Räuber Grapsch erinnert sich
oder
Zehn Jahre brav im Grapschheim

Vielleicht kennst du Tassilo Grapsch schon von seinen anderen Abenteuern. Dann weißt du natürlich, wer er ist. Es kann aber auch sein, dass du noch nie von ihm gehört hast. Daher stelle ich ihn lieber noch mal kurz vor. Sicher ist sicher!

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Tassilo Grapsch war ein Räuber. Und was für einer! Nicht sehr klug, aber unheimlich stark. Seine breite, dicht behaarte Brust und die enorm dicken Armmuskeln beeindruckten jeden, der sie zu sehen bekam. Er hatte Hände wie Schaufeln, Schuhgröße neunundvierzig und war fast zwei Meter groß! Der grauweiße Bart, der früher mal kohlschwarz gewesen war, hatte sein halbes Gesicht zugewuchert und reichte ihm bis zum Nabel. Aus seiner wilden Mähne ragten rote Henkelohren. Unter den buschigen Brauen funkelten seine Augen. In seinen Mund konnte er eine Vierteltorte auf einmal hineinschieben. Und seine Nase war ein richtiger großer Räuberzinken.

Früher hatte das ganze Juckener Ländchen vor ihm gezittert: alle Leute in Juckenau, Juck am See und Juckendorf. Hatte er es doch gewagt, den Polizeihauptmann Sieghelm Stolzenrück auf einer Dienstfahrt zu überfallen und ihm die Stiefel abzunehmen, sodass er auf Socken weiterfahren musste! Einmal hatte er ganz alleine einen ganzen Güterzug ausgeplündert. Und ein andermal hatte er mitten in der Nacht in der Sparschweinfabrik Fleiß & Preis AG die Tür des zimmergroßen Brennofens ausgehoben und auf seinem breiten Buckel in den Rabenhorster Wald geschleppt, an den Rand des Sumpfes. Es war diese Tür, auf der er jetzt mit geschlossenen Augen breit wie ein Kuhfladen ruhte, seinen dicken Bauch von der Sonne bescheinen ließ und sich an vergangene Zeiten seines Lebens erinnerte.

Ja, er war ein tollkühner, unglaublich starker und sehr gefürchteter Räuber gewesen!

Aber er hatte seit zehn Jahren nicht mehr geraubt.

Olli, seine Frau, wollte es so. Sie war glücklich, wenn Grapsch nicht auf Raubzüge ging, sondern so lebte wie fast alle im Juckener Ländchen: also werktags von neun bis fünf arbeitete und sonntagnachmittags – nach einem gemütlichen Verdauungsspaziergang – mit seiner Familie Kaffee trank und Kuchen aß.

Er musste seufzen. Jaja, eigentlich war jetzt Arbeitszeit. Während der Arbeitszeit auf der Ofentür liegen? Olli schaute sicher schon herüber.

Runzle nur die Stirn, Ollilein, dachte er. Ich bleibe trotzdem noch liegen.

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Die Kosenamen für sie gingen ihm nie aus. Mal nannte er sie Honigbienchen, mal Blütendüftlein, mal Zuckerli. Er hatte sie eben sehr lieb. Und sie ihn auch. Sie schimpfte nicht einmal, wenn sie nicht schlafen konnte, weil er so laut schnarchte. Dann gab sie ihm ein Küsschen auf den Bart und flüsterte: „Schnarch nur weiter, mein liebes Schnarcherle …“

Zusammen mit ihr, die so klein war, dass sie ihm nur bis zum Gürtel reichte, hatte Grapsch zehn Kinder: neun Töchter und einen Sohn, Ollo. Sie waren alle schon erwachsen. Mit Stolz dachte er an seine Töchter Quarka, Lisbeth und die Siebenlinge Sisal, Ottilia, Iltis, Lolita, Ata, Tilli und Assilotl. Noch immer zogen sie mit ihrem Zirkus, den sie von ihrer Großmutter Ata, seiner Mutter, übernommen hatten, sehr erfolgreich um die Welt. Und sie hatten ihn schon einunddreißigmal zum Großvater gemacht. Mit ihren Männern und Kindern, dem Feuerschlucker Max, Grapschs und Ollis altem Freund, und dem gesamten Zirkus kamen sie alle drei Jahre zu Besuch. Dann wurde es für einige Monate laut im Rabenhorster Wald.

Aber sobald sie wieder abgezogen waren, machte sich die Rabenhorster Waldstille von Neuem breit.

Olli, die Tüchtige und Emsige, merkte nicht viel davon. Sie brachte ihren Garten in Ordnung, den die Enkelschar ziemlich zerzaust zurückgelassen hatte, und kochte Himbeer- und Brombeermarmelade.

Nein, von den Zuckermelonen auf Oma Atas Hügelgrab war nichts mehr da zum Einkochen. Über die hatten sich die Enkel hergemacht!

Pünktlich melkte und versorgte sie ihre Meerschweinchen. Aus der Milch machte sie Quark und Käse. Sie bürstete die alten Zirkustiere, die im Gehege unter den hohen Bäumen ihre letzten Jahre verbrachten, und fütterte und tränkte sie auch, wenn Grapsch das vergaß. Sie machte die nötigen Einkäufe in Juckenau und verkaufte dort ihren Käse und Quark. Im Sommer, in der Ferienzeit, kümmerte sie sich um die Touristen in der Höhle. Die lag nur ein paar Schritte vom Grapschheim entfernt. Früher hatten die Grapsche darin gewohnt. Denn echte Räuber hausen ja in Höhlen. Aber Olli hatte für ihre Kinder ein Haus verlangt. Und so hatte Grapsch mit der Hilfe seiner Freunde Max und Anton das Grapschheim gebaut. Die Höhle vermieteten die Grapschs mittlerweile als Ferienwohnung. Olli kochte und backte, wusch die Wäsche und flickte sie. Kurz: Sie war von morgens bis abends beschäftigt.

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Sogar noch mehr als früher. Denn Oma Lisbeth konnte ihr nicht mehr helfen, weil sie schon gestorben war. Sie lag im Grab rechts neben Oma Ata, Grapschs Mutter. Links lag Clown Kasimir. Zu Oma Atas Füßen ruhten die Löwen Zeus und Zorro. Und auf der Kopfseite wölbte sich – viel höher als das Grab in der Mitte – ein ganzer Hügel, höher als Räuber Grapsch groß war.

Hier war der Elefant Jumbo begraben. Grapsch, Anton und Max hatten eine Woche lang eine Riesengrube für ihn ausgehoben. Und als Jumbo endlich darin gelegen hatte, waren sie noch eine weitere Woche damit beschäftigt gewesen, Erde heranzukarren und sie auf den Verstorbenen zu schaufeln.

Inzwischen überwucherten Walderdbeeren den ganzen Hügel. Die dufteten in jedem Sommer bis ins Grapschheim hinein, das runde Haus, in dem Grapsch mit seiner Olli lebte. Keine der neun Töchter hatte in diesem Haus das Licht der Welt erblickt. Quarka war in der Höhle geboren worden, Lisbeth im Klomobil, und die Tassilollis, die Siebenlinge, im Möhrenwäldchen.

Nur ein Einziges seiner Kinder hatte im Grapschheim, im Geburtskämmerchen, seinen ersten Schrei getan: Ollo, der als Einziger nicht zum Zirkus gegangen, sondern Briefträger geworden war und seit Tante Hedwigs Tod in ihrem Häuschen in Juckenau lebte. Wenn Briefe mit der Adresse „Familie Grapsch, Rabenhorster Wald“ auf der Juckenauer Post eingetroffen waren, kam er auf seinem gelben Postfahrrad mit dem breiten Postkorb über dem Vorderrad angeradelt, immer genau um halb elf vormittags, um sie seiner Mutter auszuhändigen. Wenn’s ein Einschreiben oder ein Paket war, nur gegen Unterschrift. Und jeden Sonntagnachmittag kam er ohne Uniform, aber mit Krawatte, pünktlich um vier Uhr zum Kaffee – auch auf dem Postrad. Die Erlaubnis, es sonntagnachmittags für eine Privatfahrt in den Rabenhorster Wald benutzen zu dürfen, hatte er sich von seinem Chef schriftlich geben lassen. Für die Benutzung zahlte er pro Sonntag zwei Euro fünfzig.

Ach ja, Ollo war Grapschs und Ollis Sorgenkind: Er war längst erwachsen, hatte aber noch immer keine Frau gefunden, obwohl er sich sehnlichst eine wünschte. Eine, die gut kochen und backen konnte und das Essen pünktlich auf den Tisch brachte. Die das Haus immer schön sauber hielt. Die die nasse Wäsche nach Hemden und Hosen, Unterhemden und Unterhosen, Kleidern und Unterkleidern geordnet auf die Wäscheleinen hängte und schnurgerade Bügelfalten bügeln konnte. Die keine teuren Wünsche und keine verrückten Ideen hatte. Die sich so gut wie gar nicht von anderen Hausfrauen unterschied, also von morgens bis abends eine Schürze und nur sonntags ihr Sonntagskleid trug. Die ohne Widerrede jeden Sonntagnachmittag mit ihm zu seinen Eltern in den Rabenhorster Wald zum Kaffeetrinken fahren würde.

Eine wie Tante Hedwig, Ollis verstorbene Tante, die aber nicht im Rabenhorster Wald, sondern auf dem Juckenauer Friedhof begraben lag. In einem ordentlichen Grab mit Grabstein zwischen ordentlichen Gräbern mit Grabsteinen. Ja, so eine wie Tante Hedwig! Nur nicht so hässlich, so alt und so streng.

Grapsch bekam jedes Mal, wenn er an Tante Hedwig dachte, einen Schüttelfrost. Nicht, weil er in ihrem kleinen, engen Haus zwischen all den kleinen und großen Sparschweinen fast stecken geblieben und erstickt wäre. Sondern weil sie ein paar Jahre lang Maxens Ehefrau gewesen war. Der arme Max – wie hatte er unter ihrer Fuchtel leiden müssen! Kein Wunder, dass er jetzt mit dem Zirkus durch die Welt zog, seine Freiheit genoss und noch immer keine Lust hatte, sich im Rabenhorster Wald zur Ruhe zu setzen.

Gerade, als Grapsch mit seinen Gedanken bei Tante Hedwig und ihrem Grab angekommen war, wurde er unsanft aus seinen Erinnerungen gerissen.

„Tassilo, könntest du mal das Klomobil weiterrücken?“, hörte er Olli von ihren Beeten herüberrufen. „Ich hätte es ja gern allein getan, mein Schnuppchen. Aber es ist so schwer …“

Träge erhob er sich, wedelte die Fliegen weg, die sein Gesicht umschwärmten, wischte sich den Fliegendreck von Wangen, Stirn und Nase und schüttelte den Kopf. Seit zehn Jahren nicht mehr geraubt!