6
Der Himmel ist wolkenlos, und schon um neun Uhr morgens ist es sommerwarm. Also entscheidet die Wirtin, dass draußen gefrühstückt wird. Als Fassl auf die Terrasse kommt, ist er angenehm überrascht. Im Gegensatz zum rustikalen Landhausstil in diesem und den meisten Gasthäusern, die er kennt, gibt es draußen nichts zu motschgern. Tische in hellem Holz, dazu gemütliche Korbsessel in Grün mit dicken weißen Polstern, die mit dem weiß-grünen Frühstücksgeschirr korrespondieren.
Franz lässt sich mit seinem Frühstückstablett an einem der Tische nieder: drei Stück Bauernbrot, Bauernbutter, Schinken, Ei, Uhudlermarmelade, und zum Drüberstreuen ein kleines Schüsserl Mangalitza-Grammelschmalz. Nur zum Kosten. Während er zu essen beginnt, schaut er über eine Reihe weißer Pelargonien in den angrenzenden Obstgarten und träumt vom Seele-baumeln-Lassen zwischen Apfelbäumen. Eine Hängematte wäre bei seinem momentanen Gewichtsstatus vielleicht zu gewagt, aber die Wirtsleute haben sicher irgendwo einen stabilen Liegestuhl. Gute Idee für ein Nachmittagsprogramm ohne Martin, der eh zu seinem Freund Robert nach Graz fahren will.
»Ich glaub, ich spinn!« Martin Glück unterbricht den Wachtraum seines Freundes. »Bin ich nur noch von chaotischen Frauen umgeben?«
Franz gibt zwischen zwei Bissen ein fragendes Grunzen von sich, das als Antwort genügen muss.
Martin schenkt sich Kaffee ein: »Du wirst es nicht glauben, die Romana hat ihren Flug verpasst!! Und warum? Weil sie den Reisepass verlegt hat … Wartet ewig, dass sie einen Platz im Flieger kriegt, und dann versäumt sie den Flug. Jetzt will sie schon wieder von mir, dass ich sofort nach Kärnten fahre, um dort den Alex zu überwachen, der die Arbeiter überwacht.«
»Und? Fährst du?«
»Ich denk nicht daran. Hab ihr gesagt, wir haben hier einen Mordfall. Daraufhin hat sie beleidigt aufgelegt.« Er nimmt einen Schluck aus der Tasse. »Pfui Teufel, der Kaffee ist ja vielleicht grauslich«, schiebt er sie weg. »Wie kannst du so ein Gschloder trinken, Franz?«
Der grinst. »Schau in mein Häferl, ich hab mir vorsorglich gleich einen Cappuccino bestellt.«
»Gute Idee!« Martin winkt der Kellnerin und deutet auf Fassls Kaffee.
Auf Martins Handy wird eine Mail von Lotte angezeigt. Martin müsse für ihren neuen Freund unbedingt … sie habe nämlich verabsäumt … Er liest nicht weiter. Sie will wieder etwas von ihm. Seine Mutter meldet sich überwiegend nur, wenn sie einen Gefallen braucht. Und im Augenblick hat er keine Lust darauf.
»Sag, Franz, was hab ich für ein schreckliches Karma, dass ich von komplizierten Frauen umzingelt bin? Schlamperte, Exzentrische, Hysterische … was weiß ich. Beginnend mit meiner Mutter, dann die Romana, die Larissa. Ja eigentlich hat’s schon in meiner Jugend angefangen mit der Chaos-Kathi. So hab ich sie genannt, weil sie zwar süß, aber ganz schön neben der Spur war. Mit der war ich übrigens einmal am Neusiedler See zum Segeln – vor hundert Jahren.«
»Und die Lily? Die war doch ganz okay.« Wobei Fassl fehlerlose Frauen fad finden würde.
»Ja die Lily, stimmt.« Martin lächelt in Erinnerung an die Kollegin vom Wörthersee, die etwas mehr geworden war und sehr viel mehr hätte werden können. »Das hab ich verhunzt.« Mehr sagt er nicht. Wie viele Männer gleitet er ungern ins Gefühlsbetonte ab. »Müss ma nicht bald los, zur Befragung?«
»Zehn Minuten noch.«
»Da geht sich für mich noch ein schneller Espresso aus.« Gloria steht vor ihnen, und mit einem rhetorischen »Darf ich?« nimmt sie Platz. Mit ihrer zart violett geblümten Bluse und ihren weißen Bermudas wirkt sie noch jünger, als sie ist. Dazu ihr plötzlich ganz sanftes Lächeln: »Ich wollte mich wegen gestern entschuldigen. Normalerweise hab ich meinen Jähzorn ganz gut im Griff, aber wenn es um Tiere geht … Ich liebe sie einfach alle und kann ganz schön rabiat werden bei dem Thema.«
»Angenommen.« Franz und Martin sind nicht von der nachtragenden Sorte. Meistens.
»Dafür lad ich euch heut Nachmittag irgendwo auf einen Drink ein.«
»Der Martin fährt aber nach Graz«, sagt Fassl. Und ich träume im Obstgarten von meiner Heidi, denkt er.
»Nein, aus Graz wird nichts, Franz. Ich hab den Robert angerufen, der ist den ganzen Nachmittag in der Ordination, und am Abend sind sie eingeladen. Er will mir morgen am Telefon was dazu sagen. Also bin ich für ein Wiedergutmachungsgetränk schon zu haben. Sag, Gloria, hast du übrigens dein Handy gefunden?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein. Ich bin schon megaverzweifelt. Da sind alle wichtigen Daten drauf, Telefonnummern, Fotos, Recherchen, einfach alles.«
Chaotisch, denkt Martin und sagt: »So ein Pech!«
»Gemma, die warten da unten sicher schon auf uns.« Franz wird ungeduldig.
»Ob jemand an meine Recherchen wollte?«, meint Gloria, während sie die paar Schritte zum See gehen.
Du hast dein Telefon schlicht und einfach verloren, denkt Martin. Und welche Recherchen meint sie denn?
Vor dem Steg haben sich Benni und der Rest der Tauchergruppe um Postenkommandant Sepp Gruber versammelt. Der See kommt Martin heute dunkler und unheimlicher vor als am Vortag. Was für ein Kontrast zum blauen Himmel! Da hinuntertauchen, in dieses Wasser, in dem ein Mensch … Nein, das will heute wohl niemand. Vielleicht ist allen überhaupt die Lust aufs Tauchen vergangen.
Franz kann Gedanken lesen: »Du, ich hoffe, der Kurs wird nicht abgesagt. Ich muss ihn machen, sonst kann ich der Heidi nie mehr gegenübertreten.«
»Sei nicht kindisch«, sagt Martin. »Das mit dem Tauchen war doch nur eine kleine Angeberlüge von dir, weil du sie beeindrucken wolltest. Die wird sie dir wohl verzeihen. Hast ja schließlich so viele andere Qualitäten.«
Franz ein wenig kleinlaut: »Aber sie kennt mich noch nicht so gut. Wir hatten ja erst ein paar Dates.«
»Trotzdem, wenn eine Frau eine nähere Beziehung zu mir von Tauchkenntnissen abhängig macht, kann ich gut auf sie verzichten. Du musst das Ganze selbstbewusster angehen.«
»Da ist es ja gut, dass du nie mit deinem Kultur-Gen geschwindelt hast«, kontert Franz spöttisch und könnte sich auf der Stelle ohrfeigen. »Entschuldige, ich weiß nicht, wieso mir so etwas Blödes rausgerutscht ist.«
Vor ihrer beider Augen steht jetzt Caro. Salzburg. Und ein fast perfekter Mord.
Sepp Gruber beendet die Schrecksekunde: »Guten Morgen, die Herren Kollegen«, ruft er ihnen freundlich zu. »Guten Morgen, Fräulein Weinzierl!«
Die Angesprochene will gerade auf das »Fräulein« was erwidern, da hält Gruber ein iPhone in die Höhe. »Schaut’s, was wir da im Gebüsch g’funden haben. Das erzählt uns vielleicht, was dem Strachnitz passiert ist. Könnte ja der Täter verloren haben – falls es überhaupt ein Mord war. Dem Werner gehört’s jedenfalls nicht. Der hatte ein Samsung, das im Übrigen verschwunden ist.«
»Da ist es ja!«, ruft Gloria erfreut und stürzt auf den Polizisten zu. »Das ist mein Handy, das suche ich seit gestern verzweifelt.«
Gruber wehrt ab: »Immer langsam, Fräulein. Das Telefon wurde gewissermaßen an einem Tatort gefunden und muss erst einmal überprüft werden. Wenn sich herausstellt, dass der Tauchunfall ein Unfall war, dann kriegen S’ Ihr iPhone zurück.«
Gloria wird blass. »Wieso? Bin ich vielleicht verdächtig? Ich war doch mit den anderen beim Tauchkurs zusammen.« Martin sieht ihr an, wie sich ziemlich rasch Erstaunen in Wut verwandelt. Er wirft ihr einen warnenden Blick zu und wendet sich an Gruber: »Ich bitt Sie, Herr Kollege! Weiß man denn überhaupt schon den Todeszeitpunkt?«
»Ja, gestern, circa neun in der Früh. Wie schaut’s da mit einem Alibi aus, Fräulein?«
Gloria schnappt zurück: »Da war ich mit den anderen beim Frühstück.« Alle bestätigen das.
Gruber, der es irgendwie genießt, die Kleine aus der Stadt ein bissel zappeln zu sehen, lässt schließlich Gnade walten. »Also gut, Sie kriegen Ihr Telefon zurück, aber vorher schau ma uns noch Ihre Anrufe, SMS und so an.«
Martin findet, der Mann schießt übers Ziel hinaus, doch die sonst so streitbare Gloria tippt wortlos ihren Pin-Code ein und reicht Gruber ihr Handy.
Der drückt eifrig herum und schaut plötzlich alarmiert auf. »Null sechs sechs vier sechs eins drei … Aber das is ja die Nummer vom Werner seinem Handy. Die kenn i auswendig. Der Anruf is um acht Uhr zehn eingegangen. Wieso hat der Werner Sie angerufen?«
Gloria reagiert keineswegs schuldbewusst. »Na so was! Der hat mich angerufen? Hab ich nicht gehört. Da hatte ich das Handy wahrscheinlich noch auf lautlos gestellt. Hat er was auf die Mobilbox gesprochen?«
Der Postenkommandant schaltet auf laut: Werner Strachnitz hier. Also, ich weiß jetzt über dich Bescheid. Sehr interessant! Wir müssen dringend reden. Nach dem Tauchkurs?
Gloria sieht erstaunt den Postenkommandanten an, stutzt kurz und blickt dann nachdenklich über den See.
»Was weiß er über Sie? Wollte er Sie vielleicht erpressen?«
Sie wendet sich wieder dem Polizisten zu. »Blödsinn, Herr Gruber …«
»Bezirksinspektor«, korrigiert Sepp Gruber, der jetzt besonders aufrecht steht, um ein paar Zentimeter autoritärer zu wirken.
»Also, Herr Bezirksinspektor, ich könnte mir vorstellen, dass er mir brisante Infos für einen Artikel geben wollte.«
»Und was wäre das Brisante?«, bohrt der Postenkommandant nach.
»Das weiß ich eben nicht«, antwortet Gloria ausweichend. Einschüchtern lässt sie sich nicht so leicht, und schon gar nicht von einem burgenländischen Dorfpolizisten.
Mit einem »Darüber reden wir noch« lässt Gruber von der jungen Journalistin ab und wendet sich den anderen Kursteilnehmern zu. Sie werden gefragt, wo sie wann waren und ob ihnen am Vorabend an Werner Strachnitz oder überhaupt etwas aufgefallen sei.
Franz berichtet, wie er die Leiche entdeckt hat.
»Nein, ich!«, ärgert sich Lorelei. »Ich habe schließlich als Erste seine Weste gesehen und Benni gefragt, ob das nicht Werner ist.«
»Wie bitte? Du hast mich gefragt, ob das Orange-Gelbe da unten Korallen sind. Kein Wort über Werner.«
Lorelei findet das sehr uncharmant von Benni und ist jetzt eingeschnappt. Der Reihe nach geben alle das Wenige wieder, das sie zur Sache beitragen können. Einig sind sie sich darüber, dass der alleinige Tauchgang so gar nicht zu Werner passt. Mit der Bemerkung »Jetzt müss ma halt auf die Obduktion warten« beschließt Sepp Gruber die Befragung, bei der wenig herauskam außer Schweißperlen.
Auf dem Rückweg spekulieren Andreas und Lorelei über Werners brisante Infos für die Zeitung, Gloria spaziert allein und nachdenklich in Richtung Gasthof. Die weiß garantiert mehr, so Martins Bauchgefühl.
Franz hat sich dem Postenkommandanten angeschlossen und erzählt von dem Auftritt der Frieda Strachnitz am Vorabend. »Was kann die damit gemeint haben, als sie sagte, sie und die Adele hätten noch eine Rechnung offen.«
»Ah, die Frieda«, lacht Gruber. »Eine schwierige Person. Künstlerin. Manchmal kommen sogar Wiener her und kaufen ihr diesen Schmarrn ab. Nackte Frauen! Ich bitt Sie! Aber was soll die arme Adele denn mit dem Tod vom Werner zu tun haben? Die haben sich meines Wissens kaum gekannt. Der Werner war kein Gasthausgeher und auch sonst eher zurückgezogen. Hat sich für die Vögel im Seewinkel interessiert und war jede freie Minute dort.«
Jetzt hakt Martin nach: »Aber sie hat das ja nicht so dahingesagt …?«
»Vielleicht hat das was mit dem Unfall seinerzeit zu tun«, meint Gruber. »Irgendwie liegt ein Fluch über der Familie Strachnitz. Vor zehn Jahren ist der jüngere Bruder vom Werner von einem Auto überfahren worden, Fahrerflucht. Dann die G’schicht mit dem Willi, dem Vater – und jetzt das.«
Ob die Adele Hofer vielleicht was mit dem Unfall vor zehn Jahren …?, will Franz wissen.
Gruber fühlt sich in seiner Dorfpolizistenehre gekränkt. »Nein, sicher nicht. Aber vielleicht hat sich die Frieda da was zusammeng’reimt. Hat die Adele ja nie leiden können. War immer a bissel neidisch auf die Jüngere. Frieda war früher ja selbst a Schönheit. Aber jetzt halt schon in ihren Siebzigern. Nach dem Unfall wurden eh alle aus der näheren Umgebung überprüft. Ich müsst nachschauen, was die Adele ausg’sagt hat. Aber es war bestimmt einer von diesen Touristen, die wie die Verrückten fahren.«
Franz und Martin sehen einander an und denken dasselbe: Man sollte mit Frieda Strachnitz reden.
Sie stehen jetzt im Schatten einer Linde. »Und das mit dem Schlaganfall vom Vater vom Werner, das war damals a ganz a pikante G’schicht«, erinnert sich der Postenkommandant.
»Wieso?«
Gruber beginnt zu flüstern: »Na ja, die Rettung hat damals einen anonymen Anruf kriegt, sie sollen zu einer bestimmten Wohnung in Eisenstadt. Weil dort ein Mann mit einem Schlaganfall liegt. Die Wohnung hat sich dann als illegales Puff herausgestellt.« Er schaut sich kurz um, ob wohl ja niemand mithört. »Und dort ist er g’legen, der Willi, ganz allein und wie Gott ihn erschaffen hat. Alle waren ausgeflogen. Die Sanitäter haben den Willi ins Spital gebracht und vom Rettungswagen noch bei uns ang’rufen. Da hat aber ausgerechnet der Werner abg’hoben. Der war vielleicht fertig. Kann man sich eh vorstellen. Der Vater, kleiner Gemeindeangestellter, immer redlich, ein Oberlehrertyp, wie er im Buche steht. Und dann ein Schlaganfall im Puff. Der Frau vom Willi haben wir g’sagt, es ist auf der Straße passiert. Ja, und seither sitzt er im Rollstuhl.«
Auf die Frage, ob Frieda Strachnitz auch im Dorf wohne, erfahren sie, dass sie »a uraltes Haus in der Weinkellergassen« hat. Voll mit ihren Bildern sei das Haus, und fast ohne Möbel. Viele bunte Sitzkissen, und riechen tät’s bis auf die Gasse raus nach so was Exotischem. Räucherstäbchen oder so. Man könne es wirklich nicht verfehlen.
***
Der Vorschlag kam von Lorelei. Sie habe gelesen, die Mole West in Neusiedl sei die In-Location am Neusiedler See. Café, Restaurant, Bar und Marina zugleich. Überhaupt wäre es doch nett, sich den Neusiedler See anzuschauen, wo sie schon einmal da sind. Ein idealer Platz, ihren Wiedergutmachungsdrink auszugeben, fand daraufhin Gloria.
Und jetzt sind sie unterwegs dorthin. Im Volvo von Andreas, der sich als Fahrer zur Verfügung gestellt hat. Vorne neben ihm Franz, hinten Martin zwischen Gloria und Lorelei.
Die sanfte Hügel- und Terrassenlandschaft der Wildstätter Umgebung mit vereinzelten Weingärten und ein paar Mohnfeldern, wo sich der Klatschmohn schon auf die Blüte vorbereitet, haben sie hinter sich gelassen.
Andreas spielt Fremdenführer und erklärt, dass das Burgenland von den unterschiedlichsten Landschaften geprägt sei: Weinberge, Hügel, Wald, endlose Ebenen, Steppe, Seen, nicht zu vergessen die Salzlacken und den Seewinkel. Der sei bei den Ornithologen aus der ganzen Welt bekannt wegen der vielen Vogelarten. Jetzt komme man gleich zu den berühmtesten Weinbaugebieten, die lägen alle rund um den Neusiedler See.
»So, da sind wir, sagt das Navi. Weiter geht’s mit dem Auto offenbar nicht.« Andreas stellt den Wagen auf einem großen Parkplatz ab.
Ja, direkt hinfahren könne man nicht, weiß Lorelei aus ihrer Lektüre. Die Mole West sei entweder per Boot oder per pedes erreichbar.
Eine halbe Stunde später sitzen sie jeder mit einem Glas Wein – Andreas trinkt Wasser – in der Mole West und schauen auf den See, den die langsam sinkende Sonne in ein leuchtendes Farbenspiel taucht. Neusiedler See zur blauen Stunde. Lounge-Möbel und bequeme Stühle auf Holzplanken. Sie haben einen Tisch ganz vorne, direkt am See, ergattert. Wasser, so weit das Auge reicht. Vertaute Segelboote schaukeln im Wind und klackern aneinander. Über ihnen ziehen Vögel ihre Bahnen. Am Nebentisch streitet sich lautstark ein ungarisches Paar.
Lorelei erzählt, dass sie in Deutschland regelmäßig an einer Regatta teilnimmt. Mit ganz tollen und wichtigen Leuten. Martin berichtet von seinem Segelurlaub am Neusiedler See mit seiner chaotischen Jugendfreundin. Sein Blick wandert zu Gloria – und jetzt weiß er endlich, an wen sie ihn erinnert.
Sie erzählt, dass sie zu ihrem dreiundzwanzigsten Geburtstag von ihren Eltern einen Segelkurs geschenkt bekam. »Also einen Gutschein halt, weil im April ja noch Lockdown war.«
Martin: »Du hast im April Geburtstag?«
»Und warum machst du dann einen Tauchkurs und nicht einen Segelkurs?«, fragt Franz.
»Den Segelkurs mach ich später im Sommer. Der Tauchkurs ist dienstlich, darüber schreibe ich in meiner Zeitung.« Gloria sieht Martin an. »Was schaust du denn heut so komisch?«
Dreiundzwanzigster Geburtstag, denkt Martin und beginnt zu rechnen. Doch er kommt nicht weit.
»Ja, da schau her! Der glücklose Glück! Hahaha. Wieder einmal strafversetzt?«, ruft ein kleiner, untersetzter Mann vom Nebentisch herüber. Martin kommt er vage bekannt vor. Er hasst Wortspiele mit seinem Namen.
»Jetzt wissen S’ natürlich net, wer ich bin, gell? Immer noch a bissel schwummelig beim Anblick von Leichen?« Als der Mann drei Stück Zucker in seinen Espresso gibt und endlos umrührt, weiß Martin endlich, wen er vor sich hat: Professor Neumann, den verrückten Gerichtsmediziner aus Graz, mit dem er während seiner Verbannung in der Steiermark zu tun hatte.
»Unser Grazer Leichenschänder! Natürlich hab ich Sie erkannt. Machen Sie hier Urlaub?«
»Nein, mich hat die Liebe ins schöne Burgenland verschlagen. Ich arbeite jetzt in der Gerichtsmedizin in Eisenstadt, wo meine Auserwählte eine Zahnarztpraxis hat. Ich wühle tagsüber in Toten, sie in grauslichen Karies-Zahnreihen – da haben wir uns abends einiges zu erzählen. Haha. Und Sie, lieber Glück?«
»Ich bin wieder in Gnade gefallen und in Wien. Hier mache ich grad einen Tauchkurs. Wir alle an diesem Tisch.«
»Im seichten Neusiedler See??« Neumann lacht wie ein irres Wiesel.
Als Martin erklärt, dass es sich um den Wildstätter See handelt, wird der Pathologe plötzlich ernst. »Da war doch das mit dem toten Taucher. Mein Kollege, der Ferenczy, hat den auf dem Tisch.«
»Ja, wahrscheinlich ein tragischer Tauchunfall«, sagt Martin und beschließt, den Professor am nächsten Tag anzurufen.
Auf der Rückfahrt nach Wildstätten herrscht Stille im Auto. Nach ein paar Gläsern Wein und herrlichem Essen hat sich Müdigkeit breitgemacht. Um Andreas wachzuhalten, beginnt Franz ein Gespräch. Zuerst über Autos, dann übers Tauchen, und schließlich landen sie bei Werner Strachnitz. Er glaube auch, dass das ein Unfall war, meint Andreas. Die Gefahr beim Tauchen werde von den meisten Leuten unterschätzt. »Die denken, wenn sie das ABC können, beherrschen sie das ganze Alphabet.«
Franz springt über seinen Schatten und merkt halb bewundernd halb neidvoll an: »Aber der Benni, der ist doch ein erstklassiger Tauchlehrer, von dem können wir schon was lernen.«
Ein kurzer Seitenblick des Fahrers: »Mir kommt er eher wie ein Typ vor, der sich maßlos überschätzt. Und das ist gefährlich.«