Niemand bestreitet heute mehr, dass der Euroraum sich in einer schweren Krise befindet. Aber nur wenige verstehen wirklich, was sie herbeigeführt hat. Welche Rolle spielen Währungen und Devisenreserven im weltweiten Finanzsystem? Und wie können die nationalen Notenbanken und die Europäische Zentralbank schwerwiegende Finanzkrisen abmildern oder gar verhindern?
In diesem Kapitel erfahren Sie,
warum der Status einer Welt-Reservewährung ein außerordentlich wertvolles Privileg ist,
ob der Dollar Reservewährung bleiben wird,
welche Ursachen tatsächlich für die Krise der Europäischen Währungsunion verantwortlich sind.
Die Zentralbanken weltweit halten Währungsreserven von etwas mehr als 10.000 Mrd. Dollar. Die weitaus meisten dieser Devisen liegen in Asien. Sie werden, soweit bekannt, zu rund zwei Dritteln in Dollar gehalten. (China, der weltgrößte Halter, lässt sich bei der Zusammensetzung seiner Devisenreserven nicht in die Karten blicken.)
Währungsreserven oder Devisenreserven sind ausländische Währungen, die von der Währungsbehörde eines Landes, normalerweise der Zentralbank, gehalten werden. Sie werden überwiegend in kurz laufenden Anleihen der US-Regierung (Dollar-Reserven) oder von Ländern des Euroraums (Euro-Reserven), Japans (Yen), Großbritanniens (Pfund) und der Schweiz (Franken) angelegt. In einer weiteren Abgrenzung wird auch Gold zu den Währungsreserven gezählt.
Die Währungsreserven der meisten westlichen Staaten stammen aus Zeiten, als noch feste Wechselkurse zwischen allen wichtigen Weltwährungen bestanden. Denn damals mussten die Währungsbehörden derjenigen Länder, die mehr exportierten als importierten, die überschüssigen Währungsbeträge vom Markt nehmen, damit der Wechselkurs ihrer Währungen stabil blieb. Länder, die ihren Wechselkurs frei schwanken lassen, sammeln heute i. d. R. keine neuen Währungsreserven mehr an. Hingegen nehmen in Ländern wie China, die viel mehr exportieren als importieren und eine übermäßige Aufwertung ihrer Währung verhindern wollen, die Devisenreserven stark zu. Wie die folgende Tabelle zeigt, konzentrieren sich die Währungsreserven stark bei den aufstrebenden, exportorientierten Ländern Asiens und bei den Rohstoffexporteuren. In Asien liegen rund 60 Prozent der weltweiten Devisenreserven.
Land |
Währungsreserven (ohne Gold), Stand Oktober 2011 |
---|---|
China | 3.201 Mrd. $ |
Japan | 1.122 Mrd. $ |
Saudi-Arabien | 502 Mrd. $ |
Russland | 484 Mrd. $ |
Taiwan | 390 Mrd. $ |
Brasilien | 350 Mrd. $ |
Südkorea | 303 Mrd. $ |
Indien | 281 Mrd. $ |
Hongkong | 277 Mrd. $ |
Schweiz | 234 Mrd. $ |
weltweit | 10.222 Mrd. $ |
Die größten Halter von Währungsreserven
Bis Ende des 20. Jhd. hatten die meisten asiatischen Schwellenländer flexible Währungen, geringe Währungsreserven und oft hohe Defizite im Außenhandel. Dann kam die Asienkrise. Das zumeist sehr kurzfristig angelegte ausländische Geld floss sehr schnell ab. Es kam zu einer schweren Wirtschaftskrise, weil die Länder plötzlich keinen Kredit mehr hatten und nur noch so viel verbrauchen konnten, wie sie auch selbst produzierten, was viel weniger war als vorher. Länder wie Thailand und Indonesien wurden zu Bittstellern beim Internationalen Währungsfonds (IWF) und mussten die harten Sparauflagen des Fonds akzeptieren, die ihre Wirtschaftskrise noch verschlimmerten und ihnen soziale Unruhen bescherten.
Aus dieser Erfahrung schlossen die Asiaten, dass es viel besser sei, Gläubiger zu sein als Schuldner. Seither achten sie darauf, dass ihre Währungen nicht zu stark werden, sodass ihre Exporte billig bleiben und sie mehr exportieren können als importieren. Durch Eingriffe am Devisenmarkt häufen sie massiv Devisenreserven an. Seit 2003 haben sich so die Weltdevisenreserven von damals ca. 2.300 Mrd. Dollar mehr als vervierfacht.
Eine ökonomische Lehrbuchweisheit besagt, dass es sinnvoll ist, wenn Kapital von den entwickelten Ländern, wo es reichlich vorhanden ist, in die weniger entwickelten Länder fließt, wo es dringender gebraucht wird, weil dort noch viel investiert werden muss. Doch die Schwellenländer haben diese Regel aufgrund ihrer sehr schlechten Erfahrungen mit der Flüchtigkeit von Finanzkapital in ihr Gegenteil verkehrt. Heute geben die ärmeren Länder den reicheren in riesigem Umfang Kredit, indem sie deren Währungen kaufen und in Staatsanleihen anlegen. V. a. China ist durch seine hohen Währungsreserven sehr mächtig geworden. Die USA sind existenziell darauf angewiesen, dass China seine Exporteinnahmen in Dollar anlegt, indem es US-Staatsanleihen kauft. Nach der amerikanischen Notenbank ist China der zweitgrößte Halter von US-Staatsanleihen. Wenn China seine Staatsanleihen auf einmal auf den Markt werfen würde, würden deren Kurse einbrechen; die Renditen, die sich immer umgekehrt zu den Zinsen bewegen, würden nach oben schießen. Stark steigende Zinsen wären fatal für den hoch verschuldeten amerikanischen Staat und für die amerikanische Wirtschaft. Außerdem würde der Dollarkurs wegen des Überangebots einbrechen. Das würde zwar den Wert der chinesischen Dollar-Reserven senken, aber der chinesischen Wirtschaft zunächst wenig zusetzen.
Im September 2011 bot China den Europäern an, mit seinen Reserven Staatsanleihen der Krisenländer zu kaufen, im Austausch gegen Zugeständnisse im internationalen Handel. Man erkennt: Geld ist Macht, auch – oder gerade – in den internationalen Beziehungen.
Die USA sind darauf angewiesen, dass China und andere Halter großer Devisenreserven diese weiterhin zu einem hohen Anteil in Dollar halten. Andernfalls hätten die USA große Schwierigkeiten, genügend Käufer für ihre Staatsanleihen zu finden. Die Zinsen, die sie bieten müssten, würden in die Höhe schießen.
Vertreter der Europäischen Zentralbank werden nicht müde zu betonen, dass sie die Rolle des Euro als Reservewährung nicht aktiv fördern. Wäre es anders, würde das in den USA fast wie eine Kriegserklärung aufgefasst. Denn wer will schon das Recht mit anderen teilen oder gar ganz abgeben, sich kostenlos sehr viel Geld in eigener Währung leihen zu können.
Dennoch ist der Anteil des Dollar an den Währungsreserven anderer Länder seit der Gründung der Europäischen Währungsunion langsam, aber beständig gefallen. Im Jahr 2001 waren noch 71,5 % der weltweiten Devisenreserven in US-Dollar angelegt. Ende 2010 waren es nur noch 61,4 %. Die Summe dieser Devisenreserven stieg in dieser Zeit allerdings dramatisch an, weshalb der Kapitalzustrom in die USA nicht nachließ. Der Anteil des Euro an den Devisenreserven stieg im gleichen Zeitraum von 19,2 % auf 26,3 %.
Der Vorteil, den das Land mit der Weltreservewährung genießt, ist enorm. Der französische Finanzminister Valery Giscard d’Estaing nannte ihn 1960 ein „exorbitantes Privileg“, nicht ohne Empörung, weil die US-Regierung seiner Meinung nach dieses Privileg bei Bedarf wirtschaftspolitisch ausnutzte, auch zum Schaden anderer Länder. „Der Dollar ist unsere Währung, aber Euer Problem“ lautet ein berühmter Ausspruch von John Conally, US-Finanzminister unter Richard Nixon.
Wenn ein Land ohne Reservewährung auf Dauer mehr importiert, als es exportiert, so sammelt es Schulden im Ausland in ausländischen Währungen an. Wenn der Schuldenberg zu hoch wird, werden die Kreditgeber misstrauisch, die Zinsen steigen, das Land muss sparen, oder es kommt irgendwann zu einer Finanz- und Wirtschaftskrise, wie z. B. in den asiatischen Schwellenländern (1997/98), Russland (1998) oder Griechenland, Portugal und Spanien (seit 2009). Die drei letztgenannten Länder bilden einen Sonderfall, denn sie haben sich in eigener Währung, dem Euro, bei den Partnerländern der Währungsunion verschuldet; dennoch sind diese Verbindlichkeiten aus ihrer Sicht vergleichbar mit Fremdwährungsschulden, weil sie Euros nicht selbst vermehren können.
Wenn dagegen die USA eine hohe Auslandsschuld anhäufen, wie seit den 1970er-Jahren geschehen, bekommen sie kein solches Problem. Wenn nötig, druckt die Zentralbank neue Dollars, um den Schuldendienst zu leisten. Das drückt den Wechselkurs des Dollar, sodass die Kreditgeber in eigener Währung weniger zurückerhalten, als sie gegeben haben. Die Auslandsschuld, die im Fall der USA fast ganz auf Dollar lautet, wird entwertet. Doch für die Amerikaner ist ein Dollar immer einen Dollar wert. Außerdem werden US-Waren preislich wettbewerbsfähiger, wenn der Dollar-Wechselkurs sinkt, sodass die Exporte steigen und die Importe sinken, was den Schuldendienst ebenfalls erleichtert.
China und andere Länder mit hohen Devisenreserven haben ein Interesse an einer funktionierenden Europäischen Währungsunion, weil ihnen ohne den Euro fast keine Alternative als der Dollar bliebe, um ihre Exporterlöse anzulegen. Diesen Ländern ist die Niedrigzinspolitik der USA, die zu einer laufenden Abwertung des Dollar führt, ein Dorn im Auge. Denn sie bekommen dadurch nicht nur sehr wenig Zinsen für ihr in Dollar angelegtes Geld, sondern müssen darüber hinaus noch mit Abwertungsverlusten rechnen. So lag von 2009 bis 2011 die Rendite von US-Staatsanleihen mit kurzer Laufzeit bei nahe null. In den zehn Jahren von September 2001 bis September 2011 hat der Dollar, gemessen an einem gewichteten Durchschnitt der Währungen der 26 wichtigsten Handelspartner der USA, fast ein Viertel an Wert verloren. Nicht nur bekam man in dieser Zeit sehr niedrige Zinsen, wenn man sein Geld dem amerikanischen Staat lieh, sondern man musste zudem noch jedes Jahr einen Wertverlust von 2,3 % in Kauf nehmen. Das schafft einiges an Unzufriedenheit.
Nigerias Zentralbankpräsident Lamido Snusi rief 2011 den chinesischen Yuan zur Reservewährung aus. „Der Yuan wird bereits in den Straßen Nigerias gehandelt“, sagte Sanusi nach einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters vom 6.9.11. China habe der nigerianischen Regierung erlaubt, Yuan für den Kauf von Anleihen in Hongkong und Shanghai zu verwenden. Das Land wolle ein Drittel seiner Devisenreserven von 33 Mrd. $ in Yuan umschichten. China erwäge, Ölimporte aus Nigeria künftig in Yuan statt in Dollar zu bezahlen.
Währungen kleiner Länder wie der Schweiz sind als Alternative kaum geeignet, weil ihre Devisenmärkte zu klein sind. Es gibt einfach nicht genug Franken, als dass große Länder einen nennenswerten Anteil ihrer Reserven darin anlegen könnten.
Im Sommer 2011 kaufte alle Welt Gold und Franken, weil man weder dem Dollar noch dem Euro traute. Der Goldpreis stieg zweitweise auf ein Rekordhoch über 1.900 Dollar. Der Franken schoss nach oben, bis er fast 1:1 mit dem Euro stand. Weil das der Schweizer Wirtschaft sehr schadete, indem es Schweizer Exporte und Urlaub in der Schweiz extrem teuer machte, erklärte die Schweizerische Nationalbank, sie werde so viel Franken drucken und damit Euro kaufen wie nötig, um den Euro bei mindestens 1,20 Franken zu halten. Mit Erfolg.
Auch wenn viele Länder mit dem Dollar als Anlagemedium unzufrieden sind: Eine Reservewährung wird nicht so leicht abgelöst. Diejenige Währung, die den Status innehat, genießt einen riesigen Konkurrenzvorteil. Das Vorhaben, sie abzulösen, ist vergleichbar mit dem Versuch, Microsoft Word den Rang des führenden Textverarbeitungsprogramms streitig zu machen. Fast alle Nutzer sind an dieses Programm gewöhnt und verlassen sich darauf, dass sie mit anderen problemlos Dokumente austauschen können. Bei einem neuen Programm, auch wenn es besser sein sollte, ist das nicht der Fall. Ähnlich verhält es sich mit der führenden Reservewährung. Alle können sich darauf verlassen, dass ihre Dollar akzeptiert werden und dass sie auch große Mengen von Dollar-Wertpapieren jederzeit verkaufen können.
Es ist sehr schwer, beispielsweise bei der Abrechnung von Öllieferungen von Dollar auf Euro umzusteigen, wenn der Weltmarktpreis in Dollar ermittelt wird. Wenn sich der Wechselkurs von Euro zu Dollar so entwickelt, dass Öl in Euro berechnet billiger würde als in Dollar, fühlt sich der Verkäufer benachteiligt und der Käufer in Euro erhält einen Anreiz, viel Öl billig in Euro zu kaufen und teuer in Dollar weiterzuverkaufen. Nicht nur bei Öl, sondern bei den allermeisten international an Börsen gehandelten Waren wird der Weltmarktpreis in Dollar ausgedrückt.
Aus solchen Gründen war unter Finanzexperten (zumindest bis 2011) die Einstellung verbreitet, dass der Dollar zwar langfristig seinen Status als Reservewährung an stabilere Währungen wie den Euro oder den chinesischen Yuan abgeben, dies aber noch mindestens zehn bis 15 Jahre dauern werde.
Im Jahr 2009 erhielt die weltweite Finanzkrise noch einen Ableger, die europäische Staatsschuldenkrise. Plötzlich fiel es dem griechischen Staat schwer, zu erträglichen Zinsen Käufer für seine Anleihen zu finden. Der griechische Staat hatte seit Längerem jedes Jahr ein hohes Defizit ausgewiesen und auf diese Weise bis 2008 eine Staatsschuld von 110 % des Bruttoinlandsprodukts angehäuft.
Ein klar erkennbarer Anlass, warum die Märkte plötzlich unerträglich fanden, was sie bis dahin kaum bemerkt hatten, fehlte. Manche meinen, es könnte eine koordinierte Attacke auf den Euro gegeben haben. Die Grundversion dieser Theorie besagt, dass sich einige Hedge-Fonds zusammentaten, um auf einen fallenden Euro zu wetten und dieses Ergebnis anschließend selbst herbeizuführen. In einer noch weitergehenden Variante lautet sie, dass Washington, also Notenbank oder Regierung der USA, selbst eine Rolle spielte. Eine vordergründige Plausibilität dafür besteht, weil vor Ausbruch der Euro-Krise der einträgliche Leitwährungsstatus des Dollar von China und anderen Ländern erstmals massiv in Frage gestellt wurde.
Patrick Artus, Chefvolkswirt der französischen Bank Natixis, gehört zu den wenigen, die kein Blatt vor den Mund nehmen. Er schreibt: „Die USA haben ein chronisches Defizit mit dem Rest der Welt, weil sie zu wenig sparen. Die heimische Nachfrage zu reduzieren ist inakzeptabel. Deshalb brauchen sie permanent Investoren, die bereit sind, US-Schuldtitel zu kaufen. Doch ausländische Investoren haben Zweifel an der wirtschaftlichen und finanziellen Situation der USA. Deshalb muss der Dollar unbedingt Weltreservewährung bleiben. Das gewährleistet, dass große Investoren und Zentralbanken im Ausland fast automatisch US-Anleihen kaufen. Es darf daher keinen Ersatz für den Dollar als Reservewährung geben. Der einzige Ersatz wäre derzeit der Euro. Das erklärt die Bemühungen der USA, den Euroraum zu destabilisieren.“ (Artus 2011)
Belege für diese Thesen gibt es nicht. Allerdings sollte man sich auch nicht dem naiven Glauben hingeben, dass an den Finanzmärkten der Welt immer oder auch nur meistens alles mit rechten Dingen zugeht. Wenn einer der ganz großen Spieler oder gar mehrere zusammen einen Wechselkurs oder den Kurs eines Wertpapiers in eine bestimmte Richtung manipulieren wollen, dann können sie das auch. Effektive Kontrollen gibt es kaum. So gilt als gesichert, dass sich große Finanzinstitute während der Asienkrise zusammentaten, um den Aktienmarkt in Hongkong zu drücken und die Anbindung des Hongkong-Dollar an den US-Dollar zu knacken. Um sich dagegen zu wehren, musste die Regierung Hongkongs massiv Aktien aufkaufen. Letztlich hatte sie Erfolg und konnte die erworbenen Aktien später mit großem Gewinn wieder verkaufen (siehe Yam 2000). Regionale Finanzmarktentwicklungen und Finanzkrisen sind geopolitisch viel zu wichtig, als dass man sich vormachen sollte, Möglichkeiten der Beeinflussung von außen blieben ungenutzt, noch dazu, wenn man viel Geld damit verdienen kann.
Im Sommer 2009 wurde Sergey Aleynikov, Programmierer bei Goldman Sachs, laut einem Bericht der Nachrichtenagentur Reuters vom 7. Juli verhaftet. Er wurde beschuldigt, das Handelsprogramm der Firma kopiert und auf einen Server in Deutschland geladen zu haben. Interessant daran ist, dass ein Staatsanwalt, der sich auf Informationen von Goldman Sachs stützte, davor warnte, dass diese Software benutzt werden könnte, „um Märkte auf unfaire Weise zu manipulieren“. Was Goldman Sachs wohl mit diesem Programm vorgehabt hatte?
Mit einiger Verzögerung sprangen die Probleme Griechenlands auf Irland über und nach weiteren Monaten auf Portugal, 2011 dann sogar auf Spanien und Italien. Ansteckungsgefahr ist ein Merkmal vieler Finanzmärkte, weil auf diesen Märkten Krisenfurcht allein schon Krisen auslösen kann, selbst wenn sie völlig unbegründet ist. So hätte Spanien seine Schulden mühelos bedienen können, wenn nicht die Investoren auf dem Markt für Staatsanleihen Angst vor einer Ansteckung bekommen hätten. Wenn die Griechen plötzlich viel höhere Zinsen zahlen müssen, um ihre Anleihen verkaufen zu können, dann vielleicht auch bald die Iren, hieß es in Finanzkreisen. Und wenn die Iren, dann vielleicht auch bald die Portugiesen. Und wenn die Portugiesen, dann vielleicht als Nächstes die Spanier. So lautete das Kalkül der Furcht und so kam es, allein weil die furchtsamen Investoren entsprechend handelten. Und weil der Schuldendienst viel schwerer ist, wenn man 6 % Zinsen zahlen muss, als wenn man 3 % zahlt, fand die gefürchtete Finanzkrise dadurch auch ihren Weg nach Spanien und etwas später sogar nach Italien.
In der deutschen Diskussion wird die Schuldenkrise häufig als ein Problem übermäßiger Staatsausgaben und einer Missachtung der Defizitregeln des Stabilitäts- und Wachstumspaktes dargestellt. Das greift viel zu kurz, wenn es auch das griechische Problem einigermaßen korrekt erfasst.
Irland, Portugal und Spanien hatten vor Ausbruch der Finanzkrise kein Problem mit ihren Staatsdefiziten und auch keine überhöhten Staatsschulden. Zum Teil wiesen ihre Staatshaushalte bis zum Krisenbeginn sogar jahrelang Überschüsse aus, sodass sie als finanzpolitische Musterschüler galten.
Die Länder am südlichen Rand der Währungsunion verbindet jedoch die Tatsache, dass sie allesamt deutlich mehr importierten als exportierten. (Irland bildet einen Sonderfall; hier erwächst das Problem daraus, dass manche der hiesigen Banken viel zu groß für das kleine Land waren.) Die Leistungsbilanzen dieser Länder wiesen seit Beginn der Währungsunion große Defizite auf, das heißt, es floss viel mehr Geld für Importe, Zinszahlungen und Ähnliches ins Ausland, als die Länder an Export- und Zinserträgen und Ähnlichem einnahmen. Sie erhielten in Höhe dieses Leistungsbilanzdefizits jedes Jahr einen großen Kredit aus dem Ausland.
Leistungsbilanzsaldo ist die Differenz zwischen dem Geldzufluss aus dem Ausland in Form von Entgelt für Exporte, Zinsen für Finanzanlagen im Ausland und Geschenken aus dem Ausland auf der einen Seite sowie dem Geldabfluss in Form von Entgelt für Importe, Zinsen für Anlagen von Ausländern im Inland und Geschenken ans Ausland auf der anderen Seite. (Einnahmen aus internationalem Tourismus gelten als Exporteinnahmen.) Wer ein Leistungsbilanzdefizit hat, baut eine Schuld gegenüber dem Ausland auf.
Anders als in Griechenland verschuldete sich in den übrigen Krisenländern nicht in erster Linie der Staat, wie die folgende Tabelle zeigt. In Irland waren es die Banken, in Spanien die Privatwirtschaft, v. a. der Immobiliensektor.
Land |
Haushaltssaldo (Summe)* 2003–2007 |
Staatsschuld* Ende 2007 |
Leistungs- bilanzsaldo* 2003–2007 |
---|---|---|---|
Deutschland | –13 | 65 | 26 |
Griechenland | –31 | 105 | –45 |
Portugal | –19 | 63 | –46 |
Spanien | 6 | 36 | –35 |
Irland | 4 | 25 | –13 |
* Werte in % des jährlichen BIP
Staatsschuld versus Auslandsschuld als Krisenauslöser
Kern des Problems waren also die Verschuldung im Ausland und die Tatsache, dass Kredite so leicht zu bekommen waren. Das war der Fall, weil mit dem Eintritt dieser Länder in die Europäische Währungsunion das Wechselkursrisiko entfiel. Bis dahin hatten die Südländer wegen ihrer chronisch höheren Inflationsrate beständig gegenüber der D-Mark abgewertet. Ausländische Kreditgeber hatten in ihrem Kalkül berücksichtigt, dass die Peseten oder Drachmen, die sie später zurückbekommen würden, in D-Mark oder Pfund gemessen weniger wert sein würden als zum Ausleihzeitpunkt. Sie verlangten deshalb deutlich höhere Zinsen. Als dieses Wechselkursrisiko entfiel, gingen auch die Zinsen, die man den betreffenden Schuldnerländern abverlangte, drastisch zurück, bis fast auf das deutsche Niveau. An das Risiko einer Überschuldung dachten die Banken und Investoren bis zum Eintritt der Finanzkrise nicht.
Durch den massiven Zinsrückgang hatten Haushalte, Unternehmen und Staat plötzlich viel mehr Geld zur freien Verfügung, das sie nicht mehr für den Schuldendienst verwenden mussten. Entsprechend gaben sie mehr für Konsumzwecke aus, die Nachfrage stieg und mit ihr auch Löhne und Preise. Bei den Zinsen kommt es v. a. auf die realen oder inflationsbereinigten Werte an. Wenn die Inflationsrate steigt, der Nominalzins aber gleich bleibt, dann sinkt der Realzins.
Der Zinsrückgang führte zu einem Boom, der sich selbst verstärkte. Und weil Wachstum Eindruck macht, v. a. auf die Finanzmärkte, floss Geld reichlich und billig in diese Länder und finanzierte den Boom.
Wirtschaftsboom durch sinkende Zinsen
Wie fast immer bei derartigen selbstverstärkenden Prozessen in der Wirtschaft kippte auch dieser irgendwann in sein Gegenteil um. Die beständig steigenden Löhne bewirkten nämlich, dass die Produktion in diesen Ländern immer teurer wurde. Im Inland produzierte Waren verloren preislich immer mehr ihre Wettbewerbsfähigkeit. Die Leistungsbilanzdefizite wurden immer größer. Wenn die Finanzkrise nicht ausgebrochen wäre, hätte sich dieser Prozess wahrscheinlich noch eine Zeitlang fortgesetzt. Aber irgendwann hätten die Finanzmärkte auch ohne Subprime-Krise bemerkt, welche Gefahr hier langfristig droht, und sie hätten den Kredithahn abgedreht.
Stattdessen aber sorgte nun die Finanzkrise dafür, dass sich die positive Rückkopplung in einen Teufelskreis umkehrte. Die Investoren wurden risikoscheu. Wer zu viele Schulden hatte – und die Länder am südlichen Rand des Euroraums gehörten dazu –, der bekam nur noch zu hohen Zinsen Kredit. Das verfügbare Einkommen sank, die Konjunktur brach ein. Haushalte und Unternehmen stellten fest, dass sie in dieser neuen, viel weniger dynamischen Wirtschaft viel zu hoch verschuldet waren. Folglich versuchten sie, ihre Schulden abzubauen. Damit die Rezession nicht in eine Depression abglitt, musste der Staat gegenhalten und höhere Defizite in Kauf nehmen. So verwandelte sich die allgemeine Schuldenkrise der peripheren Südländer und die Bankenkrise in Irland in eine Staatsschuldenkrise.
Ursache der Euro-Krise waren lang anhaltende hohe Defizite der südlichen Peripherieländer im Außenhandel. Als die Weltfinanzkrise die Konjunktur abwürgte und die Finanzierungskanäle verstopfte, kam es zu einer Staatsschuldenkrise, weil die meisten Schulden im Zuge der Krise beim Staat landeten.
Der Euro-Krise liegen Konstruktionsfehler zugrunde, die letztlich auf einem Interessenkonflikt zwischen Gläubigern und Schuldnern beruhen. Auf deutschen Druck hin wurden ausschließlich Regeln vereinbart, die übermäßige Staatsverschuldung verhindern sollten. Das entsprach dem deutschen Interesse als starke Exportnation. Denn Exportnationen, die mehr ans Ausland verkaufen als von dort einkaufen, sammeln Guthaben an. Die Handelspartner verschulden sich bei Deutschland. Ein Gläubiger hasst Inflation, denn diese entwertet sein Guthaben. Die Hauptsorge Deutschlands war daher, dass die anderen Länder sich übermäßig verschulden und dann die Europäische Zentralbank drängen könnten, mehr Geld zu drucken. Deshalb bestand es darauf, die Zentralbank von den Regierungen der Einzelstaaten unabhängig zu machen; zudem wurde ihr verboten, die Staatshaushalte direkt zu finanzieren. Das französische Ansinnen einer wirtschaftspolitischen Koordinierung wehrten die Deutschen ab. Es gab daher keine Regeln oder Mechanismen, die übermäßige Defizite oder Überschüsse im Außenhandel verhinderten.
Wenn die Ursache der Euro-Schuldenkrise in den hohen Leistungsbilanzdefiziten der Peripherieländer liegt, die in die Überschuldung führten, dann bedeutet das, dass diese Leistungsbilanzdefizite abgebaut werden müssen. Dazu gibt es drei Möglichkeiten:
Bankrotterklärung
Finanzielle Hilfen, Kredite oder Schuldenübernahme durch andere Länder
Wirtschaftswachstum, das die Schuldenrückzahlung ermöglicht
Die dritte Möglichkeit wurde zur Lösung der Euro-Schuldenkrise nicht in Betracht gezogen. Stattdessen blieb es bei der Zusage von Finanzhilfen und Kreditgarantien im Austausch gegen das Versprechen der Empfängerländer, Ausgabenkürzungen vorzunehmen. Das läuft letztlich auf das Gegenteil dessen hinaus, was Option drei besagt. Denn wenn alle sparen wollen, einschließlich des Staats, und kein zurückgehender Wechselkurs den Export unterstützt, dann kommt es zu einer tiefen Rezession, welche jeden Versuch einer Haushaltssanierung massiv erschwert. Das betraf alle angeschlagenen Südländer, am schlimmsten die Griechen.
So musste die griechische Regierung ihre Schätzung bezüglich der Wirtschaftsleistung für das Jahr 2011 im Oktober desselben Jahres auf –5,5 % senken. Im Sanierungsplan, der mit IWF, EU-Kommission und EZB ausgehandelt worden war, stand nur ein Minus von 2,6 %. Entsprechend musste die Regierung ihre Schätzung für die Staatsdefizitquote von den vereinbarten 7,4 % auf 8,5 % heraufsetzen.
Eine Ausnahme unter den Krisenländern bildete Irland, das eine große Exportbasis besitzt und mit kräftigen Lohnsenkungen sein Außenhandelsdefizit schnell beseitigen konnte. Portugal und Griechenland hingegen hatten bei Ausbruch der Krise nur noch eine sehr geringe Industriedichte und eine geringe Exportquote. Auch mit kräftigen Lohnsenkungen war da nicht viel zu machen, denn selbst prozentual merkliche Exportsteigerungen können bei einer kleinen Exportbasis die Verluste, welche die heimische Nachfrage erleidet, nicht wettmachen. Es kam deshalb zur Verarmung.
Land | Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Wertschöpfung | Anteil der Exporte am BIP |
---|---|---|
Deutschland | 20 % | 38 % |
Italien | 18 % | 30 % |
Spanien | 13 % | 35 % |
Portugal | 17 % | 37 % |
Griechenland | 10 % | 22 % |
Industriedichte und Anteil der Exportwirtschaft im Vergleich
Das Problem der Krisenländer besteht darin, dass sie in der Währungsunion ihre verlorene Wettbewerbsfähigkeit nicht einfach durch Abwertung wiederherstellen können. Zwar gibt es die Alternative einer Senkung der Löhne, was ebenfalls die Produktion verbilligt. Diese Maßnahme wirkt allerdings deutlich anders als eine Abwertung. Beide machen die international gehandelten Waren des betreffenden Landes relativ billiger, also preislich wettbewerbsfähiger. Es ist mittelfristig mit höheren Exporten und niedrigeren Importen zu rechnen.
Der Unterschied liegt in den nicht international gehandelten Waren und Dienstleistungen, die den Großteil der Wirtschaftsleistung ausmachen. Bei einer Abwertung ändert sich für die Arbeitnehmer in diesem Bereich und für die Konsumenten zunächst einmal nichts. Ein Verlust an interner Kaufkraft rührt bei einer Abwertung also nur daher, dass die international gehandelten Güter teurer werden.
Wirkung einer Abwertung
Bei einer allgemeinen Lohnsenkung dagegen haben alle Arbeitnehmer unmittelbar weniger Geld in der Tasche und können weniger ausgeben. Das bedeutet, dass die für den heimischen Markt produzierenden Unternehmen weniger absetzen können, ihre Belegschaften verkleinern müssen oder pleitegehen und so die Kaufkraft noch weiter sinkt. Im Fall einer Abwertung ist der unerwünschte Kaufkraftverlust nur eine begrenzte Nebenwirkung der teureren Importe. Die Absatzmöglichkeiten derer, die für den heimischen Markt produzieren, verschlechtern sich nur unwesentlich. Im Fall allgemeiner Lohnsenkungen besteht eine Hauptwirkung, wie das nachfolgende Schaubild zeigt, neben der Exportförderung in der unerwünschten Dämpfung der Kaufkraft. Die erwünschte Dämpfung der Importe ist dagegen nur eine indirekte und mengenmäßig begrenzte Folge des Kaufkraftverlusts durch die Lohnsenkung.
Wirkung einer Lohnsenkung
Deshalb ist eine „reale Abwertung“, wie die Strategie der Lohnsenkung von Ökonomen manchmal recht irreführend genannt wird, etwas ganz anderes als eine tatsächliche Abwertung der Währung, und deshalb ist es in einer Währungsunion so schwer, eine einmal verlorene Wettbewerbsfähigkeit zurückzugewinnen. Je geringer der Anteil des Exportsektors (und des mit Importen konkurrierenden industriellen Sektors) in der Wirtschaft und je größer der Dienstleistungssektor, desto schwieriger ist es, mit Reallohnsenkungen die Wettbewerbsfähigkeit wiederherzustellen, ohne in eine Abwärtsspirale zu geraten, weil der Binnenmarkt einbricht.
Im Laufe des Jahres 2011 wurde deutlich, dass Sparen allein nicht funktioniert. Die Rezessionen in Griechenland und Portugal vertieften sich, die Sanierung der Staatshaushalte erwies sich als unmöglich, weil die Einnahmen wegbrachen und die Ausgaben für Arbeitslosen- und Sozialhilfe stiegen. Deshalb griff man schließlich zunehmend auf Maßnahmen zurück, die auch im Interesse eines Gläubigers liegen, wenn die Zahlungsunfähigkeit des Schuldners droht: Man gewährte Erleichterungen. Der Zins für Hilfskredite wurde auf 3,5 % gesenkt; Griechenland wurde ein Teilerlass seiner Staatsschulden in Aussicht gestellt. Die EU bemühte sich um die beschleunigte Auszahlung von Geldern aus den EU-Töpfen. Man begann, wenn auch zaghaft, über Maßnahmen zur Wachstumsstimulierung zu sprechen.
Wo liegen also nun letztlich die Ursachen der Euro-Krise?
Die griechischen Regierungen tragen sicherlich eine besonders große Verantwortung, haben sie doch jahrelang (mit Hilfe ihrer Komplizen in der internationalen Bankenszene) ihre Haushaltsstatistiken massiv gefälscht und sich so Zugang zur Währungsunion verschafft, für die Griechenland nicht bereit war, und später das wahre Ausmaß der Haushaltsprobleme verschleiert.
Dazu kam ein Bankensystem, das fast nach Belieben Geld schöpfen und Risiken eingehen darf. Das bewirkte einerseits, dass die Griechen, Portugiesen und Spanier viel zu lange viel zu bereitwillig Kredit erhielten, und andererseits, dass sich die Lösung der Krise später als so schwierig erwies – denn jeder Schuldenschnitt eines Landes drohte das gesamte Bankensystem des Euroraums in Turbulenzen zu stürzen.
Und schließlich ist da noch der Konstruktionsfehler der Schöpfer der Währungsunion, die sich allein auf die Staatsfinanzen konzentrierten und andere mögliche Fehlentwicklungen fast vollständig ignorierten.
Auf einen Blick: Weltfinanzsystem |
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