10

Als sie zum See zurückkommen, finden sie Gloria, Lorelei und Andreas am Strand vor. Badetag statt Tauchkurs. Und von Benni immer noch keine Spur. Martin und Franz schließen sich an, und Martin setzt seine Taucherbrille auf, bevor er ins Wasser geht. Doch dort tummeln sich nur Fische, keine zweite Leiche in Sicht. Benni ist wahrscheinlich abgehauen, weil ihm seine Frauengeschichten zu viel wurden, denkt Martin wie die meisten.

Auch Sepp Gruber, den sie auf dem Rückweg von Friedas Haus in der Wachstube antrafen, tippt auf Weibsbilder. Benni habe schon ein paarmal die Flucht ergriffen. Nur hat er bisher nie Tauchschüler sitzen lassen. Immer nur die Frauen. Aber einmal ist halt immer das erste Mal. Für eine Vermisstenanzeige sei es noch zu früh.

Nach ein paar erfrischenden Schwimmrunden fläzen sich die beiden Freunde auf ihre Badetücher und lassen sich von der Sonne trocknen. »Ich hab gelesen, dass man durch Wärmetherapie Fett zum Schmelzen bringen kann«, lacht Franz und streckt seinen Bauch der Sonne entgegen. »Das wär doch viel bequemer, als sich beim Essen zu kasteien.«

»Ist deine Heidi eigentlich auch ein Genussmensch oder so der Salatblatttyp?«, fragt Martin.

»Oh ja, die isst auch gern – eh ein bissel wie damals deine Lily. Aber bei ihr schlägt’s nicht an, das ist so ungerecht. Ihren Besuch konnte ich Gott sei Dank verhindern. Hab ihr gesagt, dass wir von burgenländischen Kollegen um Unterstützung gebeten wurden, bei der Aufklärung eines Mordfalls in einem Tauchklub. Ich sei also gar nicht in Wien und hätte auch keine Zeit für sie, wenn sie mich hier besuchen käme. Sie hat dann nur gefragt, ob ich einer von den Polizeitauchern wäre, die quasi unter Wasser ermitteln.«

»Da hast jetzt aber nicht gelogen, oder?«, fragt Martin.

Bevor Fassl antworten kann, hören sie einen Aufschrei. Er kommt von Lorelei. »Mensch, jetzt fällt’s mir erst auf: Das Boot ist weg!! Hat unser Tauchlehrer damit die Fliege gemacht?«

»Aber wohin sollte er denn mit dem Boot flüchten? Ans zehn Kilometer entfernte Ufer auf der anderen Seite?« Martin will wissen, ob jemand bei Benni zu Hause nachgefragt habe, und erntet allseitiges Schulterzucken.

Franz wird die Wärmetherapie nun doch zu viel, und er zieht sich in den Schatten einer großen Weide zurück. Martin folgt ihm. Seit seinem Basaliom ist er nicht mehr der große Sonnenanbeter.

»Wir müssen mit Benni reden. Weil er der Letzte war, der den Werner lebend gesehen hat.«

Franz widerspricht schon aus Prinzip gerne: »Nicht zu vergessen die schöne Adele, die den Vater vom Werner im Puff zurückgelassen hat. Falls der Werner sie erpresst hat, hätte die sich schon zu wehren gewusst. Und tauchen kann sie schließlich auch …«

Martin denkt darüber nach und meint dann, das passe nicht zu Werner. »Ich denke, er hat es eher für seine moralische Pflicht gehalten, die Wahrheit aufzudecken. So ein Typ war er. Und angeblich war er ja auch in sie verschossen. Vielleicht hat er sie mit der Geschichte emotional erpressen wollen?«

»Und so haben die Dinge ihren Lauf genommen …«

Martin seufzt. »Könnt schon sein. Fragt sich nur, wie Adele das hätte anstellen sollen. Ich denk schon, dass sie die Kraft hätte, einen Menschen unter Wasser festzuhalten. Sie ist schlank, hat aber ganz schöne Muckis … Kannst du dich erinnern, ob sie uns an diesem Morgen das Frühstück serviert hat?«

Franz hat ein gutes Frauengedächtnis. »Nein, das war die kleine blonde Serviererin. Und da wir nicht offiziell ermitteln, können wir sie natürlich schwerlich wegen eines Alibis befragen. Das müsste der Gruber schon machen.«

Martin: »Wenn sich der Neumann meldet wegen der Druckspuren, wissen wir mehr. Und dann haben wir natürlich noch die große Unbekannte, welchem Skandal – oder, wie Gloria sagen würde: welchem Verbrechen – Werner auf der Spur war.«

»Genau.« Gloria hat die Ohren gespitzt, das leise Gespräch zwischen Martin und Franz mitgehört und kommt näher. »Ich mache am Nachmittag ein Interview mit dem Killergrafen. Hab ihm gesagt, ich schreibe eine Reportage über die wichtigsten Adelsfamilien im Burgenland. Und dabei werde ich ihm auf den Zahn fühlen. Wenn einer Drahtzieher einer Umweltschweinerei ist, dann ja wohl der Obermufti hier. Von seinen exotischen Viechern ganz zu schweigen.«

Franz: »Frag ihn einfach ein bissel nach seinen Hobbys aus. Der Panther hat wahrscheinlich eh ihm gehört. Vielleicht hat er noch mehr Getier, und einige fallen garantiert unters Artenschutzgesetz. Ach ja, und einen Falkenhof hat er auch noch. Scheint sich aber nicht mehr viel darum zu kümmern. Vielleicht sind die Vögel verwahrlost oder was auch immer.«

Martin setzt nach: »Und bitte, Gloria, halt deinen Zorn im Zaum! Zeig ihm nicht, wenn dir was nicht passt, sondern versuch, diplomatisch zu sein. Sonst erfährst du nie was.«

Sie lacht. »Klaro. Schließlich bin ich Journalistin und keine Vollidiotin.«

***

Dieser Martin Glück ist ja ein netter Kerl, und meine Launen versteht er auch, denkt Gloria, als sie zum Schloss spaziert. Aber er ist irgendwie gluckenhaft – fast so wie Mama. Immer diese Beschützerei, wo ich doch erwachsen bin. Das nervt bei aller Sympathie.

Als sie vor dem imposanten Tor zum Schloss steht, kommt sich sogar Gloria Weinzierl winzig und unbedeutend vor. Aber nur kurz. Denn aus einer unscheinbaren kleinen Nebentüre tritt Emmerich Almázoky und begrüßt die Journalistin mit der ihm eigenen freundlichen Herablassung. »Diese großen Tore werden heute von den Schlossbesitzern nicht mehr benützt. Zu schwer und zu kompliziert. Wir halten’s bescheidener und nutzen ehemalige Dienstboteneingänge.«

Da steigt in Gloria ein kleiner Zorn auf. Doch sie beherrscht sich. Martin hat natürlich recht: Sie muss dem präpotenten Alten schmeicheln, wenn sie was erfahren will. Also lächelt sie, so gut sie kann.

»Ich dachte, wir führen unser Gespräch in der kleinen Bibliothek. Dort ist es gemütlicher als in den Salons.« Almázoky lotst seinen Gast durch ein Foyer, das die Größe von Glorias Wiener Appartement weit übersteigt. Dann geht es endlose hohe Gänge entlang in einen finsteren, mit Bücherwänden aus dunklem Holz möblierten, etwa fünfzig Quadratmeter großen Raum: die »kleine« Bibliothek. In der Mitte des Zimmers ist ein Kaffeetisch gedeckt, für zwei. Der Hausherr bittet Gloria, Platz zu nehmen, und wie gerufen erscheint fast lautlos eine zarte, philippinische Hausangestellte undefinierbaren Alters, die schwarzglänzenden Haare zu einem Pferdeschweif gebunden, der ihr bis zur Taille reicht. Sie bringt auf einem Silbertablett eine ebensolche Kaffeekanne mit Wappen sowie einen Gugelhupf mit Schlagobers. »Unsere Shirley hat beim österreichischen Botschafter in Manila gearbeitet und dort die österreichische Küche wunderbar erlernt, nicht wahr, Shirley?« Diese nickt. »Ihr Gugelhupf ist unvergleichlich.« So lautlos, wie sie gekommen ist, verschwindet Shirley wieder. Während Gloria denkt, dass es auch fürs Grafengesindel nicht mehr so leicht ist, Personal aus den ehemaligen Kronländern zu rekrutieren, schenkt Almázoky, ganz der routinierte Gastgeber, Kaffee ein und schneidet zwei Stück Gugelhupf ab, die er auf Tellern mit Familienwappen platziert. Silberbesteck natürlich, und bestickte Servietten.

»Wie lange lebt Ihre Familie schon auf diesem Anwesen?«, beginnt Gloria das Interview. Nach endlosen Ausführungen über Generationen und Generationen von Almázokys, über deren Heldentaten während des Krieges (»Meine Familie hat hier natürlich jüdische Verfolgte und Roma-Familien versteckt«) kommt das Gespräch in der Gegenwart an. Gloria fragt nach Hobbys und muss sich Tiraden über die Jagd anhören – und die Sammelleidenschaft ihres Gesprächspartners.

»Ich war ja viel auf Großwildjagd in Namibia und hab so einige Trophäen heimgebracht«, erzählt der Graf stolz. »Sie dürften sie auf dem Gang hierher bemerkt haben.« Gloria erinnert sich mit Schaudern an ein Zebra- und ein Leopardenfell und an aneinandergereihte Geweihe. Tote Tiere, weil Herr Graf die Jagd pflegt, das ist so was von pervers.

Almázoky seufzt: »Irgendwann waren mir die Trophäen langweilig, und das ständige Töten auch. Ich wollte die Tiere lebend. Ja, und dann habe ich mir halt so einen kleinen Zoo zugelegt – Leoparden, Gnus, auch ein Gepard und ein Krokodil waren dabei. Das Jagen hat dann meine Tochter übernommen und in Wien ein Reisebüro aufgemacht, in dem sie Großwildjagden vermittelt. Meistens nach Namibia, aber auch nach Südafrika und Botswana.«

»Und diese Tiere leben hier beim Schloss?«, fragt Gloria.

»Oh nein. Wissen Sie, die Haltung solcher Viecherln ist wahnsinnig aufwendig, und was bringt es letztlich? Die werden ja auch langweilig. Ich hab sie alle an den Zoo in Schönbrunn abgegeben. Übrigens: Der Panther, vor dem ich einen Ihrer Tauchkollegen retten musste, gehörte nicht dazu. Keine Ahnung, wo der herkam. Schon mysteriös, die Sache.«

»Und was sammeln Sie jetzt?«, will Gloria wissen. So ganz glaubt sie ihm das mit dem Panther nicht.

Der Graf lächelt. »Ach, wissen Sie, mit dem Alter wird man bescheidener und verkleinert sich. So wie ich nicht mehr das ganze Gemäuer bewohne, hab ich mich auch bei meinen Sammelobjekten verkleinert. Wollen Sie sie sehen?«

Gloria nickt, und der Graf führt sie wieder über endlose Gänge in einen großen, feuchtwarmen Raum mit mehreren Terrarien, in denen sich Käfer und Frösche tummeln. »Darf ich vorstellen? Das sind Fred und Ginger, meine besonderen Lieblinge.«

Gloria blickt auf zwei schwarze Käfer, die Deckflügel schimmern metallisch dunkelblau. »Sind die was Besonderes, weil es Ihre Lieblinge sind?«, fragt sie nach.

»Ja, das sind Laufkäfer, Carabidae. Es macht Spaß, sie bei einem Wettrennen zu beobachten. Sie laufen mit einer Geschwindigkeit von fast sechs Stundenkilometern. Also schneller, als der durchschnittliche Mensch geht. Draußen habe ich eine Rennbahn für die Kleinen.«

»Faszinierend«, sagt Gloria, und das ist nicht einmal gelogen. Abgesehen davon, dass es in ihren Augen kriminell ist, sich exotische Tiere nur so zum Spaß zu halten. »Und welche sind die großen da mit den Hörnern?«

»Die sind auch ganz kurzweilig zum Beobachten. Das sind Nashornkäfer, sie gehören zu den Riesenkäfern und sind in Japan sehr beliebt für Showkämpfe.«

»Kämpfe?«

»Ja, das sind großartige Ringkämpfer. Warten Sie, ich zeige Ihnen einen Kampf.«

Gloria will das eigentlich nicht sehen, aber noch bevor sie protestieren kann, hat der Graf bereits zwei Exemplare aus dem Terrarium herausgenommen und auf einen Holzblock gesetzt. Er fuchtelt vor den Käfern mit einem Finger herum. »Damit stachle ich sie zum Kampf an und mach sie ein bisschen aggressiv.« Und tatsächlich geht der Ringkampf los. Einer hebt den anderen in die Luft, dreht ihn auf den Rücken und wirft ihn zu Boden.

»Das ist Ferdinand. Ein guter Kämpfer. Ich habe ihn am Anfang nur gegen kleinere Käfer kämpfen lassen, damit er Selbstbewusstsein bekommt.«

Gloria will wissen, wie solche Kämpfe ausgehen, ob der unterlegene Käfer getötet wird. Almázoky lacht: »Nein, das sieht alles nur so spektakulär aus, aber tödliche Ausgänge sind selten. Jetzt zeige ich Ihnen aber noch eine tatsächlich gefährliche Spezies, kommen Sie mit.«

In einem separaten Terrarium sind winzige, gelb-braune Käfer mit schwarzen Punkten zu sehen. »Das sind gefleckte Pfeilgiftkäfer. Die Larven dieser Käfer werden im südlichen Afrika als Pfeilgift verwendet.« Gloria tritt einen Schritt zurück. Der Graf lacht. »Keine Angst. Nur so als Käfer sind sie nicht tödlich. Die Larven werden ausgepresst, an der Pfeilspitze aufgetragen und an der Luft getrocknet. Das Gift wirkt langsam über den Blutkreislauf.«

Gloria ist extrem tierlieb, doch mit giftigen Kleintieren hat sie es nicht so sehr. »Sie haben ja auch eine Falknerei, hab ich gehört«, schwenkt sie auf ein anderes Thema um. »Wie viele Falken haben Sie denn? Kann ich die einmal sehen?«

Kein Thema, das ihn interessiert. »Das müssen Sie meine Tochter fragen, ich kümmere mich nicht mehr darum. Das macht sie gemeinsam mit unserem Falkner, dem Milan. Aber schauen Sie, da hab ich noch ein Gustostückerl für Sie.«

Widerwillig folgt ihm Gloria zu einem weiteren Terrarium, in dem sich leuchtend gelbe Frösche tummeln. »Die sehen aber echt giftig aus.«

»Sind sie auch.« Das Lachen des Grafen klingt unheimlich. »Das ist der Schreckliche Pfeilgiftfrosch aus Kolumbien, Phyllobates terribilis«, erläutert er. »Die gelbe Haut enthält Batrachotoxin. Mit der Menge, die ein einziger Frosch in der Haut mit sich trägt, lassen sich zehn Menschen töten. Und das geht schnell: Muskellähmung, Atemlähmung, aus die Maus.«

Gloria überlegt, wen sie alles mit einem der gelben Frösche töten würde. Auf zehn käme sie schon. Zum Beispiel alle Politiker, die sich nicht für das Tierwohl einsetzen. Tiere werden per Gesetz immer noch als »Sache« behandelt. Sachbeschädigung, wenn einer ein Tier tötet! Aber für die Presse posieren sie dann mit ihren Hunderln und Katzen, weil das ja Wählerstimmen bringt.

Gloria und Almázoky starren auf die gelben Frösche. Auftritt der Grafentochter. Sie wirft Gloria einen kurzen Blick zu, als ihr Vater meint, die Journalistin würde gerne die Falken sehen. »Das geht zurzeit nicht«, antwortet sie von oben herab. »Dort grassiert die Schnabelräude.« Zu ihrem Vater: »Kommst du, ich brauche ein paar Unterschriften von dir.«

***

Gloria erzählt Franz und Martin von ihrem Terrarien-Trip und kündigt an, die Falknerei ohne offizielle Erlaubnis aufzusuchen. »Die Tochter hat mich dermaßen abgefertigt, dass ich denke, irgendwas stimmt da nicht. Wer weiß, wie die gehalten werden. Und der Werner als Vogelliebhaber ist da draufgekommen, und damit er es mir nicht mehr verraten kann, haben sie ihn ermordet …«

»Aber vergiftet wurde er ja nun nicht«, unterbricht Martin.

»Nein, aber vielleicht unter Wasser gezogen? Diese Valery schaut zwar dünn aus, aber auch total durchtrainiert. Und tauchen kann sie sicher auch, wenn sie mit dem Benni was am Laufen hat. Die tauchen doch alle, seine Liebschaften. Also, ich bleib an den Vögeln dran. Morgen versuche ich, in die Falknerei reinzukommen. So schnell geb ich nicht auf.«

Sie verbeißt sich in Sachen – genau wie ich, denkt Martin. Können so viele Ähnlichkeiten denn Zufall sein? Martins Handy läutet, und er geht ran.

»Neumann hier. Sie haben Glück, lieber Glück: Tatsächlich hat der Kollege an den Schultern Druckspuren gefunden – auf den ersten Blick nicht zu erkennen, aber auf den zweiten. Der Ferenczy hat sich richtig gefreut über seinen Fund. So viele Gewaltverbrechen haben wir im Burgenland nämlich nicht. Ihr Taucher dürfte unter Wasser festgehalten worden sein. Das duftet dezent nach Mord, mein lieber Glück. Der offizielle Bericht geht unverzüglich an den Bezirksinspektor Gruber. Von mir wissen Sie nichts. Wir zwei haben nur wegen der Sturm-Graz-Karten telefoniert – also nicht vergessen: Eine Hand wäscht die andere, das Prinzip ist so alt wie die Menschheitsgeschichte.«

Noch nachdem er das Gespräch beendet hat, hallt in Martin das irre Lachen des Gerichtsmediziners nach. Aber immerhin hat er geholfen, eine Mordermittlung in Gang zu bringen.