Einleitung

Marcus Tullius Cicero

M. Tullius Cicero wurde 106 v. Chr. in der unweit südlich von Rom liegenden Landstadt Arpinum geboren. Sein Großvater hatte sich zwar schon politisch auf kommunaler Ebene engagiert, doch Mitglied der Nobilität wurden die Tullii erst durch den politischen Aufstieg des Marcus.

Mit 16 Jahren legte er die toga virilis als Zeichen seiner Volljährigkeit an; die Zeit des Bundesgenossenkrieges verbrachte der persönlich Krieg und Brutalität stets ablehnende Cicero vermutlich in der Schreibstube.

Von 90 bis 82 studierte er zusammen mit seinem 102 geborenen Bruder Quintus Recht und Rhetorik, vor allem in Rom als Zuhörer der bedeutendsten Redner und Juristen seiner Zeit: L. Licinius Crassus, M. Antonius Gnipho und der beiden Mucii Scaevolae. Dank der so erworbenen profunden Kenntnisse konnte sich Cicero als Verteidiger einen Namen machen, zuerst in den Prozessen gegen Quinctius und Roscius (81/80). Stolz gab er die Gerichtsreden schriftlich heraus, zumal er sich durch mutiges Auftreten gegen die sullanischen Machthaber große Sympathie beim römischen Publikum verschafft hatte. Allerdings litt seine Stimme arg unter der Beanspruchung durch die Reden vor großen Menschenmengen. Im Rahmen einer Bildungsreise nach Griechenland und Kleinasien (79–77) verfeinerte er seine Redetechnik.

In Rom gelang es ihm, alle staatlichen Ämter suo anno, also zum frühestmöglichen Zeitpunkt, zu bekleiden: 75 die Quaestur in Sizilien, 69 die Aedilität, 66 die Praetur und 63 den Konsulat. Währenddessen war er auch weiterhin höchst erfolgreich als Redner tätig und konnte seine Erfolge in Prozessen für den Wahlkampf nutzbar machen. Besonders erfolgreich war die Anklage des Verres (70), der als Praetor hemmungslos die Provinz Sicilia ausgebeutet hatte. Mit dieser Rede profilierte sich Cicero als Verteidiger des Rechts und auch als Kämpfer gegen eine verstockt wirkende Nobilität. Nach diesem Prozess galt er als Roms bester Redner.

Tatsächlich aber bemühte er sich nach Kräften, in der Nobilität Fuß zu fassen. Als homo novus, als ein Mann, der noch nicht auf Familienmitglieder zurückblicken konnte, die bereits den Konsulat bekleidet hatten, bemühte er sich stets um die Unterstützung von Männern wie Pompeius. Cicero sorgte z. B. mit seiner Rede De imperio Cn. Pompei dafür, dass diesem ein umfassendes Kommando gegen Mithridates übertragen wurde (66).

Den Wahlkampf um den Konsulat im Jahr 64 organisierte Cicero höchst gewissenhaft; sein Bruder Quintus schrieb gar einen eigenen Wahlkampfführer (commentariolum petitionis). Tatsächlich wurde Cicero mit allen Stimmen gewählt.

Der Konsulat war der politische Höhepunkt seiner Karriere, und Cicero wurde nicht müde, sich immer wieder der Aufdeckung der Catilinarischen Verschwörung und der damit verbundenen Rettung des Staats zu rühmen. Der Patrizier L. Sergius Catilina hatte sich mehrfach vergeblich um den Konsulat bemüht und wollte schließlich das Amt, das er durch Volkswahl nicht hatte erringen können, gewaltsam an sich reißen. Nachdem er rechtzeitig informiert worden war, klagte Cicero Catilina im Senat so heftig an, dass sich dieser aus der Stadt zurückzog. Die Mitverschwörer ließ Cicero ergreifen und nach einer dramatisch verlaufenen Senatsverhandlung hinrichten.

Anfangs wurde Cicero nach der Niederschlagung der Verschwörung als pater patriae gefeiert, aber die Tatsache, dass die Verurteilten keine Berufung gegen das Urteil hatten einlegen können, führte schließlich zu seiner Verbannung (58). Zwar konnte er 57 nach Rom zurückkehren, von der politischen Leitung des Staates blieb er allerdings ausgeschlossen. Auch die freie Rede bei der Verteidigung seiner Klienten war immer weniger möglich, so dass er sich auf die schriftstellerische Tätigkeit zurückzog.

In den Jahren 55 bis 51 – seiner ersten literarischen Schaffensphase – schrieb er mit De oratore, De re publica und De legibus grundlegende Werke über den bestmöglichen Staat und dessen bestmögliche Leiter. Beides schien zu der Zeit verloren zu sein: Die res publica wurde seit 60 durch das Triumvirat von Caesar, Pompeius und Crassus geleitet. Damit war der wesentliche Pfeiler niedergerissen, der nach Ciceros Meinung den Staat trug: die libertas. Sie bezeichnete zum einen die Freiheit von Unterdrückung und zum anderen die Freiheit zur aktiven Teilnahme am Gemeinwesen. Beides war nicht ohne weiteres möglich; denn die Triumvirn vereinbarten, dass nichts im Staat gegen den Willen eines der dreien geschehen dürfe.

Weder nach dem Tod des Crassus und damit dem faktischen Ende des Triumvirats (53) noch im Bürgerkrieg zwischen Caesar und Pompeius (49–48) noch unter Caesars Vorherrschaft (47–44) konnte Cicero an seine früheren Erfolge anknüpfen. Stattdessen schuf er in seiner zweiten literarischen Schaffensphase (46–44) herausragende rhetorische und vor allem philosophische Werke wie die Tusculanae disputationes, De officiis oder De finibus bonorum et malorum.

Nach Caesars Ermordung (15. März 44) hoffte er C. Octavius, den späteren Kaiser Augustus, zu einem idealen Staatsleiter aufbauen zu können, der den Fortbestand der libera res publica sicherte. Doch während er im Senat mit seinen Philippischen Reden gegen Antonius einen letzten rhetorischen wie politischen Höhepunkt feierte, verbündete sich Augustus mit Antonius und Lepidus zum sogenannten Zweiten Triumvirat. Eine Vereinbarung der Triumvirn führte zur Ermordung Ciceros am 7. Dezember 43, zur Ächtung weiterer politisch missliebiger Bürger und schließlich zum endgültigen Untergang der libera res publica unter dem Prinzipat des Augustus. Der Staat war nun in der Hand eines Einzelnen; die Republik überlebte einen ihrer glühendsten Verfechter um nur wenige Jahre.

De re publica als staatstheoretische Schrift

Bereits Herodot, Platon und Aristoteles hatten sich Gedanken über die bestmögliche Herrschaft und Verfassung gemacht. Für Platon war Gerechtigkeit das Fundament des Staates. Idealerweise sollten die Herrscher zugleich Philosophen sein.

Aristoteles folgerte nach einer Analyse der bestehenden Verfassungen, dass eine stabile Herrschaft auf dem gemeinsamen Nutzen der Bürgerschaft beruhe.

Die griechischen Philosophen teilten ferner die unterschiedlichen Staatsformen, die sie kannten, nach der Anzahl der Herrscher in Monarchien, Aristokratien und Demokratien ein, denen die negativen Staatsformen der Tyrannis, Oligarchie und Ochlokratie entgegenstünden.

Polybios, der 168 v. Chr. nach dem Sieg der Römer im Dritten Makedonischen Krieg als Geisel nach Rom gekommen war, ordnete die römische Staatsordnung als Mischverfassung in dieses Schema ein: Aus den drei Grundmodellen habe Rom von der Monarchie die starke Magistratur, von der Aristokratie den Senat als Summe der politischen Erfahrung und von der Demokratie das Recht des Volkes auf Wahlen übernommen. Diese Mischung bringe Stabilität und sichere vor Umstürzen.

Während die griechischen Autoren die Verfassungen der griechischen Poleis und ihre Bewohner als Leser im Fokus hatten, vermittelte Cicero dieses Gedankengut erstmals in lateinischer Sprache dem römisch-italischen Publikum. Im besonderen Unterschied zu Platon sah er dieses Ideal schon in der Verfassung realisiert, die der Staat seiner Vorfahren bereits erlebt hatte. Jegliche Optimierung musste darin bestehen, die vermeintliche Verderbnis der Gegenwart zu beseitigen, das hieß konkret, den Senat zum tonangebenden Gremium des Staates zu machen, der libertas ihren Raum zu lassen, aber herausragenden Einzelnen keine übermächtige Position zuzugestehen.

Daher erfolgt die philosophische Betrachtung in De re publica im Rahmen eines Dialogs, den Cicero im Jahr 129 stattfinden lässt, also rund 75 Jahre vor der Abfassung der Schrift. Die Diskutierenden sind Mitglieder des sogenannten Scipionenkreises. Die moralische Autorität des Scipio Africanus unterstreicht bei der Betrachtung der Staatsformen die scheinbar verbindlichen Maximen für das Verhalten der Führungsschicht.

Wenngleich die übrigen Teilnehmer des Gesprächs bei weitem nicht mit Scipios Ansehen mithalten konnten, so befanden sich in diesem Scipionenkreis doch hochverdiente Politiker, Juristen oder Schriftsteller mit großer Bildung, und zwar auch in der griechischen Literatur. Die Männer, die in De re publica über den Staat diskutierten, wussten – so wollte es jedenfalls der Autor darstellen –, weshalb sie sich für die Sicherung des tradierten römischen Staates einsetzten: L. Furius Philus (Konsul 136) förderte den Komödiendichter Terenz; Sp. Mummius war 146 Legat seines Bruders gewesen, des Konsuls L. Mummius, der Karthago zerstörte; M’. Manilius (Konsul 149) galt als Mitbegründer des ius civile; C. Fannius erklomm 146 als einer der ersten die Mauern von Karthago. Hinzu kamen Q. Mucius Scaevola (Konsul 117), Scipios enger Freund C. Laelius Sapiens (um 190 – um 128), der Rechtsgelehrte und Stoiker Q. Aelius Tubero sowie P. Rutlius Rufus (Konsul 105), den Cicero als Quelle des Gesprächs angibt.

Geplant hatte Cicero den Dialog nicht wie eine Mitschrift dieses Beisammenseins, sondern in Anlehnung an Platons Politeia ursprünglich als neunbändiges staatsphilosophisches Werk; letztlich entstanden sechs Bücher. Der Fiktion nach fand je ein Gespräch am Vormittag und eines am Nachmittag statt, so dass die Bücher 1/2, 3/4 sowie 5/6 jeweils eine inhaltliche Einheit bilden. Infolgedessen steht den Büchern 1, 3 und 5 jeweils ein Prooemium voran.

Mit Ausnahme des 6. Buches, welches das Somnium Scipionis enthält, war De re publica bis 1819 verschollen. Angelo Mai entdeckte etwa ein Viertel des Werkes in einem Palimpsest in der Vatikanischen Bibliothek. Ciceros Text war in Zeiten von Pergamentmangel gelöscht und mit einem Psalmenkommentar des Augustinus überschieben worden. Dank einiger Fragmente konnte der Inhalt von De re publica weitgehend rekonstruiert werden:

In den ersten beiden Büchern geht es um die Frage nach der Verfassung des bestmöglichen Staates. Scipio führt aus, dass dies keine Utopie, sondern die Mischverfassung der res publica Romana sei, welche die Vorfahren bereits eingerichtet hätten. Dies belegt er im 2. Buch anhand einer Darstellung der römischen Geschichte.

Die Bücher 3 und 4 handeln von der Beziehung zwischen Politik und Philosophie. In der Mitte des 2. Jahrhunderts hatte Karneades offensichtlich Zweifel an der Gerechtigkeit der römischen Herrschaft geweckt, als er an dem einen Tag behauptete, sie sei gerecht, dies aber am nächsten Tag leugnete. Im Verlauf des 3. Buches überzeugt Laelius seine Zuhörer, dass Roms Herrschaft tatsächlich gerecht war.

Das 4. Buch handelt von Roms innenpolitischer Ordnung und vergleicht römische Sitten mit griechischen; die römischen scheinen dem Scipionenkreis allerdings vernünftiger zu sein.

Die letzten beiden Bücher richten ihren Fokus auf den idealen Staatsleiter, der sowohl juristisch als auch philosophisch und rhetorisch geschult sein sollte – eine Forderung, die Cicero bereits in De oratore erhoben hatte und die er zeitlebens selbst zu erfüllen suchte.

Das Werk gipfelt im Traum des Scipio. Sein Adoptivgroßvater erscheint ihm, verspricht ihm ein ewiges Leben in der Milchstraße und versichert, dass die Seele unvergänglich sei.

Diese Hoffnung des herausragenden Staatsleiters sorgte dafür, dass immerhin das Somnium Scipionis mitsamt einem Kommentar des Macrobius auch im christlichen Mittelalter bekannt blieb.