Trotz aller Beteuerungen von Politikern, das Wohlstandsgefälle zwischen reichen und armen Ländern abbauen zu wollen, bleibt die Welt auch im 21. Jhd. zweigeteilt. Doch wie wurden die reichen Länder so reich, und warum bleiben die armen Länder weiterhin arm?
In diesem Kapitel erfahren Sie,
warum Busfahrer hier viel mehr als in Nigeria verdienen,
ob die Globalisierung allen Beteiligten nützt,
welchen Nutzen freier Handel unter gleich weit entwickelten Ländern stiftet,
warum Freihandel zwischen hochentwickelten und wenig entwickelten Ländern die Unterentwicklung verfestigt,
ob Afrika zur Armut verdammt ist.
Die Welt ist aufgeteilt in einige Dutzend reiche Länder, sehr viele arme Länder und einige wenige, die dazwischen liegen. Das Erstaunliche daran ist, dass (mit Ausnahme der Ölstaaten) überwiegend Länder ohne viele Bodenschätze und sonstigen natürlichen Reichtum wirtschaftlich besonders erfolgreich sind. Deutschland und Japan haben kaum natürliche Bodenschätze und im Verhältnis zu ihrer Bevölkerung wenig nutzbare Fläche, doch sie gehören zu den reichsten Ländern der Erde. Afrika ist reich an Bodenschätzen und Fläche und ist doch das scheinbar hoffnungslose Armenhaus der Welt.
Die Auflösung des Rätsels liegt v. a. in den Vorteilen der technisierten, industriellen Massenproduktion. Länder ohne Bodenschätze und mit wenig fruchtbarem Land, wie z. B. Holland, haben sich früh darauf spezialisiert, Dinge zu produzieren, die für den Verkauf und Export geeignet waren, wie z. B. Textilien, Segel oder Glas. Je mehr sie das taten, desto besser wurden sie darin, sodass Nachahmer ihnen auch dann nicht die Butter vom Brot nehmen konnten, wenn sie recht hohe Preise für ihre Produkte verlangten.
Reich geworden sind v. a. jene Länder, denen es frühzeitig gelang, in einer Schlüsselindustrie vorne mitzuspielen. Im ausgehenden Mittelalter war eine solche Schlüsseltechnologie die Textilherstellung. Sie brachte zunächst einigen Stadtstaaten in der Toskana wie Florenz und Venedig, aber auch Holland, großen Wohlstand. Die Menschen in diesen Regionen erzielten mit ihren Spinnereien und Webereien einen technologischen Vorsprung. Sie konnten dadurch Textilien billiger und in höherer Qualität herstellen als Produzenten in anderen Ländern. Deshalb stellte sich eine Arbeitsteilung ein, bei der andere Regionen Rohstoffe für die Textilproduktion und Nahrungsmittel an die Textilregionen lieferten. Diese lieferten im Gegenzug günstige Textilien. Je mehr sich diese Arbeitsteilung herausbildete, desto mehr konnten die Textilhersteller die Vorteile der Spezialisierung und der Massenproduktion nutzen und dadurch ihren technologischen Vorsprung vergrößern. Dadurch konnten sie ihre Waren weit über Produktionskosten verkaufen und wurden immer reicher. Diesen Kreislauf veranschaulicht die folgende Abbildung.
Der Kreislauf des steigenden Wohlstands
Für die Lieferanten war die Arbeitsteilung nicht ganz so günstig. In der Landwirtschaft hielten sich die Vorteile der Massenproduktion sehr in Grenzen, solange Mechanisierung und Automatisierung hier noch nicht Einzug gehalten hatten.
In der internationalen Arbeitsteilung profitieren die Länder, die sich auf Güter spezialisieren, in denen technischer Fortschritt eine wichtige Rolle spielt und deren Produktionskosten mit zunehmender Menge sinken.
Immer wieder kommt es zwar vor, dass Länder, die einen stark nachgefragten Rohstoff herstellen, damit einigen Wohlstand erzielen. Dieser ist aber meist nur von begrenzter Dauer und endet, sobald irgendwann die Nachfrage wieder abflaut, weil sich die Technologie geändert hat, ein Konkurrenzprodukt gefunden wurde oder andere Länder den Rohstoff nun ebenfalls produzieren. Das Privileg, mit der Ausbeutung von Bodenschätzen dauerhaft Wohlstand schaffen zu können, genießen fast nur Länder mit sehr hohen Vorkommen an wertvollen Bodenschätzen bei relativ kleiner Bevölkerungszahl, wie die arabischen Erdölexporteure.
Auch innerhalb Deutschlands verdienen Arbeiter in erfolgreichen Industriebetrieben viel mehr als etwa Hotelfachkräfte mit gleichem oder gar höherem Ausbildungsstand. Daher ist es kein Wunder, dass die Menschen in Entwicklungsländern ohne international konkurrenzfähige Industrie im Durchschnitt weniger verdienen. Aber es ist nicht nur der Mangel an gut bezahlten Industriearbeitsplätzen, der den Durchschnitt drückt. Auch außerhalb der Industrie verdienen Arbeitnehmer in Entwicklungsländern, die mit der gleichen Ausrüstung genau das Gleiche tun wie ihre Kollegen in den Industrieländern, nur einen Bruchteil von deren Löhnen.
Bei angelernten Beschäftigten von McDonald's gibt es im internationalen Vergleich riesige Lohnunterschiede, obwohl Produktionsverfahren und Produkte praktisch identisch sind. Ashenfelter und Iurajda (2001) stellten fest, dass ein indischer Hamburger-Wender drei Stunden arbeiten muss, um einen Big Mac mit nach Hause nehmen zu können, ein russischer zwei Stunden, ein brasilianischer oder polnischer eine Stunde, ein deutscher 20 Minuten und ein japanischer acht Minuten.
Ein Busfahrer in Lagos verdient etwa ein Sechzehntel dessen, was sein Berufskollege in Frankfurt verdient. Solche riesigen Unterschiede kann es geben, weil Dienstleistungen wie Busfahren oder Haare schneiden nicht international transportiert und gehandelt werden können und weil nigerianische Busfahrer nicht einfach nach Deutschland gehen dürfen, um dort im Busfahrergewerbe zu arbeiten.
Aber wie entstehen diese Unterschiede überhaupt? Wenn v. a. die Vorteile der industriellen Massenproduktion für den Reichtum von Ländern verantwortlich sind, dann bedeutet das ja nicht automatisch, dass auch in Wirtschaftsbereichen, in denen es keine Massenproduktion und wenig Spezialisierung gibt, die Löhne in ähnlicher Größenordnung steigen. Rein ökonomisch betrachtet gibt es wenig, was verhindern würde, dass in Deutschland Friseure (inflationsbereinigt) ähnlich wenig verdienen wie vor hundert Jahren oder wie in einem Entwicklungsland, während Industriearbeiter ein Vielfaches dieses Vergleichsmaßstabs verdienen. Die wesentlichen Einflusskräfte, die das verhindern, sind politischer Art. Der gesellschaftliche Zusammenhalt wäre unter solchen Bedingungen gefährdet. Bei allgemeinem Wahlrecht haben die Geringverdiener die Möglichkeit, sich einen Anteil am gesellschaftlichen Reichtum zu sichern, indem sie für eine verhältnismäßig großzügige soziale Sicherung stimmen. Diese zieht indirekt eine Untergrenze für die Lohnhöhe ein, weil kaum jemand für Löhne unter Sozialhilfeniveau arbeitet. Oder sie stimmen für Parteien, die einen Mindestlohn setzen, der das soziale Existenzminimum in einem reichen Land sichert. Weil die gut bezahlten Industriebeschäftigten kaufkräftige Nachfrage bieten, können Dienstleister und Landwirtschaft in reichen Ländern die Preise entsprechend erhöhen.
So müssen die besser Verdienenden Dienstleistungen teurer bezahlen, als es der Fall wäre, wenn allein der Markt regierte. Ihr preisbereinigtes Einkommen ist niedriger, während das der Beschäftigten in den einfachen Dienstleistungen steigt. In Ländern, in denen es kaum heimische Unternehmen in Wirtschaftsbereichen mit hoher Wertschöpfung gibt, fehlt die Basis für diese Umverteilung der Erwerbschancen und der Einkommen. Deshalb müssen die vielen unterbeschäftigten Menschen ihre Arbeitskraft zu fast jedem Preis anbieten. Die Gehälter der Friseure in reichen Ländern steigen, weil sie über Sozialleistungen und Mindestlöhne am steigenden Wohlstand partizipieren und deshalb ihre Arbeit nicht zu jedem Preis anbieten müssen. Da in reichen Industrieländern genug kaufkräftige Nachfrage vorhanden ist, können die Friseure höhere Preise verlangen, um die höheren Löhne zu decken. In armen Ländern, in denen es kaum Wirtschaftsbereiche mit großen Wertschöpfungsgewinnen gibt, fehlt die Basis dafür.
Freier Handel ohne Zölle an den Grenzen und ohne sonstige Handelsschranken nutzt allen beteiligten Ländern. Das ist der Glaubenssatz, der dem Projekt der Europäischen Union ebenso zugrunde liegt wie der Welthandelsorganisation, die sich in jahrelangen internationalen Verhandlungsrunden um die Verringerung von Zöllen und anderen Handelshemmnissen bemüht. Der Glaubenssatz beschreibt die Interessenlage in den Industrieländern korrekt. Für diese ist freier Handel von überragender Bedeutung, egal ob untereinander oder mit den Entwicklungsländern.
Die Welthandelsorganisation (World Trade Organisation, WTO) ist eine zentrale Institution zur Regelung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen. Ihr Ziel ist die Förderung des Freihandels. Die Mitglieder verpflichten sich, Einfuhr- und Ausfuhrbeschränkungen abzubauen, Zölle nicht zu erhöhen, sondern immer weiter zu senken, und Handelserleichterungen für ein Land auch allen anderen Mitgliedsländern zu gewähren. Für Wirtschaftsräume wie die EU gilt im Außenverhältnis eine Ausnahme von dieser Regel.
Man stelle sich nur vor, innerhalb der Europäischen Union würden an den Landesgrenzen wieder hohe Zölle auf Industrieprodukte eingeführt. Ein weltweit führender deutscher Hersteller von Etikettiermaschinen müsste seine Maschinen in Frankreich, Italien und anderen Ländern plötzlich viel teurer verkaufen. Konkurrenten in diesen Ländern würden ihm Marktanteile abnehmen. Die Produktion würde sinken. Dadurch stiegen die Kosten je produzierter Maschine, weil sich die festen Kosten von Gebäuden, Verwaltung und Entwicklung auf weniger Produkte verteilen ließen. Am Ende würden die französischen, italienischen und deutschen Hersteller von Etikettiermaschinen allesamt kleinere Serien für den heimischen Bedarf zu hohen Kosten produzieren.
Je nachdem, wie stark die Kosten steigen, kann das für Italien und Frankreich für sich genommen besser sein, als alle Etikettiermaschinen aus Deutschland zu importieren, denn immerhin fallen die Löhne und Gewinne im eigenen Land an. Aber dabei bleibt es nicht, denn Frankreich und Italien besitzen ja ebenfalls Produkte und Branchen, in denen ihre Unternehmen führend sind. So beliefert vielleicht ein italienischer Hersteller einen großen Teil der europäischen Autoindustrie mit bestimmten teuren Speziallacken. Wenn hohe Zölle eingeführt werden, ist eine solche Spezialisierung nicht mehr möglich und der Hersteller verliert einen großen Teil seines Umsatzes. Am Ende werden alle beteiligten Länder ärmer, weil sie die Vorteile der Spezialisierung und Massenproduktion nicht mehr im gleichen Umfang wie zuvor nutzen können.
Farbpigmente für bestimmte Autolacke werden weltweit nur von einer einzigen japanischen Firma hergestellt. Als diese Firma 2011 wegen der dortigen Erdbeben- und Atomkatastrophe nicht mehr produzieren konnte, spürten Autobauer weltweit den Engpass. Das zeigt das Ausmaß der Spezialisierung, das die globalisierte Warenwirtschaft ermöglicht.
Handelsbeschränkungen vermindern also die Möglichkeiten für die Nutzung von Größenvorteilen und Spezialisierung. Sie untergraben damit die Grundlage für den Wohlstand der Industrieländer und machen sie dadurch letztlich alle ärmer.
Unbeschränkter Handel über nationale Grenzen hinweg vergrößert die Absatzmärkte. Das erlaubt Unternehmen, sich zu spezialisieren und in Großserienproduktion zu niedrigen Kosten eine Vielzahl von Produktvarianten herzustellen, die dem Bedarf der Unternehmenskunden und den Wünschen der Konsumenten genau entsprechen.
Doch die Verheißung, dass Freihandel allen beteiligten Ländern nützt, gilt nicht für den Handel zwischen Ländern auf unterschiedlicher Entwicklungsstufe. Abgesehen von wenigen kleinen Ländern und Stadtstaaten wie Hongkong oder Singapur hat in den letzten 500 Jahren kein rückständiges Land den Weg aus der Unterentwicklung durch Freihandel mit fortgeschrittenen Ländern gefunden – im Gegenteil. England wurde zur wirtschaftlichen und militärischen Weltmacht, indem es den freien Handel außer Kraft setzte und erst einmal dafür sorgte, dass es selbst eine leistungsfähige Industrie aufbaute, bevor ausländische Konkurrenten es beliefern durften. Jean-Baptist Colbert (1619–1683) in Frankreich und Alexander Hamilton (ca. 1757–1804) in den USA imitierten die britische Strategie. Japan und Korea wurden zwar durch Exporte groß, aber nicht durch staatlich unbeeinflussten Handel. China, das sich derzeit anschickt, zu den Industrieländern aufzuschließen, hat seine Lektion ebenfalls gelernt. Das Land trat der Welthandelsorganisation erst bei, als es auf vielen Auslandsmärkten bereits eine sehr starke Stellung erobert hatte.
Ein etwas genauerer Blick darauf, wie die führenden Wirtschaftsmächte der letzten Jahrhunderte – Großbritannien und die USA – sich entwickelten, zeigt, dass Freihandel nicht den Weg aus der Unterentwicklung weist. Nicht von ungefähr verbreiteten die britischen Ökonomen die Freihandelslehre erst im 18. Jhd., als England bereits einen großen Vorsprung bei der Industrialisierung erreicht hatte und die führende Exportnation war.
Gegen Ende des 15. Jhd. verfolgte König Henry VII. (1457–1509) in England eine Politik der Industrialisierung, die darauf abzielte, die Abhängigkeit von Landwirtschaft und Wollexporten abzubauen. Der König verhängte Ausfuhrzölle auf Wolle und förderte den Aufbau einer Textilproduktion mit befristeten Subventionen und staatlich gewährten Monopolen für die Unternehmer. Als England eine hinreichend große eigene Textilproduktion aufgebaut hatte, um alle inländische Wolle zu verarbeiten, erließ die Krone sogar ein rigides Ausfuhrverbot für Wolle. Weil Großbritannien der größte Wollproduzent war, brachten die Ausfuhrzölle und das spätere Ausfuhrverbot für Wolle den bis dahin führenden Anbietern aus Holland und Italien einen Kostennachteil. Für sie wurde Wolle teurer und knapp, während die britische Textilindustrie auf billige heimische Wolle zugreifen konnte und florierte.
England nutzte seine zunehmende wirtschaftliche und militärische Macht auf vielfältige Weise, um seine Vormachtstellung im internationalen Handel auszubauen. Hier ein paar Beispiele (nach E. Reinert 2007 und S. Reinert 2011):
Im Jahr 1673 erließ König Charles II. eine Verordnung, die das Tragen von Seide bei Hofe verbot, und ließ ausländische Textilien beschlagnahmen. Der Erlass traf Florenz, die Hochburg der Seidenindustrie, ins Mark.
Das englische Parlament beschloss 1699 ein Gesetz, das den Textilexport aus der Kolonie Irland verbot und das Land damit zur Armut verurteilte. Die Queen entschuldigte sich 2011 bei den Iren für diese Politik.
Das verarmte Königreich Neapel führte 1823 Schutzzölle ein. Es entwickelte sich eine erfolgreiche Schiffsbauindustrie. Großbritannien verhängte Strafzölle und schickte, als das nicht half, Kanonenbote. Neapel musste seine Zölle abschaffen und sich weiter damit zufrieden geben, Großbritannien billige Rohstoffe zu liefern.
Im Gefolge seiner zunehmenden wirtschaftlichen Macht stieg England auch zur führenden Militärmacht auf. Diese Macht nutzte das Land bei Bedarf, um andere Länder zu zwingen, Rohstoffe zu liefern und Fertigprodukte aus England zollfrei abzunehmen. Ein beliebtes Lehrbuchbeispiel für die Vorteile des internationalen Handels, das auf den klassischen britischen Ökonomen David Ricardo (1772–1823) zurückgeht, behandelt den Austausch von englischem Tuch gegen portugiesischen Wein, ein Geschäft, das angeblich für beide Länder vorteilhaft sei. Weder Ricardo noch die Lehrbücher erwähnen, dass 1703 die übermächtige britische Flotte vor Lissabon geankert hatte, um sicherzustellen, dass die Portugiesen den sog. Methuen-Vertrag unterschrieben. Dieser schrieb fest, dass Portugal dauerhaft britisches Tuch zollfrei ins Land ließ. Im Gegenzug erlaubte England den zollfreien Export portugiesischer Weine und verzichtete darauf, Portugal seine brasilianischen Kolonien wegzunehmen. Offensichtlich musste Portugal durch Demonstration militärischer Macht von den Vorteilen des Freihandels überzeugt werden. Kein Wunder, denn wie die Briten wussten auch die Portugiesen, dass man mit Textilien viel mehr verdienen konnte als mit dem Anbau von Trauben.
Deutschland blieb in Bezug auf Industrialisierung zunächst weit hinter Ländern wie England und Holland zurück. Schuld daran war v. a. seine Zersplitterung. Sie ging auf den Westfälischen Frieden von 1648 zurück, der den Dreißigjährigen Krieg beendete und mehr als 300 Fürstentümer auf deutschem Gebiet anerkannte. Diese Klein- und Kleinststaaten erhoben ihre eigenen Zölle, sodass der Industrie in den deutschsprachigen Gebieten, anders als etwa der britischen, kein großer heimischer Absatzmarkt zur Verfügung stand. Der deutsche Ökonom, Unternehmer und Diplomat Friedrich List (1789–1846) hatte beträchtlichen Anteil daran, dass Deutschland seinen Rückstand aufholte. Er war einerseits Freihändler, denn er trat entschieden dafür ein, die Zollschranken innerhalb Deutschlands einzureißen, damit die Industrie die Vorteile der Massenproduktion nutzen konnte. List hatte großen Anteil an der Gründung des Süddeutschen Zollvereins im Jahre 1828, der die Zölle zwischen Bayern und Württemberg abschaffte und 1834 in den deutschen Zollverein mündete. Außerdem trat List nachdrücklich und erfolgreich für den Bau von Eisenbahnen ein, die die überregionale Beschaffung von Rohstoffen für die Industrie und den überregionalen Absatz der Industriegüter erst richtig in Gang brachten.
Im Jahr 1819 gründete List in Frankfurt mit örtlichen Kaufleuten den Allgemeinen Deutschen Handels- und Gewerbeverein, der sich für den Abbau der innerdeutschen Zollgrenzen einsetzte und dafür eine große Petition initiierte. Die Bundesversammlung erkannte den gesamtdeutschen Verein, den ersten deutschen Unternehmerverband der Neuzeit, nicht an und verwies die Unterzeichner der Petition an die Regenten der deutschen Einzelstaaten, die sich jedoch die Einmischung von außen verbaten. List fiel bei der Obrigkeit in Ungnade.
Gleichzeitig war List nach außen hin Protektionist. Deutschland sollte seine junge und noch wenig entwickelte Industrie durch Einfuhrzölle gegen die übermächtige englische Konkurrenz schützen. Das bedeutete zwar, dass die deutschen Abnehmer zunächst mehr für Industriegüter bezahlen mussten, als wenn man die englischen Waren zollfrei ins Land gelassen hätte. Da der deutschen Industrie ermöglicht wurde, im Inland mehr abzusetzen, konnte sie aber schließlich die Kostenvorteile der Massenproduktion nutzen und konkurrenzfähig werden.
Freier Handel zwischen gleich weit (oder wenig) entwickelten Ländern nützt allen Beteiligten, denn er vergrößert die Märkte und schafft so Möglichkeiten zur Arbeitsteilung und Massenproduktion. Freier Handel zwischen unterschiedlich entwickelten Ländern nützt v. a. den entwickelten Ländern und schadet oft den weniger entwickelten. Branchen mit hoher Wertschöpfung können sich dort in Konkurrenz mit Produkten aus den Industrieländern kaum entwickeln und behaupten.
List hatte seine Ideen v. a. in den USA entwickelt, wohin er sich zwischenzeitlich ins Exil geflüchtet hatte, weil er bei den Herrschern in Ungnade gefallen war. Die junge Nation, die sich gerade die Unabhängigkeit von der Kolonialmacht England erkämpft hatte, arbeitete am Aufbau einer eigenen Industrie. Das hatten die Briten vorher zu verhindern gesucht.
Der erste Finanzminister, Alexander Hamilton, beschrieb 1791 die Industrialisierungsstrategie, die die Wirtschaftspolitik der USA bestimmen sollte. Kern waren Zölle auf Importe, die einerseits Einnahmen für den Ausbau von Straßen und Kanälen hervorbringen, andererseits die Wettbewerbsposition der heimischen Industrie verbessern sollten. Junge Industrien sollten so lange Subventionen bekommen, bis sie wettbewerbsfähig waren. Infrastrukturausbau war wichtig, weil die Strategie großes Gewicht auf den internen Handel als Alternative zum für die USA wenig vorteilhaften Überseehandel legte.
Der Wirtschaftskrieg zwischen Großbritannien und dem napoleonischen Europa führte zu Handelsunterbrechungen auch für neutrale Länder wie die USA und schließlich zum britisch-amerikanischen Krieg von 1812. Der internationale Handel kam praktisch zum Erliegen.
1804, als Baumwollspinnereien in England schon lange boomten, gab es Taussig (1910/1892) zufolge nur vier Baumwollfabriken in den USA. Die meisten Versuche, eine Textilindustrie zu etablieren, waren gescheitert. Wenige Jahre später, als die Importe aus England kriegsbedingt versiegt waren, zählte das Land Hunderte von Baumwollfabriken.
Das gab den Wirtschaftszweigen, deren Produkte vorher importiert worden waren, enormen Auftrieb. Fabriken für Wollwaren und Textilien, Glas, Töpferwaren und andere Güter schossen wie Pilze aus dem Boden. Erst dadurch entstand eine Klasse von Industriellen und Handwerkern, deren Wohl davon abhing, dass sie weiterhin gegen billigere Importe geschützt wurden. Nach dem Krieg wurden daher hohe Zölle von durchschnittlich rund 20 % beibehalten. Für besonders wichtige Wirtschaftszweige, wie die Textil- und Eisenindustrie galten vorübergehend noch höhere Einfuhrzölle. In den nächsten gut 20 Jahren wurden Taussig (1910/1892) zufolge die Einfuhrzölle für Industriegüter laufend erhöht.
Heute sind die Industrieländer die treibende Kraft der Globalisierung. Sie drängen auf Zollsenkungen, offenen Marktzugang und Freihandelsvereinbarungen. Ihre Unternehmen verlagern einfache Produktionstätigkeiten massenhaft in Länder, in denen die Lohnkosten viel geringer sind. Das lässt vermuten, dass die Industrieländer von der Globalisierung profitieren. Doch die Wirklichkeit ist vielschichtiger: Viele Menschen in den Industrieländern profitieren, manche verlieren. Verlierer sind v. a. gering qualifizierte Arbeiter in der Industrie. Sie sind am stärksten der Konkurrenz von Produktion in Billiglohnländern ausgesetzt, sei es, weil ihre Unternehmen betriebliche Teilbereiche dorthin verlagern oder weil die Unternehmen durch Importe aus Billiglohnländern unter Druck kommen. In beiden Fällen schrumpfen die Belegschaften, weil die am wenigsten produktiven Unternehmen schließen oder Leute entlassen müssen, für die sie nicht mehr genug Arbeit haben. Diese Leute müssen sich daraufhin entweder in einem anderen Beruf in der Industrie einen Job suchen oder die Industrie ganz verlassen und in den Dienstleistungsbereich wechseln. Dabei erleiden sie meist beträchtliche Lohneinbußen.
Um ihre erfolgreiche Strategie der Industrialisierung umsetzen zu können, die gegen das Interesse der englischen Kolonialmacht gerichtet war, mussten die USA erst einen Unabhängigkeitskrieg gewinnen. Als die meisten Kolonien in Afrika und Asien unabhängig wurden und diese Möglichkeit zumindest im Prinzip erhielten, schrieben wir, wie die nachfolgende Tabelle zeigt, schon das 20. Jhd., und das Entwicklungsgefälle war zu dieser Zeit bereits riesig.
Kolonie | unabhängig im Jahr | Kolonialmacht |
---|---|---|
Äquatorialguinea, Westsahara | 1975 | Spanien |
Angola, Mozambique | 1975 | Portugal |
Kenia | 1963 | Großbritannien |
Algerien | 1962 | Frankreich |
Belgisch Kongo | 1960 | Belgien |
Somalia | 1960 | Italien |
Nigeria | 1960 | Großbritannien |
Vietnam, Laos, Kambodscha |
1954 | Frankreich |
Zeitpunkte der Unabhängigkeit von Kolonien (Beispiele)
Vergleichsweise gut standen die in gemäßigten Klimaregionen gelegenen Kolonien da, denn sie boten Siedlern aus den Kolonialmächten einigermaßen gute Lebensbedingungen. Und dort, wo ihre eigenen Landsleute in größerer Zahl lebten, hatten die Kolonialmächte ein gewisses Interesse daran gehabt, eine funktionierende Wirtschaft und Verwaltung zu etablieren. Wo dies nicht der Fall war, war es den Kolonialmächten v. a. darum gegangen, möglichst viele natürliche Ressourcen aus den Kolonien herauszuziehen. Dazu zählten sie zynischerweise auch Menschen, die als Sklaven verschifft wurden. Die Verwaltung wurde allein auf Ausbeutung ausgerichtet, wirtschaftliche Entwicklung war nicht vorgesehen.
Bei dieser Ausgangslage verwundert es kaum, dass es so viele arme Länder auf der Welt gibt, die es nicht geschafft haben, eine international konkurrenzfähige Industrie aufzubauen. Bei allem, was sie hätten anfangen können, mussten sie fast bei null beginnen, und in allen Belangen waren die Unternehmen in den Industrieländern erheblich besser. Ohne nennenswerte Industrie sind die Menschen dort auf Beschäftigung in der Land- und Rohstoffwirtschaft, im Tourismus, in anderen Dienstleistungen und im Kleinsthandwerk angewiesen. Die Vorteile der Massenproduktion fehlen teilweise oder vollständig. Der Wettbewerb ist hart, die Preise entsprechend niedrig. Entsprechend gering sind auch die erzielbaren Löhne.
Zu den wenigen Erfolgsgeschichten gehören China und Indien, die seit dem ausgehenden 20. Jhd. durchgängig hohe Einkommenssteigerungen erreicht haben, wenn auch von extrem niedrigen Niveaus aus. Diese Länder besitzen wegen ihrer Milliardenbevölkerungen einen riesigen einheimischen Markt, wodurch ihre von ausländischer Konkurrenz geschützten Unternehmen die Vorteile der Massenproduktion nutzen konnten. Vor allem China hat es zu großer Meisterschaft darin gebracht, sich von ausländischen Anbietern den Zugang zum großen chinesischen Markt durch die Abgabe von technischem Know-how bezahlen zu lassen. Auch hat die Regierung meist darauf bestanden, dass Industrieprodukte, die ausländische Firmen in China verkaufen dürfen, in gemeinsamen Werken mit chinesischen Partnern im Inland gefertigt werden. Dadurch drang China schnell in immer anspruchsvollere Produktionszweige vor. So stellte das Land 2011 in Paris das erste selbst entwickelte Linienflugzeug vor.
Weniger bevölkerungsreiche Länder, wie die in Afrika oder Lateinamerika, wären darauf angewiesen, dem Beispiel der Europäischen Union oder der damaligen deutschen Kleinstaaten und Fürstentümer zu folgen und durch Zollunionen untereinander größere Märkte zu schaffen, auf denen ihre Industrie sich entwickeln könnte – nach dem Prinzip von Friedrich List: freier Handel von Ländern auf einer ähnlichen industriellen Entwicklungsstufe, Schutz vor Konkurrenz aus fortgeschritteneren Staaten. Die Bemühungen zur Schaffung regionaler Freihandelszonen des Südens sind jedoch meist nicht besonders weit gediehen. Dazu hat beigetragen, dass die USA und Europa im eigenen Interesse solche Initiativen erschweren, indem sie bevorzugt bilaterale Freihandelsabkommen mit einzelnen Entwicklungsländern abschließen. Ein einzelnes Land bekommt dabei mit seinen Agrarprodukten oder Rohstoffen zollfreien Zugang zum großen Markt der USA oder der EU und lässt dafür im Gegenzug Industriewaren von dort zollfrei oder zu geringeren Zöllen ins Land. Wer ein solches Abkommen abschließt, kann nicht gleichzeitig Mitglied einer regionalen Freihandelszone sein, die an ihren Außengrenzen Zölle auf Importwaren erhebt.
Afrika ist reich an Rohstoffen. Eine erfolgversprechende Methode, verarbeitendes Gewerbe zu etablieren, bestünde darin, dafür zu sorgen, dass diese Rohstoffe im Land verarbeitet und erst dann exportiert werden. So machte es England mit seiner Wolle und schuf so die Basis für den späteren Wohlstand des Landes. Doch derartige Maßnahmen, die einheimische Abnehmer von Rohstoffen gegenüber ausländischen bevorzugen, widersprechen den Regeln der Welthandelsorganisation und der meisten bilateralen Handelsabkommen.
Im Juli 2011 verurteilte ein Schiedsgericht der Welthandelsorganisation (WTO) China wegen Beschränkungen der Ausfuhr von seltenen Erden. Diese Rohstoffe, von denen China weltweit die größten Vorkommen hat, sind wichtige Bestandteile vieler elektrischer und elektronischer Geräte, wie z. B. Generatoren, Hybridmotoren und LCD-Bildschirme.
Wenn die afrikanischen Länder eine Industrie aufbauen und so der bitteren Armut entfliehen wollen, müssen sie anders vorgehen. Seit der chinesische Ökonom Justin Yifu Lin 2008 Chefvolkswirt der Weltbank wurde, wird dort ernsthaft an der Entwicklung von Industrialisierungsstrategien für arme Länder gearbeitet. Dieser Ansatz war bei Ökonomen gänzlich aus der Mode gekommen, nachdem viele Industrialisierungsversuche in den 1960/70er-Jahren kläglich gescheitert waren, etwa der Versuch, eine Automobilindustrie in Zaire aufzubauen. Doch der Fehler war damals nicht, dass der Staat versuchte, Industrien zu fördern und anzusiedeln, so Lin (2011). Er bestand vielmehr darin, dass die Länder sich gleich die fortgeschrittensten Industrien vornahmen und damit in Konkurrenz zu den reichsten Ländern der Welt traten, die eine ganz andere Wirtschaftsstruktur aufwiesen. In dieser Konkurrenz konnten sie nicht bestehen. Stattdessen sollten die armen Länder Industrien ausfindig machen, ansiedeln und fördern, die sich in ähnlichen, aber etwas weiter fortgeschrittenen Ländern längere Zeit gut entwickelt haben.
Man könnte meinen, diese Industrien würden sich von selbst ansiedeln, wenn dies erfolgversprechend wäre. Aber das ist nicht der Fall. Wenn es noch keine nennenswerte Industrie gibt, fehlen den Ersten, die sich an ihrem Aufbau versuchen, fast alle notwendigen Grundlagen. Es gibt keine qualifizierten Arbeitskräfte, keine Zulieferer, keine guten Straßen, keine sichere Energieversorgung sowie keine öffentliche Verwaltung, die auf die Bedürfnisse von Industriebetrieben eingestellt ist. Zu Anfang ist deshalb staatliche Unterstützung bitter nötig.
Afrika und andere unterentwickelte Regionen sind nicht zur Armut verdammt. Durch gezielte Förderung von Industrien, die für ihren Entwicklungsstand geeignet sind, und durch regionale Zusammenarbeit kann ihnen die Industrialisierung gelingen.
Entwicklungshilfe und karitative Hilfe, so sehr sie die Not Einzelner lindern können, sind aus guten Gründen nicht Teil dieser Strategie. Karitative Hilfe bewirkt letztlich nichts, wenn eine Nation mangels Industrie und zugehörigem unternehmensnahem Dienstleistungsbereich seine Bevölkerung nicht nachhaltig ernähren kann. Die Industrialisierung eines Landes aber kann von außen nicht geleistet werden, und die Entwicklungshilfe-Geber haben auch kein Interesse daran – im Gegenteil. Sehr oft wird Entwicklungshilfe zur Exportförderung missbraucht. Geld fließt dann nur, wenn die für die Projekte nötigen Anlagen aus den Geberländern importiert werden.
Auf einen Blick: Weltwirtschaft |
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