Neue Katastrophen

Es wurde ein Stadtausflug mit Zwischenfällen. Grapsch hatte sich in die lederne Hose gezwängt, die er mal als Räuber getragen hatte. Sie war schon ziemlich abgeschabt, aber sie roch nach wilder, freier Räuberei.

Das waren noch Zeiten gewesen! Allerdings war ihm die Hose jetzt schon so eng geworden, dass er nicht mehr hätte frühstücken können, hätte er sich vor dem Frühstück in sie hineingezwängt. Nicht einmal eine Unterhose passte darunter.

Aber Olli war der Meinung, die Lederhose sei immer noch besser als eine von den farbbekleckerten Malerhosen.

Darüber trug er ein Hemd von Anton. Weil es zu eng war, knöpfte er es vorn nicht zu. Es war ja Sommer.

Anfangs ging noch alles gut. Olli ritt auf dem Kamel und lehnte dabei das Bild an den Höcker, Grapsch trabte nebenher. Aber als sie ein Viertel des Weges hinter sich hatten, fing es leise an zu donnern.

„Hast du das gehört, Tassilo?“, schrie Olli auf. „Es kommt ein Gewitter!“

Grapsch, der ihre Gewitterangst kannte, winkte ab: „Das ist kein Donner. Das war ich.“ Und um zu beweisen, dass er es an Lautstärke mit mittelstarkem Donner aufnehmen konnte, ließ er einen Furz fahren, der dumpf grollte und die Vögel in weitem Umkreis aufschreckte. Er hatte längst gelernt, dass sich so etwas nicht gehört. Aber hier herrschte ein Notstand. Auf diese Weise ließ sich Olli beruhigen. Allerdings nur für eine kurze Zeit. Denn sobald es lauter donnerte und Grapsch brummte: „Das sind Paukenschläge aus der Juckenauer Musikschule“, glaubte sie ihm nicht mehr.

Als sie die alte Eiche erreichten, an der der Weg nach Juckendorf abzweigte, donnerte es ohrenbetäubend. Blitze zuckten. Der Himmel, den man hier auf der kleinen Lichtung sehen konnte, war ganz dunkel geworden.

„Dort drüben“, rief Grapsch und zeigte auf eine weite Fläche buschiger Blaubeersträucher unter den Bäumen, „dort drüben in den Stauden haben wir uns kennengelernt. Weißt du noch?“

„Damals hat’s auch gedonnert“, rief Olli. Ihre Stimme zitterte. „Meinst du, ein Blitz könnte in das Kamel einschlagen? Es ragt so einsam aus dieser Lichtung nach oben. Und dann bin ich noch oben drauf. Und Oskars Bild …!“

„Die Eiche ist ja noch viel höher“, beruhigte er sie.

„Eiche?“, kreischte sie in hellem Entsetzen. „Ach du großer Gott, ja, die alte Eiche von damals. Bei Gewittern hat Oma Lisbeth immer gesagt: ‚Vor Eichen sollst du weichen!‘ Wir müssen hier weg, Tassilo!“

Aber dazu war es schon zu spät: Ein greller Blitz schlug in die Eiche ein und spaltete sie von oben bis unten. Der Blitz hatte so viel Energie geladen, dass er auch noch Grapschs Mähne hob und den Bart.

Olli passierte gar nichts. Nur der Schwanz des Kamels stand steil nach oben, und aus Harun al Raschids Maul tropfte Spucke.

„Tante Lisbeth hatte Recht“, wimmerte Olli. „Bist du noch ganz, Tassilo, oder hat dich der Blitz auch gespal…?“

„Vorsicht!“, brüllte Grapsch und gab dem Kamel einen Stoß, dass es einen Satz seitwärts machte. Auch er selbst machte einen großen Satz.

Krachend stürzte die eine Hälfte der Eiche nieder, quer über den Weg, ganz dicht neben Grapsch und dem Kamel.

„Mich nicht, aber meine Hose“, sagte er.

Tatsächlich: Bei dem Sprung war er aus der ledernen Hose geplatzt. Jetzt hing sie vorn und hinten wie ein Stück Haut herunter.

„Wenn’s weiter nichts ist …!“, sagte Olli. „Der Donner wird jedenfalls leiser. Nur darauf kommt’s jetzt an.“

Grapsch strich sich Mähne und Bart wieder in die normale Lage.

„Lass uns umkehren“, knurrte er.

Aber das passte Olli gar nicht. „Umkehren? Kommt nicht infrage. Heute sollst du in Juckenau neu eingekleidet werden, und dabei bleibt’s!“

„Aber ich bin ohne Hosen!“, brüllte Grapsch und riss sich die ledernen Fetzen von Bauch und Rücken.

„Bis zum Waldrand kommt’s nicht darauf an, ob du was an hast oder nicht“, sagte sie. „Und ab dort wird sich eine Lösung finden. Los, komm!“

Das Gewitter verzog sich, aber es goss in Strömen. Als sie den Waldrand erreichten, hörte der Regen auf. Die Sonne trocknete sie schnell.

„Und jetzt?“, schnaubte Grapsch.

„Halt dir Oskars Gemälde vor den Bauch“, sagte Olli, „dann sieht man nicht, dass du unten rum nichts anhast.“

Grapsch hob das große Bild vom Kamel. „Aber hinten hab ich nichts!“, klagte er.

„Du gehst vor mir“, sagte Olli. „Wenn du vorbei bist, komme ich auf dem Kamel. Das ist viel interessanter als ein Räuber ohne Hose. Niemand wird dich anstarren.“

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Einer der Zufälle kam ihnen zu Hilfe, die Oma Lisbeth mit dem Spruch gemeint hatte: „Immer wenn du meinst, es geht nicht mehr, kommt von irgendwo ein Lichtlein her.“ Ein Jeep kam aus der Stadt herangebraust und hielt direkt neben ihnen.

„Hallo“, sagte der Mann, der darin saß. „Geht es hier zu dem berühmten Maler Grapsch?“

Es war ein Reporter, der den Meister interviewen wollte.

Olli winkte ab. „Ich bin auch Journalistin und wollte gerade zu ihm. Aber das ist nicht zu machen. Fahren Sie bloß nicht hin! Er hat was gegen Reporter. Seit Kurzem hält er sich einen Löwen, der alle anfällt, die sich seinem Anwesen nähern. Der hat meinem Kollegen die Kleider vom Leib gerissen. Sehen Sie sich das an!“ Sie zeigte auf Grapsch, von dem man nur die Hände und den Bauch sah. „Dabei hatten wir ja noch Glück. Das Vieh hätte uns total zerfleischen können! Das Bild haben wir bekommen, damit wir nicht zur Polizei gehen.“

„Huuu“, bibberte der Reporter. „Ein Glück, dass ich Ihnen, meine lieben Kollegen, begegnet bin. Sonst wäre ich vielleicht übel zugerichtet worden …“

Er gab sich damit zufrieden, das Gemälde knipsen zu dürfen, und versorgte Grapsch als Gegenleistung mit einer Hose aus seinem Gepäck, die er eigentlich für seinen Vater gekauft hatte. Dann wendete der Reporter seinen Jeep, winkte und machte, dass er davonkam.

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So konnten Grapsch und Olli gegen Abend doch noch wohlbehalten aus Juckenau zurückkehren, ohne sich an allerlei Peinliches erinnern zu müssen. Oskars Bild hatte Olli an Herrn Rossi verkauft, und Grapsch war nun – nach vielen Anproben – mit allem Nötigen ausgestattet, um sich so wenig wie möglich von anderen Männern zu unterscheiden.

Olli war auch noch aus einem anderen Grund zufrieden: Ihr Tassilo hatte sich während dieses Tages keinen Augenblick gelangweilt!