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»Was können S’ mir denn anbieten, lieber Glück? Mit Sturm-Graz-Karten kann ich bei einem Wiener wohl kaum rechnen«, eröffnet Professor Neumann das Telefongespräch.
»Wär aber möglich«, sagt Martin und denkt dabei an die Sportjournalistin Gloria. »Ich versuche mein Bestes.«
Neumann schickt sein irres Lachen durch den Äther. »Ja, wenn die Aussichten so sind, will ich mal loslegen. Nachdem ich Ihre Nachricht abgehört hab, hab ich mich mit dem Kollegen Ferenczy ausgetauscht. Also, der sagt, es war Wasser in den Lungen, was Tod durch Ertrinken bedeutet. Heißt aber natürlich noch nicht, dass nicht auch was anderes dahinterstecken kann. Aber fürs Erste hat er nichts Auffälliges entdeckt.«
»Keine Anzeichen von einem Pneumothorax durch verengte Bronchien oder einer Dekompressionskrankheit?«, hakt Martin nach.
»Na, da schau her! Der Chefinspektor kennt sich ja aus. Chapeau! Also, bei einem Pneumothorax wäre die Lunge ganz klein, in sich zusammengefallen. Das war nicht der Fall. Und eine Dekompressionskrankheit erkennt man auf den ersten Blick nicht wirklich. Da kommt es durch das Platzen der Alveolen, der Lungenbläschen, zu einer Luftembolie, häufig im Hirn. Luft im Hirn haben ja eigentlich viele, werden Sie sich jetzt sagen, hahaha.« Der Arzt lacht kurz über seinen Scherz und wird dann wieder ernst. »Aber bei der Dekompressionskrankheit, der DCS, können die Latenzzeiten unterschiedlich lang sein, das heißt, die Symptome treten erst auf, nachdem der Taucher die Wasseroberfläche erreicht hat, oft auch viel später.«
Martin macht sich Notizen: »Das heißt, das ist in diesem Fall eher unwahrscheinlich, weil unser Tauchkollege ja auf dem Grund des Sees gefunden wurde. Sehe ich das richtig?«
»Grundsätzlich ja. Aber natürlich könnte Ihr Taucher dann noch einmal ins Wasser gefallen sein. Andererseits hat der Ferenczy keine Taucherflöhe gefunden.«
»Keine was?«
»Das sind Rötungen auf der Haut als Folge von Mikroembolisationen der Hautgefäße durch Stickstoffblasen. Das tritt bei einer muskuloskelettalen DCS auf.«
Will Martin wirklich ausführlich erklärt bekommen, was das jetzt genau ist mit den Mikro… und der muskulodingsda? Eher nein. Nach den Ausführungen des Professors fallen für ihn zumindest Panikattacke und Asthma als Ursache für Werners Tod weg. Jetzt hat er noch eine Bitte an den Pathologen: »Könnten Sie checken beziehungsweise nachschauen lassen, ob es irgendwo Druckstellen gibt, die darauf hindeuten, dass der Mann unter Wasser festgehalten wurde?«
Wenn Neumann die Frage überrascht, lässt er sich nichts anmerken. »Also, aufgefallen ist ihm nichts. Müsste allerdings schon ein starker Druck sein, der da ausgeübt wurde, damit durch den Neoprenanzug hindurch Hämatome entstanden wären. Aber wenn es Sie glücklich macht, lieber Glück, dann schauen wir da noch einmal genauer hin. Und zwei wichtige Dinge wollen wir zum Abschluss festhalten: Erstens haben wir beide dieses Gespräch nie geführt, weil weder Sie noch ich mit dem Fall betraut sind. Und zweitens – ganz wichtig – die Sturm-Graz-Karten. Nicht vergessen. Alles klar, Herr Kommissar?«
Martin überhört das und bedankt sich. Er will versuchen, sich zu revanchieren, wie er dem Professor versichert.
»Vielleicht gehen wir demnächst einmal auf ein gutes Glas Rotwein? Ich hab einen echten Geheimtipp …«, beschließt Neumann das Gespräch. Martin hofft, dass es dazu nicht kommen möge. Der Mann mag ein guter Gerichtsmediziner sein, aber privat muss er ihn nicht unbedingt treffen.
***
Das Tauchen haben sie bravourös hinter sich gebracht. Franz war anfangs unsicher, hat sich aber letztlich gut gehalten. Sie sind auf fünfzehn Meter hinuntergegangen und haben sich auf das Gelernte konzentriert. Fische machten sich rar, und Gloria hielt mit Andreas vergeblich Ausschau nach verdächtigem Müll. Zum Schluss mussten sie jeweils zu zweit das langsame, stufenweise Auftauchen mit Wechselatmung üben. »Alles paletti, jetzt seid’s schon fast echte Taucher«, lobt Benni seine Mannschaft, als alle wieder im Boot sitzen. »Zwei Tauchgänge noch, und dann die theoretische Prüfung. Dann habt’s ihn, den ersten Tauchschein, und dem Roten Meer steht nichts mehr im Wege, Martin. Und du kommst endlich zu deinen Korallen, Lorelei.«
»Zuerst muss ich ja noch den Film abdrehen«, seufzt diese ein wenig gekünstelt.
Auf Fragen nach dem Inhalt bleibt Lorelei unbestimmt und fragt stattdessen Benni, ob er denn schon im Roten Meer tauchen war.
»Na, und ob. Die Frage sollte lauten: Wie oft?« Der Tauchlehrer berieselt die Schüler mit seinen Unterwasserabenteuern, und als er bei Mauritius angelangt ist, legen sie am Steg an.
Andreas fragt nach: »Und wie fandest du die Insel so?«
»Spitzenmäßig. Was denkst du denn. Super Tauchgebiet.«
Bevor Benni weitererzählen kann, machen sich Franz und Martin davon. Inzwischen haben sie genug von exotischen Geschichten. Fassl will seine Heidi anrufen und dabei so tun, als sei er noch bei Martin in Wien. Außerdem winkt der Liegestuhl im Obstgarten. Und Martin will seine SMS checken, ob noch eine Meldung von Neumann wegen eventueller Druckstellen auf Werners Leichnam gekommen ist. Danach will er sich zu Franz gesellen.
»Für Sie ist eine Nachricht da, Herr Glück«, ruft ihm Adele Hofer nach, als er durch den Schankraum geht. Sie drückt ihm einen zerknitterten Briefumschlag in die Hand, auf dem »Komisar Glück« steht. Auf die Frage, wer das abgegeben habe, antwortet die Wirtin: »Niemand.« Das Kuvert habe auf der Ablage unter dem Schlüsselbrett gelegen.
***
Martin Glück hasst Friedhöfe. Sie machen ihm Angst. Er, der so oft mit dem Tod konfrontiert ist, hält diese Atmosphäre des Vergänglichen nur schwer aus. Die Toten im Job sind was anderes, die stellen für ihn eine Aufgabe dar, die er lösen muss. Die Opfer post mortem kennenlernen, die oder den Schuldigen finden. Das ist Routine, damit kommt er klar.
Aber auf Friedhöfen muss er an den eigenen Tod denken. Deshalb hat er erst gezögert, der brieflichen Aufforderung des »Informanten« nachzukommen, sich mit ihm vor der herrschaftlichen Gruft auf dem Friedhof zu treffen. »Dann erfaren Sie alles, Herr Komisar.« Aber natürlich siegte die Neugierde. Und hier ist er. Auf dem Friedhof von Wildstätten, der nicht wie in anderen Dörfern neben der Kirche liegt, sondern am Ortsrand, zwischen Baumarkt, Gärtnerei und Autowerkstatt. Die Gräber sind auf einem leicht abfallenden Hang angeordnet. In der obersten Reihe thront die barocke gräfliche Gruft, darum herum scheinen die Gräber der Dorfobersten zu kommen. Martin liest auf den Inschriften »Bäckermeisterswitwe«, »Gemischtwarenhandlungsbesitzer«, »Bürgermeistersgattin«, auch die Familie von Adele und Emil Hofer ist in der zweiten Reihe von oben vertreten: »Gasthausbesitzerfamilie Hofer« steht da zu lesen. Je weiter man den Hang hinuntergeht, desto unbedeutender werden die Toten und umso einfacher die Gräber. Dominiert oben Marmor, so sind sie unten nur mit Blumen und schlichten Kreuzen geschmückt. Zweiklassentod, warum sollte es anders sein als im Leben?
Als er nach seiner Exkursion wieder nach oben zur Grafengruft geht, sieht er dort von Weitem schon einen alten Mann stehen, der ihm vage bekannt vorkommt. Einer aus der Stammtischrunde?
Nach dem »Grüß Gott« fragt Martin, warum man sich ausgerechnet auf dem Friedhof treffe?
»Weil es is wegen dem Benni. Der is schließlich aner aus dem Dorf, aner von uns. Es mog ihn zwar kaner, den Angeber, aber er g’hört zu uns. Da kann i Ihna des net im Seeblick sagen, und dem Seppl Gruber a net.«
Der Alte kratzt sich nervös am Kopf. Als er verlegen zu lächeln versucht, entblößt er ein paar Zahnlücken. »I bin ja ka Vernaderer ned, Gott is mei Zeuge. Aber in dem Fall …«
Martin wartet. Auf die Lösung zu diesem Todesfall?
»I hob die zwa zsammen gsehen unten am See, den Benni und den Werner.«
»Na ja, die zwei kannten sich doch.« Martin versucht sich in Geduld, nicht gerade seine Stärke.
»Schon. Aber gstritten haben s’.«
Das klingt schon besser. »Hast zufällig hören können, worüber?«
»Na, um die Vögel«, erklärt der Alte triumphierend.
Ohhh neeiin!, denkt Martin. Da ist er doch glatt auf diesen Geistervogelseher hereingefallen. Trotzdem fragt er: »Worum ging es denn genau?«
Sein Informant kratzt sich erneut am Kopf. »Ja, der Werner hat ständig auf den Benni eing’redt, aber der wollt nix von die Vögel hören und is zornig worden.«
Martin fragt noch einmal nach, doch mehr ist aus dem alten Mann nicht rauszuholen. Er bedankt sich trotzdem höflich und macht sich schnell auf den Weg zum Ausgang.
***
Zwei Liegestühle zwischen Apfelbäumen, zwei weiße Spritzer. Franz und Martin genießen die letzten Sonnenstrahlen im Obstgarten der Hofers.
»Wie war dein Friedhofsdate?«, fragt Franz.
»Überflüssig«, murmelt Martin zwischen zwei Schluck G’spritztem und erzählt von der Begegnung mit dem Vogelmenschen.
Franz lacht: »Kannst du dir vorstellen, dass man jemanden tötet, weil der einen mit solchen G’schichten nervt?«
»Oh ja«, erwidert Martin. »Der Geistervogelbeschwörer muss sich in Zukunft vor mir in Acht nehmen. Trotzdem sollten wir Benni auf diesen Streit ansprechen.«
Da läutet Fassls Handy, dessen Gesicht einen geradezu verzückten Ausdruck annimmt. Heidi. Martin geht ins Haus, um sich ein Buch zu holen. Auf der Treppe zu seinem Zimmer hört er aus der Küche hinter der Schank zwei streiten. Wirt und Wirtin. Er will gerade geräuschlos nach oben verschwinden, als der Name Benni fällt. Er bleibt stehen und lauscht.
»Jetzt reicht’s mir aber. I lass ma do kane Hörner aufsetzen«, schreit Emil Hofer seine Frau an.
»Das bildest dir alles ein. Der Benni und ich haben nix miteinand«, schreit Adele zurück.
»Einbilden? Haltst mich für deppert? Glaubst, ich kann net zwei und zwei zsammenzählen? I seh doch, wie du ihn anhimmelst, den Angeber. Und die andern bemerken des a. Wie steh i do vorm ganzen Dorf? Ich hab dich aus dem Dreck g’holt. Alle haben sie sich mokiert, dass i a Zigeunerin heirat. Aber ich, ich hab dir eine Chance auf ein bürgerliches Leben geben. Alles hast von mir kriegt – a ordentliches Dach überm Kopf, Ansehen als Frau vom größten Wirt, a sichere Existenz. Außerdem war i der begehrteste Junggeselle im Ort.«
Adele kontert lautstark: »Das war. Jetzt bist a blader versoffener Wirt. Und dass ich umsonst in deinem Wirtshaus schuft, davon is wohl keine Red, ha? Und Kinder kannst mir auch kane machen.«
»Willst eppa von dem Casanova an Gschroppen?«
Ein Klirren deutet auf Sachschaden hin. Danach der Wirt wutentbrannt: »I bring euch um, alle zwa. Auf jeden Fall den g’schissenen Meisel.«
Eine Tür schlägt zu, und Martin geht leise hinauf zu seinem Zimmer.
Als er wieder in den Garten kommt, blickt ihn Franz verzweifelt an. Noch ein Beziehungsdrama?
»Ich weiß nicht, was ich machen soll, Martin. Die Heidi hat g’sagt, sie will übermorgen nach Wien kommen. Vielleicht hätt ich sie doch nicht anlügen sollen. Eine kleine Lüge, und das geht immer weiter und weiter, bis man nimmer raus kann.«
»Es wird uns schon was einfallen«, beruhigt Martin und berichtet vom Streit der Wirtsleute, den er belauscht hat.
Jetzt ist Franz von seinen eigenen Problemen abgelenkt. »Glaubst, der Werner hat von dem Verhältnis was gewusst und der Adele Hofer gedroht, es ihrem Mann zu sagen? Wär doch ein Motiv, ihn mundtot zu machen.«
Martin ist skeptisch. »Der weiß es offenbar eh – und deshalb bringt man keinen um, oder? Ich bin da eher bei Gloria, dass der Werner auf irgendeine Umweltschweinerei draufgekommen ist. Fest steht jedenfalls, dass er nicht an einem asthmatischen Anfall gestorben ist. Und ich bin fast sicher, der Neumann findet Druckspuren.«
***
Es ist einer jener milden Juniabende, an denen es endlos lang hell zu bleiben scheint. Sie sitzen zu fünft an einem großen Tisch auf der Terrasse. Benni wollte später nachkommen. Das Gespräch dreht sich um den morgendlichen Tauchgang und um Bennis Heldenstorys.
»Der gibt ganz schön an«, spricht Lorelei aus, was alle denken. »Immerhin bin ich auch schon einmal von einem Hai attackiert worden.«
Auf Nachfrage erzählt sie, dass sie einmal einen Monat lang auf Mauritius war – Dreharbeiten – und dort beinahe Opfer eines Haiangriffs geworden wäre. Ein Schauspielkollege konnte sie im letzten Moment retten.
Martin hat so seine Zweifel an Loreleis Geschichten, mit denen sie sich immer wieder ins Gespräch bringt. Gloria und Andreas, die gerade darüber fachsimpeln, welche Haie geschützt sind, mischen sich ein. »Rund um Mauritius sieht man nur ganz selten Haie«, erklärt Gloria. »Eher schon bei der Nachbarinsel Réunion«, ergänzt Andreas. »Bist du sicher, dass das ein Hai war?«
»Ich werd doch wissen, wo ich war und wie ein Hai aussieht«, empört sich Lorelei.
Franz und Martin hören nicht weiter zu, sondern beratschlagen, wie sie Heidis Reise nach Wien verhindern können. »Sag einfach, wir haben einen Mordfall«, meint Martin.
»Also hab ich doch recht gehabt«, mischt sich nun Gloria ein, die nur den letzten Teil des Satzes gehört hat. »Ich recherchier das auf jeden Fall. Seid ihr dabei?«
Bennis Auftauchen enthebt sie einer Antwort. Hinter ihm betreten der Graf und seine Tochter Valery die Terrasse. Die drei setzen sich an den Nebentisch. Benni winkt seinen Schülern kurz zu und widmet sich dann der gräflichen Begleitung.
»Ist das die Adelstante?«, fragt Lorelei leise. »Sieht irgendwie langweilig aus.«
Die junge Gräfin (wobei er ihr Alter schwer einschätzen kann) gehört zu den Frauen, die weder hässlich noch hübsch sind, denkt Martin. Brünette, kinnlange Haare, braune Augen, schmallippig – sie scheint genau zu wissen, was sie will, und wirkt schon ein wenig fremd in dieser Umgebung. Graf Almázoky zelebriert irgendwas zwischen Leutseligkeit und Herablassung. Benni und Valery scheinen ziemlich vertraut im Umgang, was vor allem Adele Hofer zu stören scheint. Als sie am gräflichen Tisch vorbeigeht, um bei den Tauchern die Bestellung aufzunehmen, wirft sie Benni einen Blick zu, der einem Laserstrahl gleicht.
Hat der Kerl was mit der Wirtin und der Gräfin? Franz flüstert Martin zu: »Das sündige Dorf. Das war ein Film, von dem meine Großmutter geschwärmt hat.«
Martin lacht nicht ganz neidlos. Muss ja ein super Leben sein, durch die Welt reisen, tauchen und an Land Frauen aufreißen. Da kann er leider nicht mithalten. »Wenn wir morgen die Frau Strachnitz aufsuchen, gibt’s vielleicht noch mehr pikante Dorfgeschichten.«
Als sie wieder zum Nebentisch schauen, ist Bennis Stuhl leer. »Ich muss auch kurz wohin«, sagt Franz und geht ins Haus.
Es war mehr seine Neugierde als der Blasendrang. Tatsächlich hört er Benni und Adele streiten, doch er versteht nur Wortfetzen, während er auf dem Häusl sitzt. Der Don Juan aus Wildstätten hat’s auch nicht leicht, denkt Franz. Was ihn irgendwie beruhigt.