19

Erst kurz nach Mittag erreicht er Romana, die nach ihrer Odyssee in den Tiefschlaf gefallen war. Martin erkundigt sich, wie es ihr geht, und erntet ein: »Jedenfalls bin ich froh, wieder im eigenen Bett zu schlafen.« Kein Wort der Entschuldigung, dass sie ihn nachts geweckt hat. Es hätte ihn auch gewundert. Romana schert sich sehr wenig um anderer Leute Befindlichkeiten, trotzdem mag er sie als Freundin – am Wörthersee und damit ein Stück von Wien entfernt. Er fragt sie direkt nach dem ominösen Waldemar. »Weil ich hier was mit geschmuggelten Vögeln zu tun hab, stell dir vor.«

Romana klingt noch ziemlich verschlafen, sonst hätte sie nachgefragt. So aber meint sie nur: »So ein Zufall. Waldi – so dürfen nämlich seine Freunde zu ihm sagen – weiß wirklich viel über diese Vögeleien, mir war schon fast fad, aber dann ließ ich’s einfach an mir vorbeirauschen. Ich hab irgendwo seine Telefonnummer, bloß wo? Halt, wart ein bissel …«

Geraschel, dann diktiert sie ihm die Nummer und verrät ihm auch den vollen Namen: Waldemar Wolkenstein. »Lustiger Name, oder? Sag ihm, dass du sie von mir hast und dass ich mich freu, wenn er mich bald besuchen kommt. Und jetzt steh ich auf und bring die Handwerker auf Trab, der Alex weiß überhaupt nicht, wie man die scheuchen muss, damit was vorangeht. Mach’s gut, Bub, und Bussi …«

Martin steht beim Telefonieren am Fenster und sieht, wie Gloria in Richtung See spaziert. Nach seiner Rückkehr vom Schloss hat sie ihm erzählt, dass die Gräfin sie angerufen und ihr einen Deal vorgeschlagen hat: Wenn Gloria nichts über eine Betäubung sagt, wird sie ihrerseits den Einbruch nicht anzeigen – und auch nicht die Sachbeschädigung. Gloria war damit einverstanden, da konnte Martin noch so dagegen sein. Und er gab ziemlich schnell auf, vielleicht, weil er dachte, dass sie ja doch nur ein fremdes Mädchen ist. Und er fragt sich, ob seine Reaktion auf den Haartest nun Erleichterung ist oder Enttäuschung? Und findet keine eindeutige Antwort. Beides wahrscheinlich, es hält sich ziemlich die Waage. Er wird es Franz erzählen, sonst niemandem. Auch nicht Romana oder Lotte. Seine Mutter wäre ja doch nur sauer, dass er sie um Enkel bringt, weil er sich immer die falschen Frauen aussucht. Wobei es ja genauso gut sein könnte, dass es die richtigen Frauen waren, und er nur der falsche Mann.

Gloria verschwindet aus seinem Sichtfeld, und Martin wählt die Nummer von Romanas Flugbekanntschaft. Eine heisere Männerstimme meldet sich nach dem dritten Klingelton aus Frankfurt, wie die Vorwahl verrät. Ein Raucher, vermutet Martin. Und ein Besessener, wenn es stimmt, was Romana erzählte. Wer würde sonst als pensionierter Beamter seinen Beruf als Hobby weiterführen?

Martin stellt sich mit Namen und Titel vor und erklärt, woher er die Nummer hat und weshalb und von wo er anruft.

Waldemar Wolkenstein scheint nicht einmal erstaunt, dass Romana einen Kriminaler zum Freund hat: »Ich fürchte, ich habe sie während des langen Fluges ziemlich gelangweilt mit meinen Geschichten. Irgendwann ist sie an meiner Schulter eingeschlafen, aber das kann auch am Schampus gelegen haben, dem wir reichlich zusprachen. Und Sie sind im Burgenland auf der Spur eines Schmugglerrings?«

Für die Wahrheit müsste er zu weit ausholen, also sagt Martin einfach nur Ja. Und erwähnt die zwei Morde, die Papageienzucht in der Falknerei und eine Gräfin, die er nicht nur des Schmuggels von exotischen Tieren verdächtigt.

Die Stimme am anderen Ende der Leitung klingt elektrisiert: »Reden wir hier von Valery Almázoky? Die in Wien ein Reisebüro für Großwildjagden hat?«

Martin bejaht und macht damit Waldemar eine große Freude. »Jetzt könnten wir sie kriegen, endlich. Ich bin einigen illegalen Händlern auf der Spur, unter anderem auch der feinen Dame, schon seit einem Jahr. Bin über einen ihrer Kunden, der aufgeflogen ist, auf sie gestoßen. Die ehemaligen Kollegen teilen ihre Infos noch mit mir, die sind schließlich froh über jede Unterstützung. Weil es, ich sag’s ganz ehrlich, Kollege, die Don-Quichotte-Nummer gegen Windmühlen ist.«

»Sie hat uns bei der Begehung bereitwillig die Akten mit den Papieren mitgegeben«, sagt Martin.

»Und behauptet sicher, dass die Vögel lauter inländische Nachzuchten sind.« Waldemars Stimme klingt jetzt verbittert. »Die CITES-Papiere haben alles nur noch schlimmer gemacht. Die werden nicht selten von korrupten Beamten ausgestellt. Oft werden am Schwarzmarkt sogar Papiere verstorbener Tiere gehandelt. Manchmal ist es auch nur die nachlässige Bürokratie. Denn tatsächlich sind diese Papiere das größte Problem der EU im Kampf gegen den internationalen Artenschmuggel. Weil damit im Grunde jedes Tier legalisiert werden kann. Verdammt schwer, das Gegenteil nachzuweisen. Wie viele Vögel hat die Gräfin denn in ihrer Zucht?«

Martin schätzt um die vierzig, die Vogeleier nicht mitgezählt. »Die Akten mit den Papieren sind beim Postenkommandanten, aber ich glaube nicht, dass der viel damit anfangen kann. Oder ich.«

Waldemar, der sich vorgenommen hat, bis ans Ende seiner Tage die verdammten Schmuggler zu verfolgen, informiert Martin, dass er sich in den nächsten Flieger setzen und von Wien aus mit dem Mietwagen nach Wildstätten kommen wird. »Ich schau mir die Akten an – und vielleicht finde ich ja was. Wenn die Almázoky auch nur einen einzigen exotischen Papagei ohne legale Papiere hat, dann kriegen wir sie. Und ich werde meine Kollegen bitten, dass sie im Rahmen der Amtshilfe in Wildstätten und für das Wiener Büro der Gräfin Durchsuchungsbefehle veranlassen. So kommen wir nämlich auch an Kundenadressen. Können Sie mir in dem Kaff vielleicht ab morgen ein Zimmer buchen?«

Martin sagt es zu, und kaum hat er aufgelegt, klingelt sein Handy. Sepp Gruber klingt erschöpft. Diese Hitze, und dann zwei Morde und die blöden Vögel und die externen Kieberer, die ja einerseits hilfreich sind, aber andererseits auch ganz schön lästig. Seinen ehrgeizigen Traum, in die Wiener Mordermittlung zu wechseln, sieht er jetzt mit anderen Augen. War es doch bisher in Wildstätten angenehm beschaulich. Trotzdem, es gibt Erfreuliches zu berichten: »Das Handy vom Benni ist aufgetaucht, stellt euch vor! In der Asservatenkammer abgelegt und dann auch noch falsch. Hat ein Praktikant zufällig gefunden, dem auffiel, dass das Modell nicht zu einer alten Akte passte. Ich sag’s ja immer, die Kollegen in den Hauptstädten werden überschätzt.«

»Danke schön«, sagt Martin mit leichtem Sarkasmus. Er winkt Franz herein, der die Zimmertür vorsichtig geöffnet hat.

»Jedenfalls haben sie die Handydaten des letzten Monats ausgewertet, so auf die Schnelle. Sind chronisch unterbesetzt in der Urlaubszeit. Sonst hätten die eh schon jemand herg’schickt, der sich in alles einmischt.«

»Dafür sind wir ja da«, sagt Martin milde. »Können wir uns das anschauen, wenn wir jetzt vorbeikommen, der Franz und ich?«

Kurzes Schweigen. »Wenn meine Mittagspause vorbei ist. So umma drei.«

»Zwei.«

Gruber seufzt. Für eine gute Verdauung braucht der Mensch etwas Ruhe nach dem Essen. »Halb drei.«

Martin gibt nach und informiert ihn noch kurz über einen gewissen Waldemar Wolkenstein, worauf Gruber nicht gerade enthusiastisch reagiert.

Franz hat sich aufs Bett gesetzt und in Martins Buch geblättert, das auf dem Nachttisch liegt: Danny Tobeys Das Gottesspiel. »Und wie ist es so?«

»Mir gefällt’s. Kannst es ja lesen, wenn ich fertig bin.« Martin erzählt ihm von Waldemar und dem Auffinden von Bennis Handy. Das Resultat der Haarprobe spart er sich für einen späteren Zeitpunkt auf. »Wir können um halb drei zu Gruber und uns die Abschriften ansehen. Und du schaust auch schon wieder hungrig aus.«

»Soll das ein Vorwurf sein? Immerhin hab ich heute schon was geleistet – nämlich eine Tauchprüfung bestanden.« Franz neigt zu Empfindlichkeiten, wenn sein Magen leer ist. Wie jetzt. Natürlich will er sich Appetit aufbewahren für den Abend, an dem sie ihren Tauchabschluss feiern, aber ein Kaffee und eine süße Kleinigkeit darf’s schon sein. Schließlich hat er wegen der Befragung der Gräfin auf ein ordentliches Mittagessen verzichtet.

Sie gehen gemeinsam in den Gastraum, wo Martin für Herrn Wolkenstein beim Wirt ein Zimmer für ein paar Tage reserviert. Danach auf die Terrasse unter einen großen Sonnenschirm. »Hast schon ein Ergebnis von dem Test?«, fragt Franz. Bevor Martin antworten kann, fallen zwei Schatten auf sie. Andreas und Lorelei. »Dürfen wir uns zu euch setzen?«, zwitschert sie.

***

Gloria schäumt vor Wut, als ihr der Artikel gemailt wird, den sie für die Zeitung geschrieben hat. Wildstätten – ein Mörderort ist schon einmal ein reißerischer Titel, den sie so nicht gewählt hat. Darunter das Foto, das am ersten Abend von der Tauchgruppe und ihrem Lehrer gemacht wurde. Die Gesichter der noch Lebenden sind verpixelt. Aber was am Schlimmsten ist: Ihr Bericht wurde um den illegalen Vogelhandel und die mögliche Beteiligung der Grafenfamilie gekürzt. Glatt rausgestrichen. Und als sie deshalb den Chef vom Dienst anrief, meinte der nur kühl, ihr Artikel sei ohnehin zu lang gewesen, und geschmuggelte Vögel seien nicht sonderlich interessant. Die Almázokys zwar schon, aber für deren Involvierung gebe es ja noch keine Beweise, und auf eine Gegendarstellung sei man nicht scharf. Ein Wort gab das andere, und am Ende drohte ihr der Chef vom Dienst mit Kündigung, falls sie noch eine einzige Bemerkung mache. Worauf Gloria das Gespräch beendete.

Um sich wieder abzuregen, spaziert sie jetzt den See entlang in Richtung Ort. Sie hat keine Lust, den anderen im Gasthaus zu begegnen. Zumal es ihr jetzt auch leidtut, dass sie den Tauchschein nicht durchgezogen hat. Nun bleibt ihr ein halber Tauchkurs und ein halber Artikel. Und die Aufforderung ihres Vorgesetzten, sich bei ihm in aller Form für ihre Schimpfworte zu entschuldigen.

Jetzt ist ihr außerdem noch schwindelig, was an der Hitze liegen mag oder den Nachwirkungen der K.-o.-Tropfen. Gloria lehnt sich an eine Hauswand, die von einem Baum beschattet wird, senkt den Kopf und stützt sich mit den Händen an den Oberschenkeln ab.

»Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich helfen?«

Sie sieht hoch und erkennt Frieda Strachnitz. Werners Großmutter, die ihren Auftritt im Gasthaus hatte. »Ein kleiner Schwindel. Aber es geht schon wieder. Vielen Dank.«

Frieda lächelt sie an, und ihre großen Ohrringe klimpern, als sie ihren Kopf nach rechts wendet. »Ich wohne zwei Häuser weiter – in dem bunten da. Kommen Sie doch mit auf ein kaltes Ingwerwasser. Vielleicht ist es nur Dehydrierung.«

Gloria möchte Nein sagen, aber ein »Ja gerne« kommt heraus, und sie folgt Frieda zu dem Puppenhaus am Ende der Straße. Eine Ablenkung von meinem gerechten Zorn, denkt sie, und sie hat von Martin und Franz von den seltsamen Bildern gehört: nackte Frauen mit Vogelköpfen.

Und da hängen sie gerahmt an den Flurwänden: kleine und große, dicke und dünne, junge und alte Körper – mit Vogelköpfen. Im Wohnzimmer, das irgendwie orientalisch eingerichtet ist, steht eine Staffelei mit einer Zeichnung von … Adele Hofer. Kein Vogelkopf. Gloria bleibt davor stehen.

»Ach, du hast sie erkannt«, sagt Frieda. »Ich zeichne immer erst die ganze Frau und entscheide dann, wenn ich male, welcher Vogelkopf zu ihr passt. Aber jetzt hol ich uns erst einmal was zu trinken, und dann gehen wir in die Laube, dort ist es am kühlsten.«

Ein Puli springt um die beiden Frauen herum, er heißt Diego, wird Gloria belehrt, nach dem Geliebten der großen Frieda Kahlo. Sie sitzen in der tatsächlich kühlen Laube auf bequemen Gartenstühlen und trinken das eiskalte Wasser aus dem Brunnen, versetzt mit Zitronen- und Ingwerscheiben. Dazu hat Frieda eine Schale mit Walderdbeeren auf den Tisch gestellt. Zwei Servietten. Ein Aschenbecher. Frieda raucht mit einer langen Zigarettenspitze. »Ich duze alle Frauen, die zu mir ins Haus kommen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus.«

Tut es nicht, Gloria schüttelt den Kopf, streichelt Diego und fragt: »Wieso malst du nur Frauen?«

»Sie sind interessanter, finde ich. Männerkörper sind doch überwiegend hässlich.«

»Und wieso Adele Hofer? Ich dachte, Sie … du magst sie nicht – nach dem Auftritt im Gasthaus.«

Frieda lächelt mit strahlend weißen Zähnen. Legt ihre Zigarette ab, die im Aschenbecher weiterglimmert. »Ach ja, wir hatten unsere Differenzen. Aber vor Kurzem hat Adele mich aufgesucht. Und wir haben uns ausgesprochen. Menschen machen Fehler. Und sie hat sich entschuldigt.«

Gloria schiebt sich ein paar der winzigen Erdbeeren in den Mund, die nach Wald und Sonne schmecken. »Und dann hast du sie gemalt.«

»Erst einmal gezeichnet. Sie bat mich darum. Adele hat einen wundervollen Körper. Und ein schönes, trauriges Gesicht. Ich glaube, ich werde ihr einen Rabenkopf geben. Es waren heilige Vögel in der nordischen Mythologie. Faszinierende Tiere. Sehr intelligent. Und temperamentvoll.«

Natürlich fragt sich Gloria jetzt, welchen Vogel Frieda ihr zuordnen würde. Wagt aber nicht zu fragen. Stattdessen nimmt sie noch von den Waldbeeren. Denkt, dass sie noch nie so gute Beeren gegessen hat.

Frieda hat ihre erste Zigarette verglimmen lassen und zündet sich eine zweite an. »Sie ist unglücklich, unsere arme Adele. Sie hat unseren Dorfcasanova tatsächlich geliebt. So wie meine Tochter diesen heuchlerischen Spießer, der sie vom Rollstuhl aus terrorisiert. Und natürlich ist Adeles Ehe eine Katastrophe. Immerhin ist sie jetzt schwanger. Das kann ein Trost sein. Aber vielleicht begreift man das in deinem Alter noch nicht.«

Die Info überrascht Gloria, interessiert sie aber nicht wirklich. Nachwuchs ist in ihrer Welt noch sehr weit weg. »Und von wem ist das Kind? Oder weiß sie das nicht?«

Frieda lächelt auf eine Weise, die Gloria nicht versteht. »Frauen spüren so was, oder? Adele sagt, dass es Bennis Baby ist. Und dass ihr Mann ihn umgebracht hat.«

»Du meinst, er ist ihr draufgekommen und hat deshalb unseren Tauchlehrer … abgemurkst?« Das muss ich unbedingt Martin erzählen, denkt Gloria.

Frieda hebt ihre Schultern. »Keine Ahnung, ob sie recht hat. Das muss wohl die Polizei klären. Sie hofft jedenfalls, dass Emil für den Mord belangt wird und sie Bennis Kind allein großziehen kann. Sie will den Gasthof verkaufen und von hier weggehen.«

»Wenn alles so kommt, wie sie hofft.« Gloria nimmt den Rest aus der Schale und lässt ihn auf der Zunge zergehen. Diese unglaubliche Süße!

»Sie wird es schon schaffen, irgendwie«, sagt Frieda mit einem Hauch von Bewunderung in der Stimme. »Adele ist schlau. Und sie ist stark. Ich wünschte, meine Tochter wäre so. Ich für meinen Teil werde Adele helfen, so gut ich kann. Schließlich müssen die Außenseiter dieses Ortes zusammenhalten.«

Ich würde sterben, wenn ich hier leben müsste, denkt Gloria. Und erzählt ihr von ihrer Begegnung mit Milan in der Falknerei. Und den K.-o.-Tropfen. Aber all das hat Frieda natürlich schon gehört. Auch dass Gloria mit der Gräfin ein Stillhalteabkommen vereinbart hat. Frieda hält mit ihrer Meinung nicht zurück: »Natürlich steckt Valery dahinter, so einen Mist würde Milan sich niemals ausdenken. Der Umgang mit Menschen überfordert ihn, weißt du, und am glücklichsten ist er, wenn er nur mit Tieren zusammen ist. Und das mit den K.-o.-Tropfen hat sicher die Frau Gräfin angeordnet, weil sie mit illegalen Vögeln handelt, Papageien vor allem. Man muss dieser abscheulichen Frau das Handwerk legen.«

Frieda denkt an Milan, der ihr Waldbeeren bringt und Kräuter und wildes Gemüse.

»Es geht um Gerechtigkeit für Tiere«, sagt Gloria.

Frieda glaubt nicht an Gerechtigkeit – weder für Tiere noch für Menschen. Fast alles scheint ihr zu kompliziert für einfache Lösungen. Doch in Glorias Alter hat sie auch noch gedacht, die Welt aus den Angeln heben zu können. Sie lächelt also nur vage und schenkt nach. »Milan weiß nichts von Schmuggelware. Er hat sich einfach nur um die Vögel gekümmert – und den Nachwuchs. Wie ein fürsorglicher Vater, und daran kann ich nichts Falsches erkennen, meine kleine Gloria.«

Ich bin einen Kopf größer als du, denkt diese, steckt es aber widerspruchslos weg. Und im Prinzip stimmt sie ihrer Gastgeberin zu, dass Milan ein guter Mensch ist. Ein Tierschützer, und damit auf der richtigen Seite. »Ich würde gern eine Story über dich machen. Wenn du einverstanden wärst. Aber eine Frage habe ich schon: Warum Vogelköpfe?«

***

Sepp Gruber wurde in Kenntnis gesetzt, dass Durchsuchungsanträge laufen für die Falknerei, das Wiener Reisebüro und die privaten Gemächer von Valery Almázoky. Darüber wiederum hat er den Grafen informiert, der sich schockiert zeigte über die Justiz, die ja bekanntermaßen seit Kaiser Franz Joseph einen alten Groll gegen den Adel hegt. Trotzdem dankte er dem braven Polizisten, um danach seine Tochter anzurufen, die allerdings nicht abnahm. Aus einem trivialen Grund: Valery hat ihr Handy in Wien vergessen, es klingelte im Reisebüro, aus dem ihr noch einziger Mitarbeiter auf einen Einspänner gegangen ist. Ins benachbarte Kaffeehaus, sozusagen sein zweites Büro, wenn die Chefin außer Haus ist. Und weil sie ihn an diesem Tag geärgert hat, manchmal lässt sie den Adel so was von raushängen.

Auf halber Strecke nach Wildstätten überlegt Valery, ob sie umkehren und zurück nach Wien fahren soll. Tut es dann, weil sie sich ohne das kleine Ding amputiert fühlt, von der Welt abgeschnitten wie auf einer einsamen Insel. Sie flucht wie ein Kutscher, weil sie jetzt im Stau steht. Es geht nicht vorwärts und nicht zurück. Und Valery sitzt handylos im Wagen und hämmert mit den Fäusten gegen das Lenkrad. Alles schien so perfekt, sie hatte ihr Leben, ihre Libido und ihre Geschäfte voll im Griff. Dann kam Corona. Werner Strachnitz. Bennis Illoyalität. Und jetzt geht auch noch das Gerücht im Dorf, dass Adele schwanger ist von Benni Meisel. Das Kind, das er ihr hätte machen sollen! Den lang ersehnten Erben! Posthum hätte er ein zweites Mal den Tod verdient für diesen Verrat.

Beim Postenkommandanten ist die Stimmung gereizt. Gruber zeigt Martin und Franz die kopierten Abschriften der Nachrichten aus dem Meisel-Handy. Sie enthalten überwiegend kurze Nachrichten an und von verschiedenen Frauen, von denen Martin nur Adele und Valery bekannt sind. Der Austausch mit Mariella ist auf Portugiesisch, da muss noch ein Übersetzer her. Die letzten Nachrichten vor Bennis Tod entlocken Martin aber schon ein Pfeifen:

Es passt mir nicht mehr, dass das volle Risiko bei mir liegt, während du es dir gemütlich machst und 60 Prozent kassierst. Ich schlage vor, dass wir es von nun an genau umgekehrt halten, teure Valery: Ich 60, du 40. Sonst steige ich aus, dann kannst du sehen, wer dir die Ware ranschafft, die du so teuer verhökerst. Wir schulden einander nichts, Valery. Nur Geld.

Ihre Antwort: Lass uns am See treffen und darüber sprechen. Wir werden eine Lösung finden, glaub mir. Deine Valery.

»Schaut nicht gut aus für die Gräfliche«, sagt Gruber. »Dieser Meisel war aber auch ein krummer Hund.« Er bekreuzigt sich dabei, weil man über Tote ja nix Schlechtes sagen soll.

»Es wird eng für sie«, meint auch Franz. Sepp Gruber denkt jetzt, dass er den Grafen doch nicht hätte warnen sollen. Andererseits, wer hätte Gräfin Valery denn auch so was zugetraut?! Schmuggel und Mord. Und der arme Werner musste dran glauben, weil er den Verbrechern auf der Spur war.

Laura bringt Tassen mit lauwarmem Tee, das sei das Beste bei der Hitze.

Und während sie so dasitzen, Tee schlürfen und darüber reden, wie lang es wohl dauern wird, bis ein Haftbefehl ausgestellt wird und ob überhaupt, während der Postenkommandant sich an den Nordpol wünscht und Franz und Martin sich mit einem eiskalten Bier zufriedengäben – und Laura mit einem Sprung in den See … stürmt Adele ins Büro. Völlig aufgelöst, verschwitzt und mit der Miene und Stimme einer Rachegöttin. »Ich bin gekommen, um meinen Mann anzuzeigen. Den Emil. Weil ich Angst hab, dass er mich auch umbringen wird.«

Franz und Martin sehen einander an. Die Polizistin schaut Gruber an, der jetzt sagt: »Nun einmal sachte, Adele. Magst einen lauwarmen Tee, der ist gut gegen Hitzschlag?«

Sie wirft ihre dunklen Locken zurück und setzt sich ungefragt auf den letzten freien Stuhl. »Kein Tee. Ich will, dass du ihn stante pede verhaftest, Gruber. Er hat Benni auf dem Gewissen, hundertprozentig. Weil ich schwanger bin. Und weil Benni und ich weggehen wollten aus Wildstätten. Nach Mauritius. Und als er das erfahren hat, ist Emil durchgedreht. Und als Nächste bin ich dran.« Sie zeigt drohend mit dem Finger auf Gruber. »Wenn mir und dem Kind was passiert, bist du schuld.« Dreht ihren Kopf zu Martin und Franz. »Und ihr auch!«

»Man kann«, sagt Franz, »einen Menschen nicht für eine Straftat verhaften, die er noch nicht begangen hat.«

»Woher«, fragt Martin, »hat der Emil denn alles erfahren – das mit dem Kind, und dass ihr fortwolltet?«

Sie schreit beinah: »Woher soll ich das wissen? Vielleicht hat er uns belauscht, obwohl wir eh vorsichtig waren. Oder die Valery wusste es und hat’s ihm gesteckt, die eifersüchtige Trutschn.«

»Sprich nicht so von der Gräfin«, sagt Gruber. »Sie ist immer noch …«

Adele ist aufgesprungen und steht vor seinem Schreibtisch: »Was? Eine Schlampe, die Bennis Sperma wollte! Und die ihn jahrelang ausgebeutet hat mit ihren Schmuggelgeschäften! Gut möglich, dass sie und Emil gemeinsame Sache gemacht haben – beim Morden.«

Sie setzt sich wieder hin und verschränkt ihre Arme vor der Brust. »Ich geh hier jedenfalls nicht mehr weg, bevor der Emil nicht in der Arrestzelle sitzt.«

»Aber in zwei Stunden ist Feierabend«, sagt die Polizistin.

Sepp Gruber versucht es mit väterlicher Stimme: »Schau, Adele, wir tun doch alles, was wir können, um Bennis Mörder – oder Mörderin – zu finden. Tag und Nacht sind wir an dem Fall dran.« Er deutet auf Franz und Martin. »Und die beiden Herren können dich sicher beschützen im Gasthof.«

»Ist mir wurscht! Ich bleib hier!«

»Ich hätt da eine Idee«, sagt die junge Polizistin. »Meine Patentante, die Frieda, die würd dich sicher aufnehmen. Ihr seid’s doch jetzt gut miteinand, und Frieda hat noch nie jemand im Stich gelassen. Und wenn keiner was sagt, wo du bist, wird der Emil nix erfahren.«

Für den Gasthof ist es nicht gut, denkt Franz. Die Küche wird darunter leiden. Trotzdem nickt er und sagt: »Wir könnten Adele ja zu Friedas Haus begleiten. Für alle Fälle.«

Martin stimmt zu, Gruber sieht erleichtert aus, und Laura ist stolz auf ihre brillante Idee. Nur Adele scheint noch nicht überzeugt, doch nach einer Weile, in der alle sie erwartungsvoll ansehen, meint sie: »Also gut. Aber ruft die Frieda an, dass wir kommen. Und wo ich bin, das muss ein Geheimnis bleiben.«

Martin fragt sich, ob Adele wirklich Angst hat oder eine gute Schauspielerin ist. Egal, es ist besser, kein Risiko einzugehen. Und nun haben sie schon zwei Hauptverdächtige: Valery und Emil. Ist der Gedanke, dass sie gemeinsam dahinterstecken, wirklich so abwegig?