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Benni Meisel und ein Polizeitaucher bergen die Leiche von Werner Strachnitz. Postenkommandant Sepp Gruber und zwei weitere Polizisten aus dem Bezirk warten am Ufer. Ein Sarg ist herangeschafft worden und ein Gerichtsmediziner aus Eisenstadt auf dem Weg.
Franz und Martin bleiben vor Ort, während der Rest der Tauchgruppe zurück in den Gasthof geschickt wird. Sie wollen alle nicht gehen, doch Gruber lässt sich selbst mit Gloria, die heftig protestiert, auf keine Diskussionen ein.
Sepp Gruber, klein, dick und prinzipiell gar nicht gemütlich, begrüßt die Kollegen aus Wien respektive Salzburg dennoch mit einem herzlichen Grüß Gott. So ein tragischer Tauchunfall! Eine Weile steht er neben der Leiche seines Mitarbeiters, er hat ihn immer als ein bissel übereifrig empfunden, doch so was hat der Werner nun wirklich nicht verdient. Das spricht er natürlich nicht aus, lasset die Toten ruhen.
Franz und Martin, die ihre Neoprenanzüge ausgezogen haben, tragen nur Badehose und T-Shirt, das scheint ein wenig pietätlos.
»Den Werner wird’s nicht mehr stören«, sagt Benni. »Also wenn ihr mich fragt’s, dann hat er eine Panikattacke bekommen, sich das Mundstück herausgerissen, es dann irgendwie nicht mehr geschafft, danach zu greifen … und dann ist er ertrunken.«
Ich hab dich aber nicht gefragt, denkt Martin und sagt: »Wir sollten auf den Gerichtsmediziner warten. Ich verstehe überhaupt nicht, wieso Strachnitz allein tauchen ging, bevor der Kurs anfing.«
Sepp Gruber: »Und ich versteh nicht, warum er überhaupt tauchen lernen wollt. Werner hatte Asthma, das war dorfbekannt.« Zu Benni: »Braucht man eigentlich ein ärztliches Attest für einen Tauchkurs?«
Benni hat seinen weltmännischen Charme kurzfristig abgelegt, er wirkt beunruhigt und ansatzweise kleinlaut. »Werner hatte eins. Von unserem Doktor.«
Sepp Gruber gibt Order, Werners Leiche zuzudecken. Die Sonne steht hoch, er schwitzt in seiner Uniform, und er sagt zu Benni, der aus seinem Neoprenanzug schlüpft: »Unser Doktor ist Werners Onkel. Der hat ihm den Wisch wohl einfach unterschrieben. Und du hast es nicht gewusst – das mit dem Asthma?«
»Ich schwöre es. Mensch, Sepp, ich bin doch die meiste Zeit gar nicht hier, sondern irgendwo in der Welt unterwegs. Kann schon sein, dass ich irgendwann einmal davon gehört habe, aber dann hab ich’s wieder vergessen. Wir waren ja nicht befreundet. Und man hat es ihm auch nicht angemerkt, dem Werner.«
»Das stimmt.« Franz springt dem Tauchlehrer zur Seite, obwohl er ihn eigentlich nicht mag. Der fährt einen Porsche Cayenne, so was kannst du dir von einem Polizistengehalt nicht leisten. Und er hat was Angeberisches, ein Frauenheld scheint er außerdem zu sein. Franz’ anfängliche Bewunderung für den Weltenbummler hat sich ziemlich schnell gedreht. Er denkt an die Gespräche vom Vorabend, es ist viel geredet worden, und Benni hat natürlich das große Wort geführt. Seine Tauchabenteuer. Wie er das mörderische Blue Hole am Golf von Aqaba bezwungen hat. Und Surfen tut er natürlich auch wie ein Weltmeister. Leider verkörpert Benni vieles, das Franz gerne sein möchte, angefangen vom Sixpack-Körper bis hin zu dem coolen Gehabe, das Frauen anscheinend sexy finden. Wenn Franz versucht, cool zu sein, hält man ihn für einen arroganten Deppen.
Im Lichte der Ereignisse würde Franz jetzt zu gerne wissen, mit wem Werner in der Nacht noch geredet hat. Er nimmt sich vor, Gloria zu fragen, ob sie es war. Könnte auch die Wirtin gewesen sein, die fesche Adele. War auf jeden Fall eine Frauenstimme.
»Kann Werners Tod was mit dem Schatz im See zu tun haben? Vielleicht wollte Werner ihn finden, natürlich allein.«
Sepp Gruber wischt sich den Schweiß von der Stirn. »So a Blödsinn«, sagt er. »Das hat der Ex-Bürgermeister von Wildstätten erfunden, als Reklame für den Ort und den See. Weil die Leut ja alle zum Neusiedler See fahren oder in die Thermenregion, dabei ist es bei uns genauso schön.« Mit Blick auf Benni: »Der hat als junger Mensch auch dran geglaubt und den ganzen See abgetaucht. Damals war er mehr unter als über Wasser, bis er’s dann endlich kapiert hat.«
Die beiden lachen, schauen dann auf die schwarze Plane über der Leiche und verstummen. »Der Herrgott sei seiner Seele gnädig«, sagt Gruber und bekreuzigt sich.
In diesem Moment steigt der Gerichtsmediziner aus Eisenstadt aus seinem Wagen und nähert sich der Gruppe. Stellt sich als Dr. Ferenczy vor und begrüßt alle mit Handschlag. »Schon jetzt das Wiener ›Leib und Leben‹ vor Ort?«, fragt er dann.
Martin erwidert, dass er zufällig hier sei. Der Tauchkurs. Und sein Freund und Kollege ebenfalls. Sepp Gruber fügt hinzu, dass man ja wohl von einem tragischen Tauchunfall ausgehen müsse.
Dr. Ferenczy zieht seinen Overall und Handschuhe an und kniet sich neben die Leiche. Entfernt die Plane, verscheucht ein paar Fliegen und bittet die Umstehenden, einen Schritt zurückzutreten. Fragt Benni und den Polizeitaucher: »Und ihr habt ihn im Wasser genauso gefunden, wie er da so liegt, mit Ausrüstung und allem?«
»Ich hab ihm nur die Sauerstoffflasche abgenommen«, sagt der Polizeitaucher. »Damit wir ihn hinlegen können.«
»Und wie war seine Stellung im Wasser?«
»Bäuchlings, knapp über dem Boden. Das Mundstück hing an der Seite am Schlauch.«
Dr. Ferenczy untersucht Augen, Mund und Nase. »Ein Glück, dass ihr ihn so früh gefunden habt. Ich hasse Wasserleichen.« Er wendet sich an den Postenkommandanten: »Ich würd sagen, wir packen ihn ein und bringen ihn zur Gerichtsmedizin nach Eisenstadt. Ich geh davon aus, dass wir Wasser in den Lungen finden. Ertrunken beim Tauchen.«
»Er war Asthmatiker«, sagt Gruber.
»Dann hätt er’s besser nicht getan«, entgegnet Ferenczy und bedeutet einem Polizisten, die Leiche in den Sarg zu verfrachten. Er steht auf und streift sich Overall und Handschuhe ab. »Ich melde mich, sobald ich Näheres weiß. Einen offiziellen Bericht gibt’s aber erst in ein paar Tagen. Wir haben ziemlich viele Leichen zurzeit. Post-Corona-Fälle, die Opfer der Isolierung … Naja, jetzt haben wir es ja wohl überstanden mit dem Virus. Jetzt sterben die Leut wieder an was anderem. Ich wünsche allseits einen schönen Tag, meine Herren.«
Als er in seinen Wagen steigt, sagt Martin leise: »Warum sind so viele Gerichtsmediziner schräg drauf?«
»Berufskrankheit«, flüstert Franz. »In Salzburg haben wir einen, der singt Todesarien während der Obduktion. Er hat gar keine so schlechte Stimme.«
Franz hat Hunger. Er weiß, dass das irgendwie unpassend ist, aber trotzdem. Er fragt Martin, ob es nicht langsam Zeit wär, zum Gasthof zurückzugehen.
Martin zum Postkommandanten: »Wir stehen Ihnen jederzeit zur Verfügung. Sind ja noch ein paar Tage da.«
Händeschütteln, dann sammeln Martin und Franz ihre Ausrüstung ein und machen sich auf den Rückweg zum Gasthof. Erst Dusche, dann umziehen, dann vielleicht ein kleines Mittagessen, wie Franz meint. Als Martin herunterkommt, sitzen die anderen Kursteilnehmer im Gastgarten. Franz hat ein Frankfurter Würstel mit Senf und Kren vor sich, Erdäpfelsalat und eine Semmel. Ein großes Glas Bier dazu. »Wir gehen ja heut nicht mehr tauchen«, sagt er auf Martins Blick hin.
Benni ist nicht da, doch er will am Abend vorbeischauen, um zu verkünden, wie es weitergeht. Und was sollen sie jetzt machen? Auf ihre Zimmer gehen? Spazieren? Baden? Einen Ausflug machen? Weiter darüber diskutieren, wieso Werner alleine tauchen ging?
Zwischen zwei Bissen bringt Franz den Schatz im See nochmals ins Gespräch. Nur weil Benni ihn nicht gefunden hat, heißt das ja nicht, dass es ihn nicht gibt! Vielleicht wollte Werner …
Martin widerspricht und verweist auf Grubers Aussage, dass dies eine Dorflegende sei. Aber die Frage, warum Werner allein tauchen ging, kann er nicht beantworten. Vielleicht, weil der so ein Ehrgeizling war?
Gloria geht dazwischen. Sie habe Werner kaum gekannt, aber er sei ja wohl nicht der Typ gewesen, der sich leichtsinnig in Gefahr bringt. Der war penibel und vorsichtig.
Martin ist zu sehr Polizist, um nicht auch über die Frage nachzudenken, ob es möglicherweise kein Unfall war. Man muss die Obduktion abwarten, denkt er dann. Er bestellt sich einen gemischten Salat und ein kleines Bier.
»Kein Uhudler heute?«, fragt Adele Hofer mit bedeutungsvollem Augenaufschlag und spöttischem Unterton.
»Abends vielleicht«, lügt Martin, der Frauen mit schönen Augen erst einmal abgeschworen hat. Und allen anderen auch. Er beteiligt sich nicht an Diskussionen über mögliche Ausflüge am freien Nachmittag. Andreas möchte zum »Paradeiserkönig« nach Frauenkirchen, wo Erich Stekovics mehr als vierhundertfünfzig verschiedene Sorten Tomaten anbaut. Gloria will lieber die nähere Umgebung erkunden, Lorelei zum Geburtshaus von Ladislaus Almásy in Bernstein, weil der doch das legendäre Vorbild für die Hauptfigur im Englischen Patienten gewesen sei.
Franz neigt einerseits zum Paradeiserkönig, aber dann möchte er doch lieber hierbleiben, vielleicht einen Mittagsschlaf machen, es war ja wirklich ein anstrengender Vormittag. Martin entschuldigt sich mit Arbeit, die er mit nach Wildstätten gebracht habe. Vielleicht danach baden gehen oder joggen, je nachdem, wie heiß es am späteren Nachmittag noch ist.
Also trennen sie sich nach dem Mittagessen, wobei Andreas andeutet, dass er sich Lorelei anschließen könnte, der Stekovics würde ihm ja nicht weglaufen.
»Ich klopf dann später bei dir an«, sagt Martin zu Franz, »so in zwei Stunden, wenn du deinen Schönheitsschlaf hinter dir hast.«
Sie haben das Thema Salzburg und Caro bisher vermieden, denkt Franz. Vielleicht wär’s auch besser, wenn sie nie mehr darüber sprechen. Er zieht die Vorhänge zu und legt sich aufs Bett. Das Buch über Hans Hass, Österreichs berühmtesten Taucher, liegt weiterhin ungelesen auf seinem Nachttisch neben der Bibel. Er schließt die Augen und geht die Ereignisse des Vormittags noch einmal durch. Er war so stolz auf sich, dass er sich getraut hat, ins Wasser zu springen und bis fünf Meter Tiefe zu tauchen. Eigentlich war’s ganz einfach, er fühlte sich auf einmal schwerelos, so leicht glitt er durchs Wasser. Doch dann seine Entdeckung. Wie sie darauf zutauchten und er so dringend hoffte, dass es irgendwas sei, nur kein Mensch. Und dann erkannten sie, dass es Werner war. Kurz darauf gab Benni das Zeichen zum Auftauchen. Franz war so erschrocken, dass er beinahe das Atmen vergaß. Und jetzt fällt ihm wieder ein, dass Werner am Vorabend mindestens zweimal zu ihm sagte, dass man nie alleine tauchen darf. Warum zum Teufel hat er es dann getan?
Nach einer gefühlten Ewigkeit, es waren fünfzig Minuten, beschließt Franz, den Mittagsschlaf zu vergessen. Erstens hat er Durst und zweitens Lust, sich die Beine zu vertreten. Allein, Martin wollte ja noch arbeiten. Draußen ist es sonnig, aber nicht mehr so heiß. Er setzt seinen Panamahut auf und zieht eine Art Safarianzug an. Schön leicht und weit und fürs Burgenland passend, wie er findet.
Franz kauft sich noch eine Flasche Mineralwasser und marschiert los. Den See lässt er links liegen und biegt rechts auf den Waldweg ein. Schattig ist es dort und sehr viel angenehmer als in der prallen Sonne. Mischwald, der Boden ziemlich dicht mit Moosen und Farnen bewachsen, er folgt weiter dem schmalen Pfad. Früher wäre Franz gerne Förster geworden. Mit einer hübschen Förstersfrau, drei Kindern und zwei Dackeln in einem idyllischen Forsthaus. Ja, das hätte er sich gut vorstellen können, aber das Leben mischt die Karten anders – und schon bist du ein Kieberer. Das Slangwort stört ihn überhaupt nicht, klingt außerdem charmanter als »Polizist«.
Er lauscht den Vögeln, schaut nach oben und stolpert beinahe über eine Wurzel, fängt sich im letzten Augenblick. »Potschert«, murmelt er vor sich hin und schaut wieder nach unten und geradeaus. Plötzlich hört er ein Fauchen. Furchterregend. Dann sieht er etwas näher kommen. Etwas Schwarzes. Großes. Schnelles. Martins Katze, denkt Franz. Entdeckt das Tier – vielleicht noch fünf Meter von ihm entfernt. Gelbe Augen. Und ein Körper, der zum Sprung ansetzt.
Keine Katze. Viel, viel größer. Sich ducken hilft überhaupt nicht. Fürs Wegrennen ist es zu spät. In diesen Sekunden der Todesangst geht ihm alles und nichts durch den Kopf, er wartet wie gelähmt auf das Unausweichliche … und dann fällt ein Schuss. So laut, wie noch kein Schuss zuvor war im Leben von Franz Fassl. Das Tier stürzt zu Boden, bleibt liegen.
Franz richtet sich auf. Den Hut hat er verloren, den klaubt er vom Boden auf. Ob die Großkatze wirklich tot ist? Zweite Frage: Wie kommt ein Panther nach Wildstätten?
Ein hochgewachsener Mann in grüner Jagdmontur und mit Gewehr im Anschlag hat sich dem Tier genähert, bleibt davor stehen, vergewissert sich, dass keine Gefahr mehr droht.
»Ist er tot?«, fragt Franz.
Der Jäger blickt hoch. »Aber sicher doch. Blattschuss. Sie können ruhig herkommen und sich den Panther aus der Nähe anschauen.«
Franz gehorcht und registriert leicht zitternde Knie. Bleibt neben Panther und Jäger stehen. »Franz Fassbinder«, sagt er. »Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet.«
Der Schütze ist unbeeindruckt. »Emmerich Graf Almázoky. Gern geschehen. Ich bin dem Panther schon seit zwei Tagen auf der Spur. Er hat einen Hund gerissen, drüben auf der anderen Seeseite.« Der alte Mann mit sehr hellen Augen, weißem Schnauzbart und einem Jägerhut auf dem fast kahlen Haupt mustert Franz für einen Augenblick: »Sie wären fette Beute gewesen.«
Das findet Franz nicht sehr charmant, aber seinem Lebensretter würde er hier und jetzt alles verzeihen. »Und was passiert nun mit dem Vieh? Wie kommt überhaupt ein Panther nach Wildstätten?«
Almázoky beschäftigt eine andere Frage: Wie bringt er das Tier zum Schloss? Er kann den toten Panther ja nicht gut hier liegen lassen. Andererseits hat er sein Mobiltelefon vergessen. Eine Alterserscheinung, diese lästige Vergesslichkeit. »Wir nehmen ihn mit«, sagt er, »Sie helfen mir dabei. Dafür kriegen Sie einen vierzig Jahre alten Single Malt von mir. Ich hab die früher gesammelt. Großkatzen übrigens auch. Aber dieses Hobby habe ich vor mehr als zehn Jahren aufgegeben. War mir zu aufwendig, hab die Viecher dann an Zoos verschenkt. Alle!«
Vielleicht doch nicht? Franz fällt nur ein zu fragen, ob es weit ist zum Schloss.
»Vielleicht ein halber Kilometer. Das schaffen wir schon.«
Tun sie nicht. Die über hundert Kilo erweisen sich zu schwer für einen alten Mann und einen untersetzten Polizisten, der schon fitter war und außerdem unter Schock steht. Franz leiht dem Grafen sein Handy, und der telefoniert mit seinem Verwalter, damit der Leute schickt, um den Panther zu bergen. Dann nimmt er Franz doch noch mit. Aus Güte. Weil der Junge immer noch ganz bleich ist. Er stapft voran, und Franz folgt ihm vorsichtig, während ein Gedanke in seinem Kopf spukt: Gibt es vielleicht mehr als einen Panther in diesen Wäldern?
Ihr Ziel erreichen sie nach zwanzig Minuten, es liegt auf einer kleinen Anhöhe und sieht imposant aus, beim Näherkommen ein wenig marode. »1310«, sagt der Graf, »danach gab es einen spätgotischen Umbau, und schließlich wurde barockisiert, ein schöner Mischmasch ist das, und über die Unterhaltskosten möchte ich gar nicht erst reden. Meine Tochter und ich bewohnen nur etwa die Hälfte des Anwesens, allein das Heizen würd uns sonst ruinieren.«
Sie treten durch ein schmiedeeisernes Tor in einen Innenhof. Ein Dackel kommt ihnen entgegengerannt, heftig bellend umkreist er den Grafen und seinen Besucher. »Ruhig, Kertez«, schreit der Graf. Der Hund verstummt augenblicklich.
»Kertez – nach dem berühmten Schriftsteller. Er war einmal bei uns zu Gast, als ich den Hund grad von der Züchterin geholt hatte. Als Jagdhund eigentlich, aber das dumme Vieh fällt in Ohnmacht, wenn es Schüsse hört. Ein genetischer Defekt. Ich wollte Kertez ja erschießen oder zumindest weggeben, aber meine Tochter hängt an ihm. Frauen können so sentimental sein.«
Sie gehen durch den Rittersaal weiter in die privaten Gemächer. Die Bibliothek beherbergt auch eine versteckte Bar, in der unendlich viele Whiskyflaschen stehen. Franz ist kein Experte, und eigentlich hätte er lieber ein Bier, doch diesen Wunsch wagt er nicht zu äußern.
Der Graf gießt Wasser aus einer Karaffe in zwei Becher, dann den Vierzigjährigen in Whiskygläser. »Tja, dann mein Lieber, auf den Blattschuss! Ich treffe immer, das darf ich in aller Bescheidenheit sagen. Und was führt Sie nach Wildstätten?«
»Tauchkurs«, sagt Franz. Der Whisky brennt in seiner Kehle, er spült mit Wasser nach.
»Ein degoutantes Hobby. Wenn der Mensch dafür geboren wäre, sich unter Wasser fortzubewegen, hätte er Kiemen und Flossen.« Der Graf scheucht Kertez aus der Bibliothek und weist auf zwei brokatbezogene Sessel. »Setzen wir uns doch. Ich habe gehört, es hat heute einen Toten gegeben?«
Schlechte Nachrichten verbreiten sich schnell. Franz stellt sein Whiskyglas vorsichtig auf den antiken Tisch, er tippt auf Barock. »Ja, eine Tragödie. Werner Strachnitz, der hiesige Polizist. Wir haben ihn gefunden, der Tauchlehrer und ich. Ertrunken. Man vermutet eine Panikattacke.«
»Soso, der Tauchlehrer«, sagt Almázoky und betont jede Silbe, als wäre sie ätzend. »Ein sehr umtriebiger Bursche. Aber man hält sich von solchen Menschen ja fern.«
Franz sagt nichts, bestaunt die Malerei an der Stuckdecke. Das Schweigen breitet sich unangenehm aus. Obwohl es ein sehr warmer Tag ist, bleibt das Innere des Schlosses offenbar kühl. Franz mag sich nicht vorstellen, welche Temperaturen hier im Winter herrschen.
»Wir werden der Sache mit dem Panther auf den Grund gehen«, sagt der Graf schließlich. »Ich habe eine Jagd in Südwest, wissen Sie, und seinerzeit habe ich viele Großkatzen geschossen, ein paar sogar lebend hierhergeschafft. Aber dann verlor ich das Interesse daran und transferierte meinen Enthusiasmus auf das Sammeln von Amphibien und Kleinreptilien. Sehr interessante Spezies, ich würde sie Ihnen gern zeigen, muss mich aber jetzt um den Panther kümmern. Wir sollten ihn ausstopfen lassen, war ja ein Prachtexemplar.«
»Vielleicht auf ein andermal«, sagt Franz, der hofft, dass es nie eintreten wird. »Und vielen Dank für den hervorragenden Malt. Und die Lebensrettung natürlich.«
Almázoky nimmt die Danksagung mit huldvollem Lächeln entgegen. Er steht auf, also muss Franz es auch tun. Er folgt dem Gastgeber in den Innenhof. Der jagduntaugliche Dackel bellt wieder. Eine Frau kommt ihnen entgegen, die ebenfalls Jagdkleidung trägt. Sie ignoriert Franz zunächst und wendet sich an den Grafen: »Papá, was machst du nur für Sachen? Du wolltest doch ein Kaninchen fürs Abendessen schießen! Was sollen wir denn mit einem Panther?«
»Essen?«, erwidert Almázoky und lacht wiehernd über seinen Witz. Dann stellt er Franz vor, das potenzielle Pantherfutter, noch ein Lacher. »Und das ist meine Tochter: Valery Gräfin Almázoky. Sie führt meine Geschäfte hier, wenn sie nicht gerade in Wien ist und Leuten Jagdsafaris zu unverschämten Preisen andreht.«
»Du bist unmöglich«, sagt sie und schenkt Franz das kürzeste Lächeln aller Zeiten. »Tut mir leid, aber ich muss jetzt los und im Dorf was besorgen.«
»Dann nimm doch den jungen Mann mit, er wohnt im Seeblick, das ist ja kaum ein Umweg.«
Sie sieht Franz an, als wollte sie ihn köpfen lassen, sagt dann aber: »Warum nicht?« Die Gräfin küsst Papá auf beide Wangen und marschiert hinaus auf den Vorplatz, auf dem drei Autos geparkt sind. Per Fernbedienung öffnet sie die Türen des Landrovers und weist Franz an, hinten Platz zu nehmen, weil sie den Vordersitz vollgepackt hat.
Sie fährt schnell und aggressiv und bremst so abrupt vor dem Gasthof, dass Franz sich beinah den Kopf gestoßen hätte. Er steigt aus und bedankt sich artig. Schlägt so sanft wie möglich die Autotür zu und sieht ihr nach, wie sie mit quietschenden Reifen davonbraust. So eine arrogante Trutschn. Definitiv nicht sein Typ!