HOFFNUNG
Georg zuckte zusammen und riss die Augen auf. Fahles Morgenlicht sickerte an den halb zugezogenen Vorhängen vorbei durch schmutzige Scheiben und beleuchtete das heruntergekommene, trostlose Hotelzimmer.
Doch der depressive Eindruck währte nicht lang, denn er spürte Maries warmen Körper an seinen geschmiegt. Die Decke war ihr bis über den Kopf gerutscht, und nur einige schwarze Locken lagen auf dem Kissen.
Georg lächelte, schlug die Decke ein wenig zurück, um sie anzusehen, und lachte leise auf, als sie im Halbschlaf eine Schnute zog und die Decke wieder über ihren Kopf schlug.
Vorsichtig, um sie nicht ganz zu wecken, schlüpfte er aus dem Bett. Die Sorgen und Gedanken wollten sich seiner wieder bemächtigen, doch er wehrte sie mit dem Hochgefühl ab, das Maries nacktes Bein in ihm hervorrief, als es jetzt unter der Decke hervorrutschte.
Ihm fiel Hagen in seinen letzten Augenblicken ein, sein Ausdruck hatte ein ähnliches Hochgefühl vermuten lassen. Der Bletzerkönig war lächelnd in den Tod gegangen, freiwillig. Georg wusste nicht warum, aber diese tiefe Zufriedenheit in seinen Zügen hatte eines deutlich gezeigt: Er wähnte sich auf dem Weg an einen Ort, an dem er willkommen war.
Georg nahm eine Wasserflasche aus dem kaputten Kühlschrank und trank so gierig, dass einige Tropfen über seine nackte Brust bis zum Oberschenkel hinabrannen.
»Du hast gewaltig abgespeckt«, sagte eine weibliche Stimme hinter ihm. Georg ließ die Flasche fallen und wirbelte herum, die Hände zum Angriff erhoben, die Zähne gefletscht.
Vor ihm stand Lea, in einem engen, zugeknöpften schwarzen Samtmantel, aus dem unten hohe rote Lederstiefel und oben ein blutrotes Halstuch ragten. Auch die Lederhandschuhe um ihre schlanken Finger waren aus rotem Leder, und ihre Lippen nahmen die Farbe auf, doch ihr Haar war unverändert dunkel und in kunstvollen Wellen mit Haarspray fixiert.
Lächelnd sah sie an ihm herab. »Steht dir gut«, spottete sie gutmütig.
Georg trat aus der Pfütze, die sich aus der Flasche um seine Füße bildete, und hielt sich eines der Kissen vor.
»Was willst du?«, fragte er scharf.
Sie lachte. »Mal nicht so barsch.« Sie legte eine rote Lederhandtasche ab, die hinter ihrem Rücken verborgen gewesen war, öffnete den untersten Knopf ihres Mantels und nahm mit überschlagenen Beinen auf dem einzigen Stuhl des Zimmers Platz.
»Ich bin hier, um mich zu bedanken. Auch bei dir, Schwester«, sagte sie zu Marie, die jetzt mit aufgerissenen Augen die Decke wegschlug und versuchte, schnell genug wach zu werden.
Georg verspürte beim Anblick ihres nackten Körpers trotz der Situation ein warmes Kribbeln im Bauch, das in die Lenden überzugehen drohte. Er verbot sich diesen Gedanken. Lea mochte lieb tun, aber sie war gefährlich, und seine Libido sollte ihm jetzt nicht den Geist trüben.
 
Marie blinzelte und versuchte ihre Augen davon zu überzeugen, dass sie wach war. Eine schlanke, wunderschöne Frau saß in ihrem Zimmer und sprach mit Georg, wandte sich jetzt Marie zu.
Ein kalter Stich zuckte durch Maries Brust, denn sie spürte die Verbindung der beiden so deutlich wie einen eisigen Winterwind im Zimmer. Georg und diese Frau - eine Hexe - hatten eine Vergangenheit.
Doch Georgs Ausdruck und die ablehnende Körperhaltung machten deutlich, dass sie nicht in Freundschaft auseinandergegangen waren, und das besänftigte Marie wieder etwas.
»Bedanken?«, fragte Georg drohend. »Wofür?«
»Nun, mein Guter, dafür, dass du DeWulfen beseitigt hast. Und von Stein gleich dazu.«
»Ich habe das nicht für dich getan«, stellte Georg klar, und Marie verspürte den Drang, ihn dafür zu küssen. Da sie aber nackt war und sich dieser dürren Kuh so nicht stellen wollte, warf sie ihm nur einen warmen Blick zu.
»Nein. Aber du hast es dennoch getan, und darum habe ich ein Geschenk für dich.« Sie nahm betont langsam ihre Tasche auf den Schoß und öffnete sie schräg haltend, damit Georg sich vergewissern konnte, dass keine Waffe darin war.
Dann holte sie ein durchsichtiges Plastikröhrchen heraus und hielt es hoch. »Voilà!«
Marie kniff die Augen zusammen und sah ein kleines, dunkles Stück Holz oder einen Dorn darin liegen.
»Was ist das?«, fragte sie, denn Georg starrte die Frau nur wütend an.
»Das, meine Lieben«, sagte die Frau und stand auf, »ist eure Zukunft.«
Sie hielt sich makellos gerade, und der Mantel spannte sich über den Brüsten, die beinahe unangemessen groß für ihre zierliche Gestalt waren. Ein feuchter Männertraum, dachte Marie wütend und ärgerte sich über Georg, der offenbar darauf hereingefallen war. Dabei war diese Hexe ein Miststück, das merkte man doch sofort.
»Hast du schon genascht, Georg?«, fragte sie und trat viel zu nah an ihn heran. Was meinte sie damit?
Er wich zurück und fragte barsch: »Was geht dich das an?«
Die Frau lachte auf, ein angenehmer, heller Ton. Marie verabscheute die Frau von Sekunde zu Sekunde mehr.
»Wenn du schon einen Menschen gefressen hast, können wir uns das hier sparen. Dann solltest du bei deinen Freunden im Korrektorenamt vorbeigehen und dich nach allen Regeln der Kunst hinrichten lassen. Wenn aber nicht …«
Sie hielt das Döschen hoch.
Georg schüttelte den Kopf.
»Gut«, rief die Frau begeistert und knöpfte ihren Mantel auf. Darunter trug sie einen eng geschlungenen Cordwickelrock und eine Bluse in Dunkelbraun. »Dann wollen wir mal.«
»Wurde das jemals mit einem Vargr versucht?«, fragte Georg misstrauisch.
Die Hexe lachte auf. »Du glaubst doch nicht, dass ein Vargr dem jemals zugestimmt hätte? Oder sich von Hagren richten lie ße?«
Marie zog die Luft scharf ein und unterbrach dieses viel zu vertraulich wirkende Gespräch, an dem sie nicht teilhatte: »Worum geht es hier eigentlich?«
Die Frau zeigte ein amüsiertes, offenes Lächeln, das unter anderen Umständen sympathisch hätte wirken können. Sie kam näher, zu nah für Maries Geschmack, und blickte auf sie herab, ließ den Blick über das nackte Bein wandern, das unter der Decke hervorschaute.
»Wir machen deinen Mann zu einem Bletzer«, erklärte die Hexe dann. »Damit er nicht bei nächster Gelegenheit ein Stück aus deinem süßen, runden Gesicht beißt.«
Marie schlug die Hand beiseite, mit der sie ihr Kinn ergriff, wie bei einem kleinen Mädchen.
»Hagen von Stein war ein Bletzer«, sagte Marie und wandte sich an Georg. »Willst du das?«
Georg zögerte. Noch vor Kurzem hatte er den Tod erwartet, ihn zwar nicht rundheraus erhofft, aber als einzige Möglichkeit gesehen, seine Seele zu retten. Jetzt bot Lea, die trügerische Lea, ihm die Möglichkeit an, ein Leben mit Marie zu führen.
Aber ist es denn tatsächlich ein Leben?
Marie blickte ihn aus großen, besorgten Augen an, und das gab den Ausschlag. Wenn er schon sein Leben verlieren musste, dann doch lieber auf eine Weise, die ihm ein Zusammensein mit dieser Frau - meiner Frau - ermöglichte.
»Es ist besser als die Alternative«, sagte er darum, und Marie nickte. Sie erhob sich, zögerte kurz und ließ die Decke dann fallen. »Wie kann ich helfen?«
Georgs Blick wurde von Maries nacktem Leib erneut wie magisch angezogen. Auch wenn er ihn in der vergangenen Nacht ausgiebig erkundet hatte, war er doch neu und aufregend.
Lea lachte auf. »Indem du nicht im Weg rumstehst. Dieses Ritual überschreitet bei Weitem die Kräfte, die dir zur Verfügung stehen.«
Georg sah die Verärgerung auf Maries Gesicht, und so fragte er eilig, bevor sich ein Wortgefecht zwischen den beiden Frauen entwickeln konnte: »Woher kennst du dieses Ritual?«
Lea wandte sich ihm nach kurzem Zögern zu. »Eine Hagr, die Alte vom Wald, hat es mir kurz vor ihrem Tod beigebracht … damals habe ich mich gewundert, denn die Alte gab selten freiwillig etwas her. Aber vermutlich wusste sie einfach wieder mehr als wir. Sie muss dich gemocht haben, Georg.«
Georg dachte an die zerbrechliche Alte, die Hagen von Stein zum Opfer gefallen war und ihnen mit ihrer Videobotschaft noch vom Grab aus geholfen hatte.
»Möge Gott ihrer Seele gnädig sein«, sagte er, weil ihm nichts anderes einfiel.
»Also? Der Tag hat bereits begonnen, und - versteht das bitte nicht falsch - ich möchte nicht länger in eurer Nähe sein als notwendig. Ihr habt Vargren, Vampire und Korrektoren gleichermaßen gegen euch aufgebracht.«
Georg seufzte. Er hatte bisher über die Bestrafung nur gelesen, aber sämtliche Berichte, vor allem die der Bletzer selbst, lasen sich sehr unangenehm.
Schließlich ließ er das Kissen fallen und legte sich auf den schmutzigen Teppich. Lea musterte erst Marie, dann Georg und sagte: »Euch ist schon bewusst, dass ihr nackt seid?«
»Ich denke, du hast es eilig?«, zischte Marie vom Fuß des Bettes aus und wandte sich wütend ab, als Georg ihr mit einer Hand bedeutete, ruhig zu bleiben.
»Wir haben ein bisschen Probleme mit unserer Kleidung. Wir hatten keine Zeit zum Packen«, erklärte er.
»Mir soll’s recht sein«, sagte sie und musterte Georgs Körper noch einmal genauer. »Wirklich, eine immense Verbesserung. Richtig lecker.«
»Das Ritual?«, fuhr Marie sie an.
Lea lachte und kniete sich neben Georg, umfasste seinen Arm und hatte mit einem Mal ein mit runenartigen Zeichen versehenes kleines Messer in der Hand, mit dem sie tief in das Fleisch schnitt.
Georg stöhnte auf, doch die Vargrenstärke, die aufgewühlt knapp unter der Haut brodelte, ließ ihn den Schmerz ertragen, ohne zu zucken.
Lea griff erneut in ihre Handtasche und kramte darin. Bis sie einen kleinen Tiegel gefunden und den Korken mit den Zähnen herausgezogen hatte, war die Wunde bereits verschlossen.
»Verdammt. Da müssen wir am Timing arbeiten«, sagte Lea und schnitt erneut.
Diesmal zuckte Georg doch weg, und sie zog den Arm energisch wieder zu sich, schmierte eilig die gelb-weiße Salbe aus dem Tiegel in die Wunde und verlangte: »Draufspucken!«
Georg wollte sich zusammenkrümmen, so sehr brannte die Salbe in der sich schließenden Wunde, aber er widerstand dem Drang und sammelte im schnell trocken werdenden Mund Speichel und spuckte ihn auf den Schnitt.
Lea legte den Kopf in den Nacken und begann unverständliche Silben zu murmeln. Der Fingernagel an ihrem Zeigefinger wuchs, wurde dicker und gelb, verdrehte sich wie ein alter Ast. Sie vermischte Speichel und Salbe mit diesem Nagel, und der Schmerz wurde stärker.
»Du tust ihm weh«, protestierte Marie.
Jetzt geht es erst richtig los, hörte Georg Leas Stimme in seinem Kopf, dann rammte sie den dunklen Dorn aus dem Plastikbehälter in die Wunde.
Sofort vervielfachten sich seine Qualen, ließen das Brennen der Wunde wie ein angenehmes Prickeln erscheinen. Georg schrie und bäumte sich auf; umklammerte den Unterarm, durch den der Dorn wanderte, als dunkler Schatten unter der Haut sichtbar; fing mit den Fingernägeln an, seine Haut aufzukratzen, um ihn aus sich herauszuholen. Doch da verschwand er schon in seinem Oberarm, wurde mit jedem schmerzhaften Herzschlag weitergepresst.
 
»Was tust du ihm an?«, rief Marie entsetzt und spürte ein Aufkochen der geringen Macht in ihrem Innern. Wie eine Supernova pulsierte die warme Energie in ihr und wuchs mit jeder Welle an.
Die Hexe, die mit schmalem Lächeln neben Georg kniete und nun ein Stück von dem sich windenden Mann zurückwich, blickte verwundert auf.
»Reiß dich zusammen«, sagte sie dann. »Er stirbt bloß.«
Marie schrie auf und sprang zu der Hexe, packte sie in den betonharten kurzen Haaren und zerrte sie nach hinten. Sie holte mit der flachen Hand aus, aber bevor sie zuschlagen konnte, riss die Hexe ihren Arm hoch, und Marie flog durch die Luft, von einer unsichtbaren Kraft nach hinten geschleudert.
Sie landete auf dem Bett, rollte darüber und schlug auf der anderen Seite auf den Boden.
»Reiß dich zusammen, du hysterische Kuh!«
Die Schmerzen in Armen und Knien ignorierend, sprang Marie auf und wollte sich erneut auf die Mörderin werfen, da stöhnte Georg: »Nein!«
Marie eilte zu ihm und fiel neben seinem schweißbedeckten Leib auf die Knie, zog seinen Kopf in ihren Schoß.
Die Hexe, die auf der anderen Seite stand, blickte zu ihm hinab. »Hat es funktioniert?«, fragte sie.
Georg nickte, sagte erschöpft und traurig: »Der Wolf ist gebannt.«
»Der Hund, meinst du«, erwiderte sie spöttisch und begann, ihre Sachen wieder in die Handtasche zu packen, wobei sie sich wie eine billige Stripperin vorbeugte, statt in die Hocke zu gehen.
»Auf das ›lebendig begraben‹ verzichten wir. Ich bin zwar traditionsbewusst, aber ich will sicher kein riesiges Loch für dich buddeln.«
Dann warf sie ein Bündel Zwanzig-Euro-Scheine auf das Bett.
»Damit sind wir quitt, Georg«, verkündete sie.
Er nickte matt.
Wortlos wandte sich die Hexe um und ging zur Tür, öffnete sie. Einen Augenblick stand sie im Durchgang, dann drehte sie sich mit einem Seufzen noch einmal um.
»Ich bin einfach zu gut für diese Welt«, sagte sie und wies auf Maries Bauch. »Soll ich es noch rasch wegmachen? Oder wollt ihr das Kind behalten?«