Er musste so herzhaft gähnen, dass seine Kinnlade knackte. Seufzend warf er einen Blick hinüber zu Olli. Die lüftete gerade das Häuschen neben der Räuberhöhle, in der die Grapsche früher gehaust hatten. Er hatte es vor einigen Jahren mit der Hilfe seiner Schwiegersöhne für den Clown Kasimir gebaut, als der zu alt und müde geworden war, um mit dem Zirkus um die Welt zu ziehen.
Nachdem Kasimir gestorben war, hatte es nicht lange leer gestanden. Polizeihauptmann Sieghelm Stolzenrück und seine Frau Rosamunde hatten es gemietet, als Ferienhaus. Im Sommer verbrachten sie manches Wochenende darin. Dann saßen Grapsch, der ehemalige Räuber, und Stolzenrück, der ehemalige Polizeihauptmann, oft nebeneinander auf einer der vier Bänke und erinnerten sich an alte Zeiten und gemeinsame Erlebnisse.
Einmal, an einem schönen Sommerabend, war Grapsch mit seiner Olli zur Ofentür gekommen, um auf ihr die abendliche Stimmung zu genießen. Aber die Tür war schon besetzt gewesen: Stolzenrück hatte sich daraufgesetzt und sich nichts Böses dabei gedacht.
Grapsch hatte geknurrt: „Du darfst überall im Rabenhorster Wald deinen werten Hintern stationieren. Nur nicht auf unserer Ofentür. Die ist für uns beide, Olli und mich, reserviert.“
„Die gehört ja gar nicht dir!“, hatte Stolzenrück dagegengehalten. „Die hast du aus der Fleiß & Preis AG geraubt! Die Tür liegt nur deshalb noch hier, weil sich der Fabrikdirektor einen moderneren Brennofen angeschafft hat, denn der Brennofen war ja ohne Tür nicht mehr zu gebrauchen. Also kann jeder drauf sitzen, der drauf sitzen will. Auch ich!“
Grapsch hatte Stolzenrück am Schlafittchen gepackt, hochgehoben und ihn neben der Tür vorsichtig und mit dem nötigen Respekt auf das Moos gestellt. Dann hatte er sich, ohne sich noch weiter um den Polizeihauptmann im Ruhestand zu kümmern, auf die Ofentür sinken lassen und ausgiebig gereckt und gestreckt. Olli hatte sich kichernd in seinen Bart gekuschelt.
Stolzenrück war klar gewesen, dass er gegen Grapsch keine Chancen hatte. Grollend hatte er sich zurückgezogen.
Seitdem hatte er es nie wieder gewagt, sich auf der Ofentür niederzulassen.
Sie saßen abends auch weiterhin oft zusammen auf einer der vier Bänke und sprachen von alten und neuen Zeiten und davon, was an kuriosen Dingen in der Welt und im Juckener Ländchen passierte. Aber die Sache mit der Ofentür erwähnten sie nie.
Manchmal brachten die Stolzenrücks Besucher mit. Denen zeigte Rosamunde dann den Grapsch so, wie man Zoobesuchern Tiere hinter Gittern zeigt. Dabei verkündete sie so laut, dass man’s fast bis nach Juckenau hörte: „Der war mal ein ganz gefährlicher Räuber! Aber mein Mann hat seinem Treiben rasch ein Ende gesetzt.“
Stolzenrück stand dabei und versuchte immer wieder, zu erklären und richtigzustellen, aber sie ließ ihn nicht zu Wort kommen und tönte weiter: „Meinem Sieghelm hat sich niemand widersetzen können, solange er Polizeichef in Juckenau war. Er hat den Räuber natürlich sofort eingelocht und im Kerker schmoren lassen. Jetzt ist dieser alte Zottelbart natürlich kein Räuber mehr und so ungefährlich wie ein zahnloser Tiger! Ha-ha-ha!“
Grapsch fuhr jedes Mal hellwach von seiner Ofentür hoch, wenn er an diese Worte dachte. Sie stachen wie Dornen!
Auch heute. Grapsch erhob sich und trottete mit großen, schweren Schritten hinüber zu den Gräbern, um sie zu gießen.
Noch waren es schöne, sonnige Tage. Doch längst hatte Olli die Walderdbeeren auf dem Jumbohügel abgeerntet und zu Marmelade verarbeitet. Die Erdbeerblätter hatten braune Ränder bekommen. Die Höhle war leer: Die letzten Touristen waren abgereist, die letzten für immer. Olli hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr so viel Arbeit aufzuladen. Immerhin war sie schon vielfache Großmutter, und das Bücken begann Mühe zu machen.
Auch Stolzenrücks waren am vergangenen Wochenende nicht mehr in den Wald gekommen. Den Meerschweinchen wuchs ein dickerer Pelz für den kommenden Winter. Und das Laub färbte sich rot.
Das hieß: Es wurde Herbst.
Später, als Grapsch schon wieder mit geschlossenen Augen auf der Ofentür lag und die Sonne sich dem Horizont näherte, kitzelte ihn etwas am Bauch.
Diese Fliegen! Ärgerlich klatschte er seine rechte Pranke auf die Stelle.
„Ich bin keine Fliege“, sagte eine Stimme.
Und schon kuschelte sich etwas Warmes in seinen Bart. Grapsch brauchte nicht die Augen zu öffnen, um zu sehen, wer das war. Er erkannte seine Olli bei Licht wie auch im Dunkeln. Ihre kleine Gestalt, ihre Stimme, ihren Geruch.
„Tassilo“, flüsterte sie, „du fühlst dich seit einiger Zeit nicht wohl, nicht wahr?
Krank bist du nicht, sonst hättest du Fieber und nicht so einen Mordsappetit. Aber du denkst auffallend viel nach, erinnerst dich stundenlang auf der Ofentür und gähnst und seufzt. Also liegt’s an der Seele.“
Er seufzte und gähnte. Nein, anlügen wollte er sie nicht. Wie konnte er ihr nur schonend beibringen, dass er wieder Räuber sein wollte? Vielleicht war es am klügsten, in kleinen Schritten auf die Wahrheit zuzugehen?
Sie streichelte seinen Bart: „Sag’s mir, mein Rauschebärtchen, mein liebes.“
Er holte tief Atem, dann grunzte er: „Hier passiert ja nichts. Seit zehn Jahren. Das wird mir langweilig …“
„Langweilig?“, rief sie erstaunt. „Hier passiert doch dauernd was: Mal fällt dem Löwen ein Zahn aus, mal sind Stolzenrücks da und Rosamunde geht mir auf die Nerven, mal kommt Post von unseren Töchtern, mal stürmt es, mal regnet es … und sonntags nachmittags trinken wir mit Ollo Kaffee!“
Grapsch seufzte und gähnte nur.
„Also wenn’s nur die Langeweile ist, die dich so plagt“, sagte Olli erleichtert, „dann weiß ich, wie ich dir helfen kann. Ab morgen Mittag wirst du dich nicht mehr langweilen. Das verspreche ich dir!“
„Ach du mein gutes Glückskäferlein“, flüsterte Grapsch gerührt und wollte sie an sich drücken.
„Augenblick!“, rief Olli und sprang auf. „Ich hole nur schnell die Mückensalbe. Du wirst ja von einem ganzen Schwarm geplagt …“
Aber er wollte sie jetzt sofort an sich drücken, nicht erst, nachdem sie die Mückensalbe im Grapschheim geholt und ihn damit eingerieben hatte! Deshalb versuchte er, sie festzuhalten. Sie wusste aber, wie kitzelig er war, und kitzelte ihn. Und so gab es ein großes Gekicher und eine wilde Wälzerei, die ganz plötzlich mit einem lauten Platsch endete: Beide Grapsche waren von der Ofentür in den Sumpf gerollt.
Im Nu waren ihre Münder, ihre Augen und ihre Ohren voll Schlamm. Und sie hatten Mühe, wieder das feste Ufer zu finden, wo der Mückenschwarm schon auf sie wartete.
An diesem Abend litt Räuber Grapsch nicht mehr an Langeweile. Und noch nach einer Woche pulte er Schlamm zwischen seinen Zehen heraus.