Vor Fichten musst du dichten

Ich muss was tun, dachte Olli, damit er sich nicht wieder auf die Ofentür legt. Ich muss ihn ablenken, muss ihn beschäftigen. Aber wie?

Tante Hedwig hatte gern Spitzendeckchen gehäkelt. Das war nichts für ihren Tassilo. Er würde die Häkelnadel verbiegen oder sich mit ihr im Ohr kratzen.

Oma Lisbeth hatte gern Kreuzworträtsel gelöst. Auch das war nichts für ihn. Er hatte noch nie von einem russischen Fluss mit zwei Buchstaben gehört, kannte keinen Komponisten mit sechs Buchstaben, ja wusste nicht einmal, was ein Komponist ist.

Ollo sammelte Briefmarken. An denen würde es nicht fehlen. Die neun Töchter schrieben den Grapschen ja aus allen Teilen der Welt. Aber Marken waren so winzig. Tassilo brauchte Dinge, die sich mit großen Händen anfassen ließen und bei einem herzhaften Nieser nicht in alle Richtungen davonwirbelten!

Frau Rosamunde schrieb Gedichte …

Olli wusste das, weil sie mal ein Weihnachtsgedicht von ihr geschenkt bekommen hatte. Es begann mit:

Der Lärm verstummt. Es schluchzen die Geigen. Die Englein trillern im Weihnachtsreigen.

Und es hatte sechzehn Strophen. Darunter hatte in Frau Rosamundes Handschrift eingeklammert gestanden: selbst gedichtet.

Olli überlegte: Zum Dichten braucht man nicht nur die Hand zum Schreiben, sondern auch die Gedanken. Also ist man beim Dichten rundherum beschäftigt. Und dabei kann man auch nicht rasen wie beim Malen, weil schreiben und gleichzeitig rasen unmöglich ist. Im Gegenteil: Man sitzt von morgens bis abends übers Schreibpapier gebeugt und bewegt sich kaum. Also magert man beim Dichten nicht ab. Ist das nicht die richtige Beschäftigung für meinen Tassilo? Aber ja doch! Genau die, nach der ich suche!

Bei ihrem nächsten Einkauf in Juckenau kaufte Olli ein Heft. Ein sehr großes, weil Grapsch wegen seiner großen Hände große Buchstaben schrieb. Sie wählte ein besonders schönes Heft aus, mit einer strahlenden Sonne auf der Vorderseite.

Als sie heimkam, sah sie Grapsch schon wieder um die blaue Ofentür schleichen. Noch hatte er sich nicht darauf niedergelassen. Höchste Zeit, ihn davon abzulenken!

„Komm rein, ich hab dir was mitgebracht!“, rief sie und schwenkte das Heft.

Er kam, beugte sich über das Heft auf dem Tisch, schnupperte daran und blätterte darin. Enttäuscht stellte er fest: „Es ist ja leer!“

„Eben“, sagte sie munter. „Das Vollschreiben ist deine Sache.“

„Was soll ich denn da hineinschreiben?“, fragte er ratlos.

„Gedichte“, sagte Olli und strahlte ihn an. „Kurze Texte, die sich reimen.“

„Reimen?“, fragte er und ließ seine Kinnlade fallen. „So wie ‚vor Eichen sollst du weichen‘? Das kannst du haben: Vor Pappeln sollst du zappeln. Vor Buchen sollst du fluchen. Vor Linden sollst du dich schinden. Vor Fichten sollst du dichten. Vor Weiden …“

„Halt, genug!“, rief Olli. „Das ist zu einfach und wird bald langweilig. Du kannst mehr. Denk doch an die Wiegenlieder, die du deinen Kindern vorgesungen hast. Nur dass die sich nicht gereimt haben. Die Gedichte, die ich in der Schule auswendig lernen musste, haben sich alle gereimt.“

Sie wieselte ins Geburtskämmerchen und kam mit einem schon arg zerlesenen Buch zurück, ihrem Lesebuch aus der letzten Klasse. Hastig schlug sie eine Seite auf und las feierlich vor:

„Über allen Gipfeln ist Ruh, in allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch; die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch.“

„Wenn’s weiter nichts ist – das kann ich auch“, knurrte Grapsch, ließ sich auf einen Stuhl sinken und beugte sich über das Heft. Dann runzelte er die Stirn. „Irgendwas fehlt mir noch zum Dichten. Aber was?“

„Ein Stift“, sagte Olli trocken. „Aber erst mal wird zu Mittag gegessen.“

Es gab Suppe aus dicken, braunen Bohnen. Die hatte Olli schon vorgekocht. Schweigsam löffelte Grapsch drei Teller leer. Kaum hatte Olli abgeräumt, ließ er sich von ihr einen Stift geben. Er seufzte ab und zu, kratzte sich hinter den Ohren und fuhr mit der Zunge über seine Lippen. Aber gähnen hörte ihn Olli nicht. Nur in seinem Bauch begann es zu rumoren.

Drei Stunden später röhrte er: „Fertig!“

Olli, die gerade Möhren erntete, wischte sich die Hände an der Schürze ab, kam ins Haus und sagte: „Lass hören.“

Grapsch stand auf, räusperte sich und las genauso feierlich, wie Olli vor dem Mittagessen gelesen hatte, seine Dichtung vor:

„Die Bohnensuppe gibt keine Ruh. Mich kneift der Magen. Spürst nicht auch du den üblen Hauch? Bald, Olli, verschwind’ ich im Walde. Warte nur, balde musst du auch.“

Er reckte sich, hob den Kopf, sah Olli an und fragte: „Na?“

„Ich sehe“, sagte Olli, „Gedichte machen kannst du. Aber mit Goethe darfst du nicht so umgehen.“

„Wer ist denn das?“

„Johann Wolfgang von Goethe ist der berühmteste Dichter, den wir jemals hatten“, erklärte Olli. „Wir haben in der Schule gelernt, dass das eines seiner bekanntesten Gedichte ist. Das darf man nicht so ins Lächerliche ziehen.“

„Ich hab ja ein ganz anderes Gedicht draus gemacht“, verteidigte er sich. „Was von mir und dir und unserer heutigen Verdauung handelt. Nur verschwinde ich nicht im Wald, wenn ich muss, sondern im Klomobil. ‚Klomobil‘ ist so sperrig. Das hab ich nicht unterbringen können.“

„Aber dein Gedicht hat auch ‚Ruh‘ und ‚du‘ und ‚Walde‘ und ‚balde‘ an den Zeilenenden. Du bringst Goethe mit der Verdauung in Zusammenhang. Ja sogar mit einem Furz! Denn mit ‚Hauch‘ meinst du doch einen Furz, oder?“

„Was sonst?“, fragte Grapsch verwundert.

„Ein Hauch kommt immer aus einem Mund“, erklärte Olli. „Ein Furz nicht.“

„Aus was für einem Mund kommt dann der Hauch in deinem berühmten Gedicht von Flöte?“, fragte er noch verwunderter.

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„Nicht Flöte, sondern Goethe!“, rief Olli ärgerlich.

„Als ob’s auf solche kleinen Unterschiede ankäme“, knurrte Grapsch. „Lenk nicht ab. Ich will wissen, aus welchem Mund der Hauch bei Kröte kommt!“

„Nicht Kröte, sondern Goethe!“, schrie Olli.

Grapsch brüllte: „Aus welchem Mund, frage ich!“

Olli bemühte sich um Ruhe. „Brüll nicht so“, sagte sie. „In diesem Gedicht hat der Hauch mit dem Wetter zu tun. Außerdem bin ich dir keine Antwort schuldig. Ich bin dir überhaupt nichts schuldig, damit du’s weißt!“

„Wo hat denn das Wetter einen Mund?“, keuchte Grapsch, noch immer aufgebracht. „Zeig ihn mir!“

Olli gab auf und flüchtete wieder zwischen ihre Möhren. An diesem Tag redeten sie nicht mehr miteinander.