Arbeit

Seit der industriellen Revolution des 19. Jhd. steht der Arbeitsmarkt im Mittelpunkt gesellschaftlicher Auseinandersetzungen. Lohnunterschiede zwischen verschiedenen Branchen oder Staaten erklären manche mit den Gesetzen von Angebot und Nachfrage, andere erkennen darin die Folgen von Ausbeutung. Fest steht, dass der Arbeitsmarkt anders funktioniert als Gütermärkte. Doch wie äußern sich diese Unterschiede?

In diesem Kapitel erfahren Sie,

  • warum Massenarbeitslosigkeit so normal ist,

  • welche Instrumente man dagegen einsetzen kann,

  • warum große Firmen besser bezahlen als kleine,

  • warum die Amerikaner mehr arbeiten als wir.

Werden die Arbeiter ausgebeutet?

Heute, wo die durchschnittliche deutsche Arbeitnehmerfamilie mindestens ein Auto, mehrere Farbfernseher, Wasch- und Spülmaschine und ausreichend komfortablen Wohnraum besitzt, gibt es nur noch wenige Menschen, die von Ausbeutung der Arbeiter durch die Arbeitgeber sprechen würden. Heute beklagen sich eher die Arbeitgeber, dass sie vom Staat und den Gewerkschaften ausgebeutet würden. Bis Mitte des 19. Jhd. waren Karl Marx und Friedrich Engels, ebenso wie vor ihnen die klassischen englischen Ökonomen Adam Smith, David Ricardo und Thomas Malthus, einhellig der Meinung, dass die Fabrikbesitzer den Arbeitskräften nur so viel bieten mussten, wie diese zum Leben und Kinder aufziehen unbedingt brauchten.

Die Menschen standen damals an den Fabriktoren Schlange und arbeiteten unter für unsere heutigen Verhältnisse unmenschlichen Bedingungen. Trotz sehr langer Arbeitszeiten reichten die Löhne oft kaum aus, um eine Familie notdürftig zu ernähren. Kinder arbeiteten in den Fabriken, anstatt in die Schule zu gehen. Wer sich bei der Arbeit verletzte, konnte einfach entlassen werden, was seine Familie ins Elend stürzte. Gleichzeitig wurden einige Industrielle sehr reich. Gewerkschaften waren verboten, um diesen Zustand nicht zu gefährden. Eine nennenswerte soziale Absicherung gab es nicht.

Eine Verelendung findet nicht statt

Die Durchschnittslöhne, die heute, 150 Jahre später, bei uns gezahlt werden, kann man schwerlich als das Niveau bezeichnen, das gerade noch den Erhalt der Arbeitskraft und die Fortpflanzung gewährleistet. Smith, Ricardo, Malthus und der frühe Marx hatten zweierlei nicht bedacht. Zum einen gaben die Eliten lieber etwas von ihrer politischen Macht und ihrem Reichtum ab, als die Machtübernahme des Proletariats zu riskieren. Zum anderen wurden mit zunehmender Industrialisierung immer besser ausgebildete Arbeiter benötigt. Der Bedarf an schlecht bezahlten Tagelöhnern sank. Die Demokratisierung führte dazu, dass die mächtiger gewordenen Arbeitnehmer mehr vom gemeinsam erwirtschafteten Kuchen für sich abzweigen konnten. Die Abhängigkeit der Arbeitgeber von gut ausgebildeten Arbeitskräften führte dazu, dass sie von sich aus mehr bezahlten, um diese Arbeiter anzulocken. Die Funktionsweise des Arbeitsmarktes änderte sich dadurch grundlegend, wie wir im Folgenden sehen werden.

Demokratie statt Revolte

Wissenschaftler haben anhand der historischen Abfolge von Wahlrechtserweiterungen nachgewiesen: Die allgemeine Demokratie, die uns heute so selbstverständlich ist, wurde von den damaligen Machthabern gewährt, weil sie Revolutionen und den vollständigen Machtverlust fürchteten. Denn Besitz und Wahlrecht, also wirtschaftliche und politische Macht, waren in der Frühzeit der Industrialisierung noch eng verbunden. Als etwa die bürgerliche französische Revolution 1789 die Monarchie hinwegfegte, achteten die neuen Machthaber sehr darauf, es mit der Demokratie nicht zu übertreiben. Wahlberechtigt war nur, wer mindestens 25 Jahre alt war (was damals mehr als der statistischen Lebensmitte entsprach) und ein Mindestmaß an Besitz nachweisen konnte. In den USA begrenzten die Gründerväter das Wahlrecht auf Grundbesitzer und schrieben das Verbot einer Einkommensteuer in die Verfassung. In Preußen gab es bis Mitte des 19. Jhd. das sog. Dreiklassenwahlrecht, bei dem diejenigen, die ein Drittel des Steueraufkommens bestritten, auch über ein Drittel der Stimmen verfügten usw. Das bewirkte, dass im Durchschnitt etwa sechs Großverdiener so viele Stimmen hatten wie 100 Mitglieder der Bevölkerungsmehrheit in der unteren Einkommensklasse. Auf kommunaler Ebene konnte gelegentlich ein Industrieller allein ein Drittel der Stimmen abgeben.

Im Verlauf des 19. Jhd. kam es immer häufiger zu Arbeiteraufständen und Revolutionen. Wie Aidt und Jensen (2011) zeigen konnten, gab es Wahlrechtsreformen in Richtung eines umfassenderen und gleichen Wahlrechts bevorzugt dann, wenn in Nachbarländern gerade wieder eine Revolution oder ein größerer Arbeiteraufstand stattgefunden hatte. Aufgeklärte Regenten wie Bismarck schufen Kranken-, Renten- und Arbeitslosigkeitsversicherungen, um die Arbeiter zufrieden zu stellen und für die Einflüsterungen von Revolutionären unempfänglich zu machen. Arbeiter, die nicht darauf angewiesen waren, jeden Tag eine Arbeit zu finden, um ihr Überleben zu sichern, konnten wählerischer werden. Später wurden Gewerkschaften zugelassen und die Kinderarbeit verboten. All das verbesserte die Verhandlungsposition der Arbeiter.

Qualifizierte Kräfte statt Tagelöhner

So lästig das für die Arbeitgeber auf kurze Sicht war, langfristig tat es der Wirtschaftsentwicklung keinen Abbruch, ganz im Gegenteil. Denn mit Arbeitern, die als Kinder eine gute Schulbildung bekommen hatten, konnte man in modernen Industriebetrieben wesentlich mehr anfangen als mit verelendeten Tagelöhnern, die nur einfachste Aufgaben erledigen konnten und die man auf Schritt und Tritt überwachen musste.

So kam es, dass die Arbeiterklasse immer wohlhabender und gebildeter wurde und daher mit dem Kapitalismus in seiner gezähmten Form im Großen und Ganzen ihren Frieden schloss.

Marx hat seine Fehleinschätzung übrigens noch korrigiert. In „Das Kapital“ von 1867 heißt es: „Auf der anderen Seite ist… das Ausmaß der sog. lebensnotwendigen Bedürfnisse selbst das Produkt geschichtlicher Entwicklungen und hängt somit in hohem Maße von dem Stand der Zivilisation eines Landes ab; genauer gesagt, von den Gewohnheiten und dem Grad des Wohlstands, unter denen sich die Klasse der freien Arbeiter herausbildete. Ein Anstieg des Preises der Arbeit bedeutet in der Tat nichts weiter, als dass die Länge und das Gewicht der goldenen Kette, die der Lohnarbeiter bereits für sich selbst geschmiedet hat, ein Nachlassen der Spannung dieser Kette gestatten.“

Zusammenfassend kann man die Entwicklung der kapitalistischen Gesellschaft vom Raubtierkapitalismus der frühen Industrialisierung zu seiner gezähmten Erscheinungsform, deren deutsche Variante wir als „soziale Marktwirtschaft“ bezeichnen, wie in der folgenden Abbildung darstellen.

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Vom Raubtierkapitalismus zur sozialen Marktwirtschaft

Warum ist Massenarbeitslosigkeit traurige Normalität?

Eine wichtige Frage haben wir bisher noch unbeantwortet gelassen: Wie kam es, dass trotz fortbestehender hoher Arbeitslosigkeit die Löhne so stark stiegen? Man sollte ja eigentlich annehmen, dass die Arbeitslosen mit den Beschäftigten konkurrieren, indem sie ihre Arbeit billiger anbieten. Dann, so könnte man meinen, würden die Löhne nicht steigen oder gar sinken, bis alle Arbeitsuchenden in Lohn und Brot sind.

Es gibt eine Reihe von Erklärungsmustern dafür, warum dies nicht stattfindet (oder nicht in ausreichendem Maße, um Massenarbeitslosigkeit zu beseitigen). Die drei populärsten:

  • Die Arbeitslosen wollen nicht wirklich arbeiten.

  • Die Arbeitslosen sind nicht qualifiziert genug.

  • Die Löhne werden künstlich zu hoch gehalten.

Doch die ersten beiden Erklärungsansätze erklären erkennbar allenfalls einen kleinen Teil der tatsächlich vorhandenen Arbeitslosigkeit. Auch die dritte Erklärung ist nur vordergründig überzeugend.

Nach einer kurzen Überprüfung dieser Argumente greifen wir einen Gedanken aus dem vorangegangenen Kapitel auf: Auch einzelne Unternehmen planen nicht mit Vollauslastung der Kapazitäten. Im Normalbetrieb produzieren sie nur rund 80 % dessen, was sie bei voller Auslastung herstellen könnten. Vielleicht funktioniert die Volkswirtschaft insgesamt ja ebenso, und Arbeitslosigkeit bedeutet lediglich, dass Kapazitäten bereitgehalten werden, die man nur in Zeiten hoher Auslastung einsetzt. Diesen Erklärungsansatz werden wir ebenfalls prüfen.

Faule Arbeitslose

Zunächst also zu der These, Arbeitslosigkeit sei freiwillig, da die Arbeitslosen gar nicht arbeiten wollten – jedenfalls nicht zu den angebotenen Löhnen. Dass manche Arbeitslose nicht ernsthaft Arbeit suchen, ist unbestreitbar. Jeder kennt Fälle, wo der Betroffene lieber schwarz arbeitet oder bescheiden genug ist, um dauerhaft mit Stütze auszukommen. Die Regel ist das aber bei Weitem nicht. So zeigen praktisch alle Umfragen, wie z. B. der zu Beginn erwähnte Glücksatlas, dass Arbeitslose mit ihrem Leben viel weniger zufrieden sind als Menschen in Arbeit. Arbeitslosigkeit gehört für die meisten Menschen zu den schweren Schicksalsschlägen des Lebens. Die These von der freiwilligen Arbeitslosigkeit widerspricht der Lebenserfahrung ebenso wie den Ergebnissen von Befragungen.

Mangelnde Qualifikation

Das Qualifikationsniveau wirkt sich fast überall auf die Arbeitslosenquote aus. Bei Menschen ohne Schulabschluss ist die Quote zumeist um ein Mehrfaches höher als bei Akademikern.

Dennoch: Auch gut ausgebildete Akademiker, Techniker und Facharbeiter sind im Regelfall in größerer Zahl arbeitslos oder arbeiten in Berufen weit unterhalb ihrer Qualifikation. Das dürfte nicht der Fall sein, wenn es grundsätzlich genügend Arbeitsplätze gäbe. Wenn diese formal gut ausgebildeten Fachkräfte fachlich oder persönlich weniger qualifiziert sein sollten als ihre erfolgreicheren Konkurrenten, dann müssten sie das theoretisch durch niedrigere Gehaltsforderungen ausgleichen können. In der Praxis ist dies nur selten möglich. Entweder finden sie daher einen Arbeitsplatz in ihrem Beruf, der dann i. d. R. in der dafür üblichen Größenordnung entlohnt wird, oder sie steigen beruflich ab und nehmen einen Job unterhalb ihrer Qualifikation an, oder sie bleiben arbeitslos.

Besser sieht es für die These von der mangelnden Qualifikation Arbeitsloser in Bezug auf die gering Qualifizierten aus. Allerdings ist zu klären, warum die Löhne für diese Gruppe bei hoher Arbeitslosigkeit nicht sinken. Womöglich taugt mangelnde Qualifikation nur dann als Erklärung für Massenarbeitslosigkeit, wenn Lohnuntergrenzen bestehen.

Zu hohe Löhne

Wenn der Arbeitsmarkt wie ein normaler Gütermarkt funktionieren würde, dann sänke der Preis für Arbeit, wenn zu viel Arbeit angeboten wird – und zwar so lange, bis Angebot und Nachfrage wieder im Gleichgewicht sind. Es gibt jedoch eine Reihe von Faktoren, die dafür sorgen, dass die Löhne trotz Arbeitslosigkeit nicht sinken. Die wichtigsten davon sind

  • die Macht der Gewerkschaften,

  • Eingriffe des Gesetzgebers in die Vertragsfreiheit,

  • Desinteresse der meisten Arbeitgeber an „Dumping“-Angeboten von Arbeitslosen.

Arbeitgeber wollen kein Dumping

Selbst wenn sie in der Lohnsetzung weitgehend frei sind, haben die meisten Arbeitgeber kein Interesse an Unterbietungsangeboten von Arbeitslosen. Sie fürchten die damit verbundene Störung des Betriebsfriedens und scheuen sich zudem, ihren Beschäftigten mit der Begründung die Löhne zu kürzen, dass es auf dem Arbeitsmarkt genügend andere gebe, die sie ersetzen könnten. Truman Bewley (1998) hat in einer Vielzahl von Interviews mit Personalverantwortlichen von Arbeitgebern herausgefunden, warum das so ist.

Die Personalchefs erklärten, Beschäftigte seien nur dann bereit, Gehaltskürzungen zu akzeptieren, wenn es dem Unternehmen sehr schlecht geht. Wird der Lohn gekürzt, nur weil der Arbeitsmarkt das erlaubt und das Management den Gewinn steigern will, empfänden sie dies als Vertrauensbruch und reagierten mit Leistungsabfall und Schlimmerem. Aus dem gleichen Grund gaben fast alle Personalverantwortlichen an, nicht an Angeboten von Bewerbern interessiert zu sein, die versuchten, den unternehmensüblichen Lohn deutlich zu unterbieten. Dahinter steht, dass Arbeitnehmer und Arbeitgeber nicht in einem anonymen Marktverhältnis zueinander stehen, sondern meist in einer auf Dauer angelegten sozialen Beziehung. Wenn sie sich um eine Stelle bewerben, akzeptieren die Menschen zwar noch, dass sie weniger aushandeln können, wenn die Konkurrenz am Arbeitsmarkt besonders groß ist. Nach Eintritt ins Unternehmen erwarten sie aber einen fairen Umgang miteinander. Die folgende Abbildung veranschaulicht diesen Mechanismus.

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Die Firma schottet Arbeitnehmer gegenüber dem Markt ab

Ein Unternehmen, das auf qualifizierte Arbeitskräfte angewiesen ist, lässt sich nicht führen, wenn jeder das fordert und nur das bekommt, was der Markt gerade diktiert. Denn in einem solchen Arrangement funktioniert kein Teamwork, keiner setzt sich für das Unternehmen ein und keiner leistet mehr, als er laut Vertrag unbedingt muss. Der soziale Charakter eines Arbeitsverhältnisses kann gut erklären, warum auch bei Arbeitslosigkeit in den betreffenden Berufen die Löhne und Gehälter nicht sinken. Wenn das der Fall ist, sind es die Unternehmen selbst, die die Löhne hochhalten, und nicht Gewerkschaften, der Staat oder übermäßig anspruchsvolle Arbeitslose. In vielen Branchen sinkt der Lohn auch dann nicht, wenn die Arbeitslosigkeit hoch ist und es keine tariflichen oder gesetzlichen Hindernisse gibt. Die Arbeitgeber scheuen sich, die Arbeitsmoral und die Loyalität ihrer Belegschaften zu beschädigen, indem sie die Löhne kürzen. Das gilt v. a. für Berufe, in denen der Arbeitseinsatz und die Produktivität des Einzelnen schwer zu messen und zu kontrollieren sind.

Die Arbeitgeber haben allerdings weiterhin ein Interesse daran, die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer insgesamt zu schwächen, etwa indem das Niveau der sozialen Sicherung abgesenkt oder die gesellschaftliche Macht der Gewerkschaften reduziert wird. Dadurch können sie langfristig den Lohnzuwachs drücken. Wenn das durchschnittliche Lohnniveau zurückgeht, sinkt auch das Anspruchsniveau der Arbeitnehmer. Anders ausgedrückt: Die Arbeitgeber scheuen sich lediglich, die erworbenen Lohnansprüche ihrer Arbeitnehmer in Frage zu stellen, nicht aber, den Anstieg der Lohnansprüche in Schach zu halten.

Arbeitsmärkte ticken anders

Arbeitslosigkeit führt also nicht unbedingt zu sinkenden Löhnen. Aber wenn zu hohe Löhne eine wichtige Ursache von Arbeitslosigkeit sein sollten, könnte man ja daran denken, die Löhne gezielt abzusenken. Um das Reallohnniveau, auf das es am Ende ankommt, zu reduzieren, genügt es, wenn die Lohnsteigerungen niedriger ausfallen als die Inflationsrate. Wer eine solche Lohnentwicklung herbeiführen möchte, kann die allgemeinen Arbeitnehmerrechte, das soziale Sicherheitsnetz sowie die Gewerkschaften schwächen. Diese Politik wurde mit den Hartz-Reformen der rot-grünen Bundesregierung von 2003 bis 2005 umgesetzt. Sie scheint gefruchtet zu haben, denn die Reallöhne stagnierten jahrelang oder sanken sogar. Die Arbeitslosigkeit ging in der Folge stark zurück.

Es gibt allerdings auch Gegenbeispiele, die darauf hindeuten, dass man nicht generell mit Lohnsenkungen Beschäftigung generieren und Arbeitslosigkeit abbauen kann. So werden in vielen Entwicklungs- und Schwellenländern die Stundenlöhne in Cent gemessen. Trotzdem sind dort Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung oft extrem hoch. In den USA war 2010 und 2011 die Arbeitslosigkeit deutlich höher als in Deutschland, obwohl es dort kaum noch verbindliche Tarifverträge gibt und der Mindestlohn sowie die soziale Absicherung sehr niedrig sind. Auch treten immer wieder über lange Zeiträume hinweg große Unterschiede in der Arbeitslosigkeit zwischen benachbarten europäischen Ländern mit ähnlicher Lohnhöhe und ähnlichen Lohnuntergrenzen auf. Das spricht dagegen, dass die Lohnhöhe eine entscheidende Rolle spielt.

Um diese scheinbar widersprüchlichen Feststellungen zu erklären, müssen wir einen Blick darauf werfen, wie der Arbeitsmarkt eigentlich funktioniert. Am Arbeitsmarkt vollzieht sich der Ausgleich von Angebot und Nachfrage nicht so leicht wie auf manchen Warenmärkten, wie z. B. dem Kartoffelmarkt. Wenn es ein Überangebot an Kartoffeln gibt, werden diese billiger. Daraufhin kaufen die Menschen mehr Kartoffeln und weniger Reis. Die Kartoffelproduzenten produzieren weniger, weil es sich weniger lohnt, Kartoffeln anzubauen. Dieser Prozess setzt sich fort, bis das Überangebot bei einem gesunkenen Preis verschwunden ist (siehe die folgende Abbildung).

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Ausgleich von Angebot und Nachfrage auf einem Gütermarkt

Ein Überangebot an Arbeitskräften verschwindet nicht so leicht. Die Menschen bieten nicht weniger von ihrer Arbeitskraft an, wenn der Lohn sinkt. Denn die meisten Menschen müssen arbeiten, um vom Lohn zu leben. Sie können nicht einfach aufhören, weil es sich nicht mehr „lohnt“ zu arbeiten. Im Gegenteil: Es kann gut sein, dass sie sogar mehr Arbeitskraft anbieten, um den Einkommensausfall wettzumachen. Entweder arbeiten sie selbst mehr oder der Ehepartner; im Extremfall – der in Entwicklungsländern leider eher die Norm ist – arbeiten die Kinder früher und mehr, wenn der Lohn der Eltern sinkt.

Wenn also der Lohn sinkt, kann es durchaus sein, dass das Arbeitsangebot und damit die Konkurrenz um knappe Arbeitsplätze steigen und nicht etwa zurückgehen. Im ungünstigen Fall wird die Unterbeschäftigung größer, womit der Druck auf die Löhne sogar noch zunimmt, anstatt zu sinken. Ein Teufelskreis (siehe die folgende Abbildung).

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Fehlender Ausgleich des Arbeitsmarktes durch Lohnsenkung

Wo wie in Deutschland die Gesetze Kinderarbeit verbieten und die Arbeitszeit begrenzen und wo die soziale Sicherung ein Grundauskommen garantiert, steht eine Abwärtsspirale aus sinkenden Löhnen und steigender Arbeitslosigkeit wie im obigen Schaubild allerdings nicht zu befürchten. Diejenigen, deren erzielbarer Lohn so weit absinkt, dass sie sich mit Sozialhilfe besser stellen, werden tatsächlich ihr Arbeitsangebot drastisch einschränken.

Auch auf die Nachfrageseite ist am Arbeitsmarkt kein Verlass. Wenn die Löhne sinken, geht nämlich auch die Kaufkraft der Verbraucher zurück, was die Absatzchancen der Unternehmer schmälert und ihren Appetit auf Neueinstellungen dämpft.

In einer Exportnation wie Deutschland hat die nachfragedämpfende Wirkung von Lohnsenkungen eine geringere Bedeutung als z. B. in den USA oder Griechenland, die relativ wenig exportieren. Wenn in Deutschland die Löhne sinken, werden die zahlreichen Exporteure preislich wettbewerbsfähiger und können mehr exportieren und mehr Leute beschäftigen. Dadurch steigt die Summe der Einkommen im Inland, wodurch auch bei sinkenden Löhnen die heimische Nachfrage steigen kann. Das funktioniert allerdings nur unter einer wichtigen Voraussetzung: Die Lohnsenkung im Vergleich zum Ausland darf nicht durch Wechselkursänderungen aufgehoben werden. In einer Währungsunion wie der europäischen, zu der Deutschland gehört, ist diese Bedingung erfüllt.

Wie so oft in der Ökonomie gibt es auch hier keine allgemeingültige Wahrheit. Es kommt immer auf die Umstände an. Wie viel exportiert ein Land? Hat es flexible Wechselkurse? Wie ist das Sozialsystem organisiert? Herrscht gerade Nachfragemangel oder Hochkonjunktur? Solche und andere Fragen sind zu beantworten, bevor man sagen kann, wie sich eine Lohnsenkung oder Lohnerhöhung auf die Arbeitslosigkeit auswirkt.

Mindestlöhne

Ein weiteres Indiz dafür, dass Lohnsenkungen nicht zwingend die Arbeitslosigkeit beseitigen, sind die internationalen Erfahrungen mit der Einführung und Anhebung von Mindestlöhnen. Wenn zu hohe Löhne für gering Qualifizierte deren hohe Arbeitslosenquoten verursachen würden, müssten allgemeine Mindestlöhne und deren Anhebung die Arbeitslosigkeit merklich steigern. Eine Vielzahl von empirischen Untersuchungen kam jedoch zu dem Ergebnis, dass dies allenfalls in geringem Maße der Fall ist.

Für Großbritannien haben Studien mit unterschiedlichen Methoden, die Metcalf (2007) beschreibt, übereinstimmend festgestellt, dass der 1998 eingeführte und danach bis April 2011 auf 5,93 Pfund (damals 6,75 EUR) erhöhte nationale Mindestlohn nur sehr geringfügige Arbeitsplatzverluste in den besonders betroffenen Niedriglohnsektoren zur Folge hatte. Für die USA zeigte sich bei einer Erhöhung von Mindestlöhnen in einzelnen Bundesstaaten ebenfalls keine negative Beschäftigungswirkung, wie unter anderem das Autorenteam Dube, Lester und Reich (2010) festgestellt hat. Die erhebliche positive Wirkung von Mindestlöhnen auf das Einkommen der Geringverdiener zog also gar keine oder nur wenig höhere Arbeitslosigkeit nach sich. Für Frankreich, wo der Mindestlohn besonders hoch ist, und es – anders als z. B. in Großbritannien – für Berufsanfänger nur einen geringen Abschlag gibt, stellten Ökonomen allerdings fest, dass der Mindestlohn die Einstiegschancen junger Menschen in den Arbeitsmarkt verschlechterte.

Marktmacht als Erklärungsansatz

Am Beispiel der Mindestlöhne wird ein weiterer Grund erkennbar, warum von Gewerkschaften oder vom Staat durchgesetzte Lohnsteigerungen nicht unbedingt zu weniger Beschäftigung führen: die Nachfragemacht der Arbeitgeber auf dem Arbeitsmarkt. Die Arbeitgeber müssen den Preis für Arbeit nicht als vom Markt vorgegeben hinnehmen, sondern können diesen beeinflussen, indem sie mehr oder auch weniger Arbeitskräfte einstellen.

Die Marktmacht der Arbeitgeber resultiert daraus, dass die meisten Arbeitnehmer räumlich gebunden sind. Die Anfahrt zu weiter entfernten Arbeitsplätzen ist für sie aufwändig. Einen Umzug oder weite Anfahrtswege nehmen sie nur in Kauf, wenn sie dafür höher entlohnt werden. Umgekehrt akzeptieren sie für Arbeit in der Nähe von Wohnort und Familie einen geringeren Lohn. Das Angebot an passenden Arbeitsplätzen im richtigen Beruf in unmittelbarer Nähe zum Standort ist meist sehr begrenzt, sodass der Wettbewerb zwischen den Arbeitgebern gering ist. Ein Arbeitgeber, der eine Belegschaft von örtlich gebundenen Mitarbeitern aus der Nähe hat, kann relativ niedrige Löhne zahlen.

Das beeinflusst die Auswirkung eines von außen gesetzten Mindestlohns, wie das folgende Zahlenbeispiel zeigt. (Das gleiche Kalkül gilt sinngemäß auch für andere Formen von Lohnuntergrenzen, wie etwa Tariflöhne, an die sich die Arbeitgeber halten müssen.) Ein Einzelhändler habe zehn Mitarbeiter, alle in der Nähe des Betriebes ansässig und relativ gering bezahlt, sagen wir mit 6 EUR je Stunde. Der Reinertrag (Wertschöpfung) abzüglich aller sonstigen Kosten liege bei 10 EUR je Stunde und Mitarbeiter, sodass bei zehn Mitarbeitern nach Abzug des Lohns ein Gewinn von 40 EUR je Stunde verbleibt (Szenario 1).

Der Betrieb könnte sich vergrößern und 20 Mitarbeiter beschäftigen, hätte dann aber Schwierigkeiten, zum Lohn von 6 EUR genügend Arbeitskräfte zu finden. Um 20 Stellen adäquat zu füllen, müsste er vielleicht 8 EUR je Stunde bezahlen (Szenario 2). Diesen Lohn müsste er aber dann i. d. R. auch den Altbeschäftigten anbieten, da diese sonst unzufrieden wären, wodurch der Betriebsfrieden gestört würde. Deshalb erwirtschaftet der Betrieb mit 20 Mitarbeitern keinen höheren Gewinn als mit zehn billigeren Arbeitskräften.

Wenn aber der Gesetzgeber einen Mindestlohn von 7 EUR vorschreibt (Szenario 3), sieht das Kalkül anders aus. Dann entfällt die Niedriglohnvariante aus Szenario 1 und der Vergleich findet nur noch zwischen Szenarien 3 und 2 statt. Der kleine Betrieb (Szenario 3) erzielt nur 30 EUR Gewinn. Im Gewinnvergleich zwischen dem größeren Betrieb, der ohnehin über Mindestlohn bezahlt, und dem kleineren Betrieb schneidet der größere nun besser ab.

Unser Beispiel setzt voraus, dass die Produktivität der Arbeitnehmer, ihre Ausbringung pro Stunde, gleich bleibt. In der Praxis entstehen jedoch meist Produktivitätsgewinne für größere Betriebe, weil sich die Fixkosten auf mehr Produkte verteilen. Außerdem besteht die Aussicht, dass die Mitarbeiter engagierter und loyaler sind, wenn sie besser bezahlt werden.

Andererseits gibt es aber auch den Effekt, dass manche Betriebe keinen Gewinn mehr erzielen und deshalb schließen müssen oder dass weniger Betriebe neu eröffnet werden, wenn die Lohnuntergrenze steigt.

Kündigungsschutz

Neben zu hohen Löhnen werden der Kündigungsschutz und ähnliche Arbeitnehmerrechte gern verdächtigt, eine Mitschuld an der Arbeitslosigkeit zu tragen: Sie machten Arbeitgebern das Leben schwer und nähmen ihnen daher die Lust, mehr Leute einzustellen. Tatsächlich muss man fragen, ob es vernünftig ist, Arbeitgeber zu zwingen, Arbeitsverhältnisse beizubehalten, die sie gerne beenden möchten.

Im Wesentlichen gibt es drei (unterschiedlich respektable) Gründe für Arbeitgeber, ein Arbeitsverhältnis beenden zu wollen. Je nachdem, welcher Grund vorliegt, ist eine erzwungene Fortsetzung des Arbeitsverhältnisses aus gesellschaftlicher Sicht unterschiedlich zu bewerten. Die Gründe sind:

  • Den Vorgesetzten mancher Arbeitnehmer passt deren Nase nicht, oder sie sind ihnen nicht willfährig genug.

  • Manche Arbeitnehmer verhalten sich nicht so, wie der Betrieb es von ihnen erwarten kann, oder können die vereinbarte und erwartete Leistung beim besten Willen nicht erbringen.

  • Der Arbeitgeber braucht nicht mehr so viele Mitarbeiter wie gedacht, sei es weil der Absatz stockt oder aus anderen Gründen.

Der empirische Befund

Letztlich ist es wiederum eine empirische Frage, ob mehr Kündigungsschutz mehr Arbeitslosigkeit bedeutet oder weniger. Die verfügbaren Untersuchungen, die sich wegen der dort für die Wirtschaftsforschung günstigen Bedingungen v. a. auf die USA beziehen, deuten überwiegend auf einen geringen negativen Effekt auf die Beschäftigung hin (Autor, Donohue, Schwab 2006). Das ist nicht unplausibel, denn es gibt ja einen positiven und einen negativen Effekt auf die Beschäftigung: Manche Arbeitsverhältnisse werden durch den Kündigungsschutz gerettet, andere kommen gar nicht erst zustande.

Wie bei allem kommt es natürlich auf die Dosis an. Je ausgeprägter der Kündigungsschutz ist, desto wahrscheinlicher dürfte es sein, dass die negativen Wirkungen überwiegen. Für Deutschland gibt es dazu kaum überzeugende empirische Studien, weil hier anders als in den USA keine nach Bundesländern unterschiedlichen Regelungen existieren. Das erschwert einen Wirkungsnachweis.

Man kann aber feststellen, dass in Ländern mit ausgeprägtem Kündigungsschutz wie Spanien die Jugendarbeitslosigkeit tendenziell besonders hoch ist, sei es, weil die Arbeitgeber risikoscheu sind, sei es wegen der oben beschriebenen „Mechanik“ der längeren Jobs und der längeren Arbeitslosigkeit für diejenigen, die arbeitslos sind.

Arbeitslose als industrielle
Reservearmee?

Aus der Frühzeit der Industrialisierung stammt die Bezeichnung der Arbeitslosen als industrielle Reservearmee. Demnach stünden sie zur Verfügung, wenn sie gebraucht würden, und müssten bis dahin selbst sehen, wo sie blieben. Zugleich hätten sie noch den Nebeneffekt, die Belegschaften in den Fabriken zu disziplinieren, weil diese fürchten müssten, arbeitslos zu werden. Gilt das auch heute noch? Das Problem, jene Mitarbeiter zu disziplinieren, die nicht von selbst ihr Bestes geben, lässt sich auch bei Vollbeschäftigung lösen, weil nicht alle Stellen gleichwertig sind. Es gibt gute Jobs, in denen die Mitarbeiter ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Entscheidungsspielräumen haben, gut bezahlt und wenig kontrolliert werden. Und es gibt schlechte Jobs, die auf Kontrolle basieren und eher schlecht bezahlt sind.

Die Tatsache, dass man entlassen worden ist, kann einen stigmatisieren, sodass man für die guten Jobs nicht mehr in Betracht gezogen wird und nur noch schlechte Jobs bekommt.

Auch wenn sich das Disziplinierungsproblem auf diese Weise lösen lässt, bleibt das Problem bestehen, dass eine Wirtschaft, die schon im Normalbetrieb an der Kapazitätsgrenze arbeitet, keine Möglichkeit hat, zusätzliche Nachfrage zu befriedigen. Würde z. B. die Nachfrage aus wichtigen Abnehmerländern zeitweise stark wachsen, hätten die deutschen Produzenten keine freien Kapazitäten, um diese Nachfrage zu bedienen. Die potenziellen Kunden würden anderswo kaufen. Die deutsche Wirtschaft verlöre Kunden und Marktanteile.

Arbeitskräftereserven müssen allerdings nicht unbedingt in Form von Arbeitslosigkeit gehalten werden. Es ist auch möglich, die Arbeitszeit der Belegschaften zu variieren (Flexibilisierung der Arbeitszeit). Dazu nachfolgend mehr, wenn wir die möglichen Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit untersuchen.

Die Arbeitgeber können, sofern zulässig, die Flexibilitätsreserve auch herstellen, indem sie einen bestimmten Anteil an Leiharbeitnehmern beschäftigen, die sie einfach heimschicken können, wenn es an Absatz mangelt. Das erfüllt für sie den gleichen Zweck und schwächt zusätzlich die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer. Deshalb ist den Gewerkschaften der Rückgriff auf Leiharbeiter im großen Stil ein Dorn im Auge.

Was hilft gegen die Arbeitslosigkeit?

Es gibt leider kein Patentrezept gegen die Arbeitslosigkeit. Sonst hätte die Wirtschaftsforschung dieses inzwischen gefunden. Ihr stehen die Erfahrungen vieler Länder und deren unterschiedlicher Regierungen als Untersuchungsobjekte zur Verfügung. Doch die Erklärungsversuche dafür, warum die Arbeitslosigkeit in den verschiedenen Ländern und im Zeitablauf so unterschiedlich ausfällt, sind meist vielschichtig und oft umstritten – ein zugegebenermaßen etwas unbefriedigendes Resümee. Alle Möglichkeiten zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit ausführlich zu diskutieren, würde den Rahmen dieses Buches sprengen. Wir werden uns deshalb auf eine kurze Diskussion möglicher Maßnahmen beschränken.

Kürzere Arbeitszeiten

Arbeitslosigkeit kann man auch abbauen, indem man die von den Arbeitgebern nachgefragte Arbeitsmenge auf mehr Arbeitnehmer verteilt. Das geht entweder über eine Verkürzung der regulären Arbeitszeit, ein Prozess, der in Deutschland Mitte der 1990er-Jahre zu Ende ging, oder aber über vermehrte Teilzeitarbeit. Welche Bedeutung gerade die Teilzeitarbeit haben kann, wird leicht unterschätzt. Der gesamte Beschäftigungsaufbau in Deutschland im ersten Jahrzehnt seit der Jahrtausendwende geht auf Teilzeitbeschäftigung zurück.

Teilzeitbeschäftigung ist allerdings eine zwiespältige Sache. Für viele ist es eine Chance, Beruf und Familie oder sonstiges Privatleben besser in Einklang zu bringen. Für viele andere ist es nichts anderes als Teilzeitarbeitslosigkeit. So übte nach Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2008 etwa jeder dritte Teilzeitbeschäftigte nur einen Minijob aus (bis 400 EUR pro Monat). Ein Viertel der Teilzeitbeschäftigten oder rund 2 Mio. Menschen würden länger arbeiten, wenn sie die Möglichkeit dazu bekämen.

Flexible Arbeitszeiten

Damit Konjunkturschwankungen nicht zu Arbeitslosigkeit führen, die sich womöglich verfestigt, sollten die Betriebe – nötigenfalls mit staatlicher Unterstützung oder staatlichem Druck – Reservekapazitäten dadurch bereit halten, dass sie die Arbeitszeit flexibilisieren.

Kern des Flexibilisierungsgedankens ist, dass die Arbeitgeber mehr Leute einstellen, als sie bei einer 40-Stunden-Woche brauchen. Sie lassen diese bei Normalauslastung z. B. nur 35 Stunden pro Woche arbeiten, bei Auftragsspitzen aber länger. Das Nettoeinkommen der Arbeitnehmer insgesamt würde dadurch nicht sinken, es würde nur etwas anders verteilt. Bisher Arbeitslose würden mehr verdienen, bisher Vollzeitbeschäftigte etwas weniger. Weil aber das Interesse der Arbeitgeber an Vollbeschäftigung wie oben argumentiert nicht sehr ausgeprägt ist, werden solche Modelle zumeist nur in industriellen Großbetrieben wie Volkswagen umgesetzt, in denen die Gewerkschaften eine starke Position haben.

Es gibt allerdings noch Möglichkeiten, den Arbeitgebern und den produktiveren Arbeitnehmern das selten genutzte Arrangement schmackhaft zu machen. Ein intelligentes Modell flexibler Arbeitszeiten könnte so aussehen: Bei Normalauslastung ist die Arbeitszeit auf 35 Stunden begrenzt. Der Arbeitgeber hat das Recht, einen bestimmten Anteil aller Arbeitnehmer, die das möchten und die hohen Einsatz und hohe Produktivität bewiesen haben, länger arbeiten zu lassen. Dieser Anteil könnte mit zunehmender Kapazitätsauslastung steigen, müsste aber im langjährigen Durchschnitt wieder auf das Normalmaß sinken. Das würde neben der Flexibilisierung auch Leistungsanreize setzen, aber auf wirksamere und weniger willkürliche Art als heute, wo eine relativ große Gruppe von Arbeitnehmern gar keine Arbeit hat, oft ohne eigenes Verschulden.

Warum bezahlen große Unternehmen besser?

Große Industrieunternehmen wie Volkswagen oder Siemens bezahlen i. d. R. deutlich höhere Löhne für vergleichbare Arbeit als kleinere. Und Industrieunternehmen zahlen meist deutlich besser als haushaltsnahe Dienstleistungsfirmen. Woran liegt das? Dafür gibt es v. a. drei Gründe:

  • Großbetriebe müssen mehr bezahlen, um genügend passende Arbeitskräfte aus einem hinreichend weiten Umkreis anzuziehen.

  • Bei großen Industriebetrieben ist mehr zu holen, denn sie arbeiten kapitalintensiver, erwirtschaften daher einen höheren Gewinn je Arbeitskraft und können zudem aufgrund der Vorteile der Massenproduktion zu geringeren Stückkosten produzieren (bei gegebenem Lohnsatz).

  • Die Gewerkschaften genießen in Industriebetrieben, insbesondere in großen, eine stärkere Machtposition.

Die Unterschiede sind beträchtlich. So sind nach einer Untersuchung von Du Caju, Rycx und Tojerov (2009) die Löhne für angelernte Arbeiter in den besonders kapitalintensiven Branchen der Wasser-, Gas- und Stromversorger etwa zweieinhalbmal so hoch wie im arbeitsintensiven Hotel- und Gaststättengewerbe. Die Höhe der Gewinne je Arbeitnehmer erklärt etwa die Hälfte der Lohnunterschiede zwischen den Branchen. Der zweitwichtigste Faktor ist die Unternehmensgröße.

Die folgende Tabelle zeigt beispielhaft einige Tariflöhne in der niedrigsten Tarifgruppe für volljährige Arbeitnehmer in Baden-Württemberg oder Westdeutschland. Die Unterschiede bei den tatsächlich gezahlten Löhnen sind noch größer.

Selbst identische Tätigkeiten, wie etwa Reinigungsaufgaben, werden in Industriebetrieben wesentlich besser entlohnt, als wenn sie von vergleichbaren oder gar denselben Arbeitnehmern in Dienstleistungsbetrieben ausgeführt werden.

In Dienstleistungsbetrieben stellen die Löhne den größten Kostenblock dar. Wenn hier die Arbeitnehmer für eine Lohnerhöhung von beispielsweise 20 % streiken würden, um so den Rückstand zu ungelernten Industriearbeitern abzubauen, hätte das wenig Aussicht auf Erfolg. Nach einer Lohnerhöhung von 20 % würden ihre Betriebe wahrscheinlich Verluste schreiben, jedenfalls wenn sie die Preise nicht entsprechen anpassen könnten. Letzteres verhindert i. d. R. der starke Wettbewerb zwischen den zumeist eher kleinen Betrieben des Dienstleistungsgewerbes. Weil so wenig zu holen ist, ist im Dienstleistungssektor der Organisationsgrad der Arbeitnehmer besonders gering, entsprechend schwach ist ihre Verhandlungsmacht.

Anders verhält es sich in einem Industriebetrieb. Wenn hier die Arbeiter streiken, stehen teure Maschinen still. Umgekehrt kostet Nachgiebigkeit einen Industriebetrieb verhältnismäßig wenig, weil die Löhne einen geringeren Anteil an den Gesamtkosten ausmachen. Um effizient in Massenfertigung produzieren zu können, müssen die Betriebe eine Mindestgröße aufweisen. Dadurch ist der Wettbewerb weniger ausgeprägt. Entsprechend leichter ist es, Lohnsteigerungen auf die Kunden zu überwälzen.

Große Industriebetriebe haben besonders großen Nutzen aus den Vorteilen der Kostendegression gezogen, was i. d. R. mit besonders ausgeprägten Gewinnmöglichkeiten einhergeht. Sie müssen also nicht nur mehr bezahlen, um Arbeitskräfte aus entfernten Regionen anzuziehen, sie können sich das auch leisten.

Die guten Stellen sind rationiert

An dieser Stelle fragen Sie sich vielleicht: Warum gehen nicht alle Arbeitnehmer in die Großindustrie, anstatt sich zu viel niedrigeren Löhnen in Dienstleistungsbetrieben und Kleinbetrieben zu verdingen? Dafür gibt es ein paar einfache Gründe. Zunächst einmal haben die Menschen unterschiedliche Vorlieben. Sie arbeiten nicht nur, um Geld zu verdienen, sondern möchten auch etwas tun, was sie befriedigt oder ihnen Spaß macht. Wer gerne manikürt oder Kinder oder alte Menschen betreut, wird nicht unbedingt in die Fabrik gehen, nur weil der Lohn dort höher ist.

Der andere Grund lautet schlicht, dass die besonders gut bezahlten Stellen in den großen Industriebetrieben rationiert sind.

Auch heute kann kaum jemand einfach entscheiden, zu einem industriellen Großunternehmen wie BMW oder der Telekom zu gehen. Es gibt nicht allzu viele Betriebe dieser Unternehmen, und die dortigen Arbeitsplätze sind sehr begehrt. Man muss die richtigen Leute kennen oder zur richtigen Zeit am richtigen Ort sein, um eine dieser Stellen zu ergattern.

Teile und herrsche

Ganz ohne Gegenwehr nehmen es die großen, kapitalintensiven Unternehmen nicht hin, dass sie für vergleichbare Arbeit wesentlich mehr bezahlen müssen. Zunehmend nutzen sie Möglichkeiten der modernen Kommunikationstechnik und Logistik sowie rechtliche Erleichterungen, um Belegschaften in arbeitsintensiven Tätigkeiten abzuspalten. Das tun sie etwa, indem sie Tochtergesellschaften gründen und die arbeitsintensiven Tätigkeiten dorthin ausgliedern.

Das führt dazu, dass etwa die Reinigungskräfte oder auch die Büroangestellten in der Gehaltsbuchhaltung nicht mehr davon profitieren können, dass die Fabrikarbeiter mit ihrer großen Verhandlungsmacht Tarifverträge erstreiten, die auch für sie günstige Konditionen beinhalten. In aller Regel sinken bei einer Ausgliederung von Teilunternehmen die Löhne und Gehälter der betroffenen Mitarbeiter, oft sogar sehr deutlich.

Beliebt ist auch die Aufspaltung in Tochterunternehmen nicht nur entlang von Tätigkeiten, sondern auch in unterschiedlich kapitalintensiv arbeitende Sparten. Dadurch lassen sich die Löhne in den weniger kapitalintensiven Sparten drücken.

In der Automobilindustrie wird die Abspaltung der weniger kapitalintensiven Produktionszweige schon lange sehr intensiv betrieben. Während die Pioniertat von Ford noch darin bestand, eine integrierte Fabrik zu erstellen, in die Rohmaterialien für Stahl am einen Ende hineingingen und ein fertiges Automobil am anderen Ende herauskam, funktioniert die Branche heute ganz anders. Daimler, Volkswagen und BMW betreiben nur noch die kapitalintensiven Fertigungsstraßen selbst. Sehr viele der Teile, die an diesen Straßen in die Fahrzeuge eingebaut werden, werden von Zulieferern gefertigt. Diese produzieren in aller Regel mit geringerem Kapitaleinsatz und sind oft kleiner. Gewerkschaften haben dort einen schwereren Stand, die Löhne sind niedriger.

Warum verdienen Frauen weniger als Männer?

Frauen verdienen in Deutschland, wie in den meisten anderen Ländern, erheblich weniger als Männer in vergleichbarer Position und sind in Führungspositionen weit seltener anzutreffen. Das gilt umso mehr, je höher die Führungsposition angesiedelt ist. Hier soll es nicht um die (wichtige) Frage gehen, ob und wie Männerseilschaften ihre Pfründe verteidigen oder ob Unterschiede in der weiblichen und männlichen Psyche dazu führen, dass Frauen weniger hart verhandeln und weniger intensiv um die Führungsposten konkurrieren.

Hier soll es v. a. um die Frage gehen, warum der Wettbewerb um die besten Mitarbeiter und Führungskräfte Unternehmen nicht dazu zwingt, Frauen annähernd gleich gut zu bezahlen und ihnen annähernd gleich gute Karrieremöglichkeiten zu bieten wie Männern. Um das zu verstehen, ist es wiederum wichtig, sich zu verdeutlichen, wie begrenzt der Wettbewerb der Arbeitgeber um Arbeitskräfte im Normalfall ist. Eine Frau in einem bestimmten Beruf hat i. d. R. nur wenige Arbeitgeber in ihrer Umgebung, die für eine Bewerbung in Frage kommen; die Anzahl der tatsächlich freien Stellen ist noch weitaus geringer. Wenn nun in der Ausgangslage Frauen schlechter bezahlt werden als Männer, so ist der Wettbewerbsdruck hin zu einer Angleichung sehr gering. Denn wenn eine Frau zu einem anderen Unternehmen wechselt, weil sie sich unterbezahlt fühlt, so muss dieses ihr nicht so viel bezahlen wie einem Mann, sondern nur etwas mehr, als sie in ihrem alten Unternehmen verdient hat.

Dazu ist kein Diskriminierungswille erforderlich. Es unterscheiden sich lediglich die Verhandlungspositionen. Der Mann sagt: „Zu diesem Gehalt komme ich nicht, weil ich in meinem alten Betrieb mehr verdiene.“ Also erhält er mehr, wenn man ihn haben will. Die schlechter bezahlte Frau kann das nur behaupten, wenn sie hoch pokern will. Entsprechend schwerer hat sie es, ein Gehalt auszuhandeln, wie es dem Mann zugestanden wird.

Hinzu kommt, dass Frauen aufgrund ihrer traditionellen Rolle in der Familie oft in einer schlechteren Verhandlungsposition sind. Sie können weniger weit pendeln und sind auf familienfreundliche Arbeitszeiten angewiesen, was ihre Auswahl an potenziellen Arbeitgebern einengt. Deshalb verdienen Frauen weniger als Männer, verheiratete Frauen weniger als unverheiratete und Frauen mit kleinen Kindern am wenigsten.

Dabei muss die Regel, dass die Frau weniger Auswahlmöglichkeiten hat als der Mann, im Einzelfall gar nicht zutreffen. Aber wenn die Personalverantwortlichen sich auf Erfahrungswerte verlassen, wonach Frauen auch ein niedriger dotiertes Angebot i. d. R. annehmen, nützt das der Betroffenen wenig. Selbst wenn sie hart verhandelt, gibt die Gegenseite weniger leicht nach als bei männlichen Bewerbern und verlässt sich eher darauf, dass die Frau nachgeben wird, wenn es heißt: „Mehr ist nicht drin.“

Warum arbeiten Amerikaner so viel mehr als Deutsche?

Angestellte in New York haben im Durchschnitt 13 Tage Urlaub im Jahr. In Berlin sind es dagegen 29 Tage. Auch die Wochenarbeitszeit ist in New York zwei Stunden länger. Auf das Jahr hochgerechnet arbeiten vollzeitbeschäftigte US-Amerikaner gut 15 % mehr als Deutsche. Das ist erstaunlich. Denn eigentlich entscheiden die Menschen sich mit zunehmendem Reichtum i. d. R., weniger zu arbeiten. Sie entscheiden sich, nicht nur mehr Güter zu konsumieren, sondern auch mehr Freizeit. Deshalb wird in reicheren Ländern zumeist weniger gearbeitet als in ärmeren.

Die USA sind aber unter den großen Industrieländern das reichste Land. Warum arbeiten die Amerikaner dann so viel, die Deutschen und andere Europäer so wenig? Liegt es an den in Europa höheren Steuern auf das Einkommen, wie manche (US-amerikanische) Ökonomen meinen? Wenn sich Mehrarbeit weniger lohnt, weil man einen relativ großen Teil des Verdienten an den Staat abgeben muss, dann wird weniger geleistet, lautet das Argument. Es ist nicht auszuschließen, dass an dieser Erklärung etwas dran ist, schlüssig empirisch nachweisen konnte sie noch niemand. Oder liegt es daran, dass die Amerikaner konsumorientierter sind und noch stärker als wir mit ihren Nachbarn um das teurere Auto und das größere Haus konkurrieren? Auch das könnte etwas zur Erklärung beitragen.

Vertragsfreiheit kann schaden

Es gibt jedoch noch eine dritte wichtige Erklärungshypothese. In den USA sind die Arbeitnehmer bei ihren Vertragsverhandlungen stärker als in Europa auf sich selbst gestellt, weil Gesetze und Tarifverträge viel weniger Vorgaben machen. In einem solchen Umfeld ist es plausibel, dass sich die Arbeitnehmer einfach nicht trauen, ihren Arbeitgebern zu sagen, dass sie lieber etwas mehr Urlaub hätten und dafür auch mit weniger Gehalt zufrieden wären. Mehr Geld kann man immer fordern, ohne dass der Arbeitgeber daraus unvorteilhafte Schlüsse zieht. Schließlich zeigt man damit, dass man von seinem Wert überzeugt ist. Anders sieht es aus, wenn man um mehr Urlaub und kürzere Arbeitszeiten bittet. Der Arbeitgeber, der den Bewerber ja nicht wirklich kennt und im Laufe der Vertragsverhandlungen versucht, mehr über diesen herauszufinden, wird daraus schließen, dass der Bewerber die Arbeit nicht über alles stellt und keine großen Ambitionen hat. Wer bessere Gesundheitsleistungen einfordert, setzt sich dem Verdacht aus, kränklich zu sein. Wer versucht, großzügigen Mutterschutz auszuhandeln, wählt einen sicheren Weg, nicht eingestellt zu werden.

Typischerweise haben die Arbeitnehmer weniger Stellen zur Auswahl als die Arbeitgeber geeignete Kandidaten. Sie sind stärker darauf angewiesen, eine Stelle zu erhalten, als die Arbeitgeber, die Vakanz schnell zu füllen. Einzelne Arbeitnehmer, die ihre Vertragsbedingungen aushandeln müssen, während der Arbeitgeber noch entscheiden kann, ob er sie einstellt, werden daher in den Verhandlungen nicht ihre ehrlichen Vorlieben offenbaren. Sie werden eher unproblematische Forderungen stellen als solche, die zu ungünstigen Vermutungen hinsichtlich ihrer Arbeitsmoral führen könnten. Wenn aber eine Seite ihre wahren Vorlieben gar nicht in die Verhandlungen einbringt, kann am Ende auch keine Vereinbarung herauskommen, welche diese Vorlieben angemessen widerspiegelt.

In Deutschland und Westeuropa wird den einzelnen Arbeitnehmern die Last, solche problematischen Verhandlungen selbst zu führen, viel stärker abgenommen. Mindeststandards werden kollektiv geregelt. Der Gesetzgeber schreibt in Deutschland vier Wochen Mindesturlaub vor. Wäre das zu viel, müssten die Wähler dies ändern, aber die meisten Arbeitnehmer haben aufgrund von Vereinbarungen der Tarifpartner noch mehr Urlaubstage und wollen diese auch behalten. Der Staat und Tarifverträge begrenzen auch die Wochenarbeitszeit und die tägliche Arbeitszeit. Der Mutterschutz wird per Gesetz geregelt. Würden diese Regeln den Präferenzen der meisten Arbeitnehmer zuwiderlaufen, weil sie lieber mehr Geld und weniger Freizeit hätten, dann könnten und müssten die Regeln kollektiv geändert werden. Indizien, dass diesbezüglich verbreitete Unzufriedenheit herrscht, gibt es aber nicht.

Der Wettkampf um Status

Es gibt noch einen weiteren Grund, der dafür sorgt, dass bei gemeinschaftlicher Arbeitszeitverhandlung eine kürzere Arbeitszeit vereinbart wird, als wenn jeder einzeln verhandelt. Das Einkommen, das man durch Arbeit erwirbt, wird wie erwähnt nicht nur deshalb geschätzt, weil es Konsum ermöglicht, sondern auch, um damit seine Stellung in der Gesellschaft zu demonstrieren. Ein schönes Haus in einer guten Gegend, ein teures Auto, hochwertige Bekleidung, all das zeigt den Mitmenschen, dass man etwas kann und jemand ist.

Aufgrund dieses Aspekts gibt es einen Anreiz, mehr zu arbeiten, um mehr zu verdienen und dadurch im Wettkampf um Ansehen einen Vorteil zu erringen. Wenn der Nachbar oder Kollege es macht, muss man mithalten, wenn man im Rennen um Status nicht zurückfallen will. Wenn aber alle einen Tarifvertrag und ein Arbeitszeitgesetz einhalten müssen, das unsere Arbeitszeit begrenzt, dann können wir uns diesen Konkurrenzkampf sparen und die meisten sind besser dran.