagte Hagen unvermittelt. »Ich werde dich verletzen müssen.«
Marie schluckte schwer, nickte dann stumm. Es war gut, dass dieser Preis nicht zu leicht zu erringen war, denn sie wollte ihn mit Stolz tragen, wollte wissen, dass sie ihn sich verdient hatte.
Sie beabsichtigte, die Macht zu nutzen, mochte Spiderman davon halten, was er wollte. Sie konnte Spinnen ohnehin nicht leiden. Und sie spürte, dass Gott oder das Schicksal sie nicht umsonst ausgewählt hatte. Die Menschen brauchten jemanden, der auf sie aufpasste, und dieser jemand würde sie sein! Koste es, was es wolle.