Am nächsten Tag lag der Räuber Tassilo Grapsch wieder auf seiner Ofentür, erinnerte sich und grübelte. Manchmal gähnte er, manchmal stöhnte er.
Seit zehn Jahren nicht mehr geraubt. Fast nicht zu glauben!
Na ja, wenn man’s ganz genau nimmt, muss man sagen: Er hatte fast nicht mehr geraubt. Nur einmal, um Mitternacht, mit dem pensionierten Polizeihauptmann Sieghelm Stolzenrück zusammen – aus purem Seniorenübermut! – eine Torte aus der Kühlkammer der Konditorei Schleck, die sie gleich hinter der Konditorei gemeinsam weggefuttert hatten. Und ein andermal – auch nur aus Jux! – ein Kaninchen aus einem Kaninchenstall in Juck am See.
Sie waren beide Male sehr, sehr stolz gewesen, dass ihnen ihr Beutezug so prächtig gelungen war. Grapsch hatte Stolzenrück seine Pranke auf die Schulter gehauen und Stolzenrück hatte ihn in die Seite geboxt.
Grapsch kannte eine Lichtung, um die herum der Rabenhorster Wald am dichtesten war. Auf dieser Lichtung hatten sie das Kaninchen geschlachtet, gebraten und verzehrt, bemüht, dabei nicht allzu laut zu schmatzen.
Sie hatten Glück. Denn der junge Förster Klotz stapfte gerade durch den Wald. Er hatte den alten Karo bei sich, der dem verstorbenen Förster Emmerich gehört hatte. Karo hätte den Räuber und den pensionierten Polizeihauptmann sicher gerochen, wenn er noch hätte riechen können. So aber blieben die beiden unerkannt. Als das Kaninchen als vermisst gemeldet wurde, hielt die Polizei drei am Vortag aus dem Gefängnis ausgebrochene Bankräuber für die Diebe.
Wer die Torte und das Kaninchen geklaut hatte, wussten nur Grapsch und Stolzenrück. Nicht aber Olli, Grapschs Frau, die doch so froh darüber war, dass ihr Tassilo – so glaubte sie – nicht mehr raubte, sondern sich in einen so braven Bürger verwandelt hatte, wie die Polizei des Juckener Ländchens sich ihre Juckenauer wünschte.
Und schon gar nicht durfte Rosamunde, Stolzenrücks Frau, das Geheimnis erfahren! Die hatte nämlich bei den Stolzenrücks das Sagen. Der pensionierte Polizeihauptmann fürchtete den Zorn seiner Rosamunde so sehr, dass er sich nach dem Kaninchen nichts mehr zu rauben getraut hatte.
„Mensch, lass uns doch wieder mal auf Tour gehen“, hatte ihm Grapsch manchmal zugeraunt. Aber Stolzenrück hatte nur den Kopf eingezogen, ihn geschüttelt und scheu über die Schulter hinter sich gespäht.
Na ja, das war zu verstehen: Schließlich war er ja nicht irgendwer, sondern der ehemalige Polizeihauptmann des Juckener Ländchens! Er hatte nur zweimal mitgeraubt. Erstens, weil der Raub einer Torte oder eines Kaninchens ja fast nur ein Mundraub ist. Zweitens, weil es eben Spaß macht, etwas heimlich zu tun, was man eigentlich nicht tun darf!
Nur: Es darf nicht rauskommen.
Grapsch auf der Ofentür gähnte. Nun ja, geraubt hatte er in den letzten Jahren so gut wie nicht mehr. Aber faul war er nicht gewesen. Er hatte nicht nur alle geraubten Bücher ausgelesen. Manche sogar zweimal.
Er hatte auch tüchtig geholfen, als der Zimmermann Anton Specht, sein anderer alter Freund, in den Rabenhorster Wald gezogen war und sich ein hübsches Holzhäuschen an den Rand des Sumpfes gesetzt hatte. Anton sang jetzt nicht mehr im Männergesangsverein Harmonie. Ein jüngerer Sänger hatte seinen Platz eingenommen. Und er hatte auch keinen Gesangsverein im Rabenhorster Wald gegründet. Die Männerstimmen fehlten. Aber mit Grapschs und Ollis Enkelkindern sang er viel, wenn sie da waren.
Mit Anton zusammen hatte Grapsch außerdem mitten im Möhrenwäldchen ein Eigenheim für Max Hopperdiezel gebaut. Max, der beste aller Freunde, der bis jetzt noch immer im Zirkus der Grapschtöchter als Feuerschlucker auftrat, sollte doch wissen, dass im Rabenhorster Wald ein schönes Zuhause auf ihn wartete!
Nicht nur das Häuschen wartete auf Max. Grapsch hatte auch vier schöne große Holzbänke geschreinert und sie unter den Bäumen aufgestellt: eine neben der Höhle, eine vor dem Grapschheim, eine auf dem Jumbohügel und eine im Möhrenwäldchen. Manchmal saß er mit Anton, Stolzenrück oder Ollo auf einer von ihnen. Vielleicht würde er auch bald mit Max da sitzen …
Grapsch hatte in all den zehn Jahren auch täglich das Klomobil von Beet zu Beet gerückt. Und in jedem Sommer die Scheune mit Heu gefüllt. Und Holz für den Kachelofen im Grapschheim gehackt. Und die alten Zirkustiere im Gehege gefüttert. Und Oma Atas und Oma Lisbeths und Kasimirs Grab gegossen.
Ja, fast täglich. Bis vor ein paar Wochen. Seitdem lag er immer öfter auf der Ofentür, erinnerte sich an sein bisheriges Leben und gähnte.
Auch jetzt gähnte er lange und ausgiebig und kratzte sich unter dem Bart, wo eine Raupe gerade angefangen hatte, sich zu verpuppen und nun ärgerlich war, dass sie dabei gestört wurde.
Auch Grapsch wurde beim sich Erinnern gestört, denn Anton kam vorbei. Er blieb stehen, betrachtete Grapsch nachdenklich und sagte: „Du hast in letzter Zeit viel Speck angesetzt, Tassilo.“
„Das ist kein Speck“, knurrte Grapsch. „Das sind Muskeln.“
„Von wegen“, sagte Anton. „Vom Faulenzen schrumpfen die Muskeln, wuchert das Fett. Erheb dich und tu was!“
Grapsch öffnete sein linkes Auge einen Spalt, schloss es wieder und knurrte: „Blas dich nicht so auf, Anton. Ich tue ja was. Ich erinnere mich. Das ist auch eine anstrengende Arbeit. Ich erinnere mich an die letzten Jahre. Stehend kann man sich nur schlecht erinnern. Liegend geht das besser.“
„Dann gib auch deiner Olli mal Gelegenheit, sich zu erinnern“, sagte Anton.
„Die hat keine Zeit dazu“, grunzte Grapsch.
„Wenn du noch lange so weitermachst“, meinte Anton, „wirst du bald den letzten Grunzer tun.“
Grapsch richtete sich stöhnend auf: „Den letzten Grunzer? Ich stehe noch mitten im Leben!“ Er hob den Arm und machte eine Faust. „Glotz mich an, du Kaulquappe, und staune über meine Kraft!“
Aber Anton war schon weitergegangen. Grapsch sprach ins Leere. Da hob er seine Füße wieder auf die Tür, streckte sich aus und fuhr fort, sich zu erinnern.