KAPITEL 2
: DISAPPEARING
Das monotone Rütteln der Abteilwagen, die von den Böen hin und her gestoßen wurden, zerrte an Lukes Nerven. Der Stoff des dicken Wintermantels um seine Schultern, das Gewicht des Rucksacks, den er sich weigerte abzusetzen, und Gertas skeptisches Glucksen in der Düsternis hinter ihm schienen ihn ablenken zu wollen. Die kleinen Wahrnehmungen brannten wie Nadeln in seinem Kopf.
Die Dunkelheit, in die das Abteil des Lastenzugs sie gehüllt hatte, brachte ihm nicht die Ruhe, die er sich erhofft hatte. Stundenlang hatte er in die kühle Finsternis gestarrt. Was sie ihm gebracht hatte, war nicht mehr als das Gefühl gewesen, eingesperrt zu sein. Gefangen, irgendwo am Ende der Welt.
Und er hasste es. Er hasste alles daran.
Die Hände zu Fäusten geballt, die Augen geschlossen, die Beine zum Schneidersitz auf dem kühlen Metallboden verschränkt, versuchte er zu lauschen.
Da waren das Rauschen und Zerren des Windes an der Außenverkleidung, das metallische Klirren der Waggons und die sachten Wellen des Meeres, die sich an den Stelzen der Brücke brachen, auf denen die Gleise errichtet worden waren. Und irgendwo dazwischen war Flovers Atem. Er ging regelmäßig, doch es klang nicht, als würde er schlafen.
War er genauso aufgewühlt wie Luke?
Er wollte ihn fragen. Irgendetwas sagen, das dieses Schweigen durchbrach. Doch Luke wusste nicht was, weil er sich selbst wie gelähmt fühlte .
Wie konnte das sein? Er war doch sonst immer derjenige, der Hoffnung hatte. Der aufmunternde Worte spendete. Der lachte, obwohl es nichts zu lachen gab. Doch das Vertrauen in die Welt schien aus ihm gewichen zu sein.
Dieses Gefühl war ihm bekannt. Er hatte es damals, vor zwei Jahren, gespürt, nachdem er seine Schwester verloren hatte. Nur bei Weitem nicht so umfassend, so allmächtig. Denn jetzt besaß er gar nichts mehr. Keine Familie, keine Heimat. Nur diesen Freund ihm gegenüber, den er irgendwie retten musste.
Flover war alles, was ihm geblieben war.
Und er sprach nicht mit ihm.
»Ich halt’s hier drin nicht mehr aus«, grummelte Flover unerwartet, und Luke zuckte beim Klang seiner Stimme zusammen. Mit schnell pochendem Herzen lauschte er, wie Kleidung raschelte und kurz darauf einige Schritte ertönten, während sein Begleiter vermutlich auf die Tür ihres Waggons zuschlurfte. Unter einem leisen Stöhnen zog er an dem Griff, bis sie sich einen Spalt breit öffnete und Silhouetten offenbarte.
Der Fahrtwind, der nur teils durch die Sicherheitsschilde, die den Zug umgaben, bis zu ihnen hereindrang, schlug ihnen kühl entgegen, wirbelte die Luft innerhalb des Abteils auf. Gerta flatterte überrascht mit ihren Flügeln, bevor sie sich in eine der hinteren Ecken verzog. Leichter Nieselregen stob ihnen wie Gischt in die Gesichter, kühl und wohltuend. Es würde nach wie vor mehrere Stunden dauern, bis sie die ersten Ausläufer von Chile erreichten.
Müde hob Luke seinen Kopf, um hinauszusehen, während Flover sein Gewicht gegen den Griff stemmte, um den Spalt zu vergrößern.
Vor ihnen erstreckte sich der Südliche Ozean bis an den Horizont. Unter dem wolkenverhangenen Himmel lag das Wasser ganz ruhig da, ungetrübt von der Düsternis der Welt, vom Chaos, das inzwischen überall herrschen musste.
Die Schienen, über die sie glitten, waren erst vor wenigen Jahren errichtet worden, zu der Zeit, als die Antarktis vollends erschlossen worden war. Diese Zugstrecke hatte Luke bisher nie genommen.
Er atmete tief durch.
Die frische Luft sollte ihn beruhigen, oder? Ja, er spürte, wie sie in seiner Nase kribbelte und seine Lungen flutete.
»Wie lange fahren wir noch?«, wollte Flover wissen und setzte sich ebenfalls in einen Schneidersitz, während sie über das Wasser unter ihnen schossen. Die unsichtbaren Schilde hielten die Kälte nicht draußen, aber sie sorgten dafür, dass er und Flover weiterhin lebten. Eine Tür während der Fahrt mit einem Flashtrain zu öffnen wäre ohne die Schilde tödlich.
Den dicken Wintermantel trug Flover halb geöffnet, die Kapuze in seinem Gesicht konnte die blasse Haut und die dunklen Ringe unter seinen Augen nicht verbergen.
Luke schaute auf die digitale Anzeige seines Phones. Kein Netz hier am Ende der Welt. Die Ortungsfunktion hatten sie zwar deaktiviert, aber ganz traute er der Sache noch nicht. Auf diese Geräte waren sie allerdings angewiesen.
»Ist schon noch ne Weile.« Luke fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. In seinem Kopf rauschte es von den Gedanken, die um Beachtung rangen. Trotzdem versuchte er, sich auf nur einen von ihnen zu konzentrieren, nun, da Flover sich endlich dazu durchgerungen hatte, mit ihm zu sprechen. »Wie soll unser Plan aussehen?«
Flovers Gesichtsausdruck war eigentlich Antwort genug. Das »Keine Ahnung« hätte er sich sparen können. »Du warst immerhin derjenige, der meinte, wir müssen verschwinden.«
Luke schluckte den Ärger herunter, der in ihm aufflackerte. »Trotzdem können wir zusammenarbeiten«, begann er geduldig. Obwohl es ihm schwerfiel, sich einzugestehen, dass er nun wohl auch gegen Flovers Launen ankämpfen musste. Als hätten sie nicht genug andere Sorgen. Es war ein Wunder, dass es ihnen gelungen war, mit Flovers KAGE-Keycard ungesehen in diesen Zug einzudringen. Sie waren schon weiter gekommen, als Luke gedacht hätte.
»Ich …« Flover schüttelte den Kopf und wich konstant seinem Blick aus. »Ich hab dir etliche Male gesagt, dass ich … Ich kann nicht mit dir zusammenarbeiten , wenn das bedeutet, dich damit in Lebensgefahr zu bringen.«
Das hatte er tatsächlich einige Male gesagt. Einige Male laut, einige Male wütend … allerdings nie so leise wie jetzt. So resigniert. Verletzlich kauerte Flover sich weiter zusammen und schien am liebsten mit sich ganz allein sein zu wollen, so klein machte er sich.
»Ich …«
»Nein!«, unterbrach Flover ihn harsch, und sein Kopf ruckte zu Luke herum. Zum ersten Mal, seitdem sie die Wohnung verlassen hatten, schaute er ihn durchdringend an. »Jede Minute, die du mit mir verbringst, vergrößert das Risiko, dass du dich infizierst!«
»Tja.« Luke setzte sich aufrechter hin. Diese Diskussion nahm kein Ende. Sie mussten diesen Punkt doch irgendwie überwinden können. Erkannte Flover nicht, dass es ihm auch nicht gut ging? Erkannte er nicht, dass sie aufgeben könnten, wenn sie nicht zusammenhalten würden? »Wir sitzen mitten auf dem Ozean als blinde Passagiere in einem Lastenzug fest. Und du kannst nichts dagegen tun.«
»Na bitte«, knurrte Flover und verschränkte ungehalten die Arme vor der Brust. »Wenn du unbedingt mit mir zusammen sterben willst …«
Luke beschloss, zu schweigen. Sich einzugestehen, dass diese Flucht sinnlos wäre, würde sein Ende sein. Nein, verdammt! Die Freundschaft zu Flover war alles, was ihm in dieser Welt geblieben war. Alles, was ihm in den letzten Jahren einen Halt geboten hatte.
Und seine Schwester lief jetzt irgendwo durch die Welt und … trug dieses Ding in sich. Wenn er über dieser Vorstellung nicht den Verstand verlieren wollte, musste er das hier tun.
»Dann ist es eben so«, brummte er und versuchte, so gleichgültig wie möglich zu klingen.
Selbst Stunden später hielt der kühle Boden in Lukes Rücken ihn noch wach, und der frische Wind von draußen war so kalt geworden, dass an Schlaf nicht zu denken war. Trotzdem hatten sie die Tür nicht wieder verschlossen.
Vielleicht war es eine stille Übereinkunft gewesen. Vielleicht ertrug Flover die Kälte nur, weil er keine Energie hatte, aufzustehen und die Tür zuzuziehen.
Der Blick auf die langsam untergehende Sonne hinter dem dunstigen Himmel gab Luke ein wenig Halt. Er gab ihm die Hoffnung auf ein Morgen. »Hast du dich beruhigt?«, flüsterte er leise in die Dunkelheit hinein.
»Geht so.«
»Hast du dir Gedanken gemacht, wohin wir gehen könnten?« Luke selbst hatte darüber nachgedacht, obwohl ihm keine der Ideen wirklich gut vorkam. Sie waren überstürzt in den ersten Lastenzug gestiegen, den sie erwischt hatten, ohne zu wissen, wohin sie gehen sollten. Sie brauchten langsam einen Plan, sonst würden sie irgendwo in Südamerika stranden, ohne zu wissen, wohin mit sich.
»Ich arbeite bei KAGE«, begann Flover langsam. Er hatte sich ebenfalls auf den Boden gelegt, die Augen auf die Decke über ihnen gerichtet. Die Arme hinter seinem schwarzen Haar verschränkt, die Kapuze halb ins Gesicht gezogen, sah er irgendwie friedlich aus. »Ich bin dafür ausgebildet, Menschen, die frisch infiziert wurden, aufzuspüren und auszuschalten. Ich kann dir also aus zuverlässiger Quelle versichern, dass es keinen Ort gibt, an dem man sich verstecken kann, wenn man in meiner Lage ist.«
»Aber alle KAGE-Agenten wurden während der Reinigung eingezogen«, entgegnete Luke sofort. »Und durch das Chaos, das derzeit herrscht, konzentrieren sie sich vielleicht auf andere Ziele und weniger auf die frisch Infizierten. Uns bleibt zumindest ein wenig Zeit, um uns etwas einfallen zu lassen.«
»Luke«, sprach Flover seinen Namen gedehnt aus, holte tief Luft und setzte sich unter Anstrengung auf. »Das bringt nichts. Ich sollte mich stellen.« Er hatte sich offenbar seine ganz eigenen Gedanken gemacht.
»Damit sie dich auf der Stelle exekutieren können?«, fragte Luke entrüstet und richtete sich so rasch auf, dass Gerta in der Ecke ärgerlich krächzte.
Flover rieb sich mit den Fingern über die Schläfen, schloss die Augen und verbarg sein Gesicht in den Händen.
»Es hat keinen Sinn mehr«, murmelte er matt. Seine Stimme war kaum zu hören, über dem Rauschen des Windes und der Wellen, die sich an den Pfählen brachen. »Mein Leben hatte … nie viel Sinn. Selbst du musst zugeben, dass da spätestens jetzt nichts mehr zu machen ist.«
Luke schlang die Arme um seine Knie. »Mann, Flover«, stammelte er machtlos und versuchte den Kloß in seinem Hals herunterzuschlucken. »Ich weiß, dass dein Leben … scheiße ist.«
»Hm.«
»Aber es gibt Menschen, die dich lieben und die sich um dich sorgen. Zum Beispiel …«
»Du?«, unterbrach Flover ihn und schüttelte den Kopf. »Schon klar. «
Luke runzelte die Stirn. Was sollte das wieder bedeuten? War er ihm nicht gut genug? Oder hatte es mit der Vergangenheit zu tun, von der Luke ihm nie erzählt hatte? Von Lukes Schwester, von der Flover nun erfahren hatte?
»Ich … ich denke, wir sollten zu deiner Mutter fliehen«, überging Luke Flovers Einwände, um weitere Diskussionen über den Sinn dieser Unternehmung zu vermeiden. Flovers nahezu hysterisches Lachen auf diese Überlegung hatte er vorhergesehen. »Ich meine es ernst! Sie ist der einzige Mensch mit Einfluss, der uns vielleicht helfen könnte.«
»Vergiss es«, knurrte Flover. »Du kennst sie. Denkst du wirklich, dass die Chance besteht, dass sie mich nicht ausliefert?«
Luke kannte Flovers Mutter. Er wusste, wie kaltherzig und streng sie war. Wie unglaublich fordernd. Doch würde sie ihr eigenes Kind tatsächlich töten lassen? »Ich kann nicht sagen, ob sie imstande ist, zu lieben. Aber vielleicht besteht die Chance, dass sie dich allein aus dem Grund retten will, weil sie keine anderen Nachkommen hat?«
»Ich denke, nicht«, warf Flover seufzend ein. Er sah Luke nicht einmal an, während er sprach.
»Ich meine …« Luke dachte nach. »Vielleicht gibt es ja irgendwelche experimentellen Mittel, um KAMI aus dem Körper zu bekommen, von denen wir nichts wissen. Von denen nur die obersten Militärs Kenntnis haben.«
»Von denen hätte ich bei KAGE vermutlich gehört.« Flover wirkte vollkommen entkräftet – und das zu Recht. Luke konnte sich nicht vorstellen, was in seinem Kopf vor sich gehen musste. Auch wenn er sich so sehr wünschte, er würde sich wenigstens kurz aufraffen, um dieses Problem zu lösen.
Flover zog den Reißverschluss seiner Jacke zu, legte den Kopf auf seine angezogenen Knie und schaute hinaus, wo das Blau des Himmels und des Meeres fast zu einem einheitlichen Schwarz geworden waren. Die Küste von Chile konnte nicht mehr weit entfernt sein.
»Hast du andere Vorschläge?«
Luke ballte seine Hände zu Fäusten und entspannte sie, um das Blut in seinen Fingern pulsieren zu lassen. Sie waren ganz taub geworden. »Hm. Du hattest in letzter Zeit öfter Kontakt zu Okijen Van Dire«, überlegte Luke laut – und wurde sofort mit einem skeptischen Stirnrunzeln gestraft. »Ihr steckt ja irgendwie unter einer Decke, was diese Regierungsverschwörung und so angeht«, erklärte er schnell.
»Der Typ ist bekannt als der Soldat, der die meisten Moja getötet hat. Was, denkst du, würde er mit jemandem wie mir machen?«
»Er hat vor zwei Jahren aufgehört! Niemand weiß, warum. Vielleicht ist der Grund für sein Aufhören ja ein Vorteil für uns. Vielleicht hat er eingesehen, dass Moja auch nur …«
Flovers hochgezogene Augenbrauen waren Luke Antwort genug.
»Na gut«, grummelte Luke. »Dann eben wirklich deine Mutter.«
Lethargisch wandte sein Gegenüber den Blick wieder hinaus. »Da hab ich ja was, auf das ich mich freuen kann«, flüsterte er ohne die geringste Hoffnung in der Stimme.