KAPITEL 4
: BREAKING
Es war Nacht geworden, während Flover und Luke mit dem Zug im Bahnhof in San Gregorio angekommen waren. Die Dunkelheit hatte sie in ihren Schleier gehüllt, und so war es ihnen fast ein Leichtes gewesen, mit Gerta im Arm aus dem Lastenzug zu fliehen und in den Straßen der Stadt, deren wuchtige Gebäude ihnen Schutz vor neugierigen Blicken boten, zu verschwinden.
Flover war froh darum, dass die angespannte Stimmung zwischen ihm und Luke sich etwas gelegt hatte. Auch wenn ihm nach wie vor diese Last auf der Seele brannte. Diese eine Frage, die ihn nicht losließ und ihm mehr als sein eigener Zustand den Verstand vernebelte. Diese Frage, von der er nicht wusste, ob er sie stellen sollte, aus Angst vor der Antwort.
Warum hatte Luke ihn so lange belogen?
In Gedanken verloren ließ er seinen Blick durch die Straßen ihres Ankunftsortes schweifen. San Gregorio war ein Dorf gewesen, das allein durch die Zugverbindung zur Antarktis zu einer kleinen Metropole herangewachsen war. Noch immer waren zwischen den breiten Hochhäusern kleine Steinbauten zu sehen, die zum ursprünglichen Teil der Kommune gehörten.
So gefangen war Flover vom Eindruck der fremden Stadt und von seinen eigenen Gedanken gewesen, dass ihm erst nach einigen Minuten auffiel, was er eigentlich sofort hätte bemerken müssen: dass sie vollkommen allein waren.
Neontafeln und bunte Screens erleuchteten die nächtliche
Stadt so wie in vielen anderen Bereichen der Welt. Doch von der sonst so fröhlichen Abendstimmung fehlte jedwede Spur. Keine Menschen, die lachend und singend durch die Straßen zogen, keine Straßenläden, keine offenen Türen zu Bars und Clubs, die mit bunten Reklamen für sich Werbung machten.
Die Leere ließ die bunten Lichter über ihnen kühl und fremdartig wirken.
»Wo sind alle?« Als ihn die Erkenntnis, dass hier ganz klar etwas nicht stimmte, traf, blieb Flover mitten auf der Straße stehen. Die Augen nach oben gerichtet erkannte er weder Menschen auf den Balkonen noch offene Fenster an den Häusern. Nur in wenigen von ihnen brannte Licht.
Luke hielt ebenfalls inne, um mit einem besorgten Ausdruck zu ihm zurückzuschauen. »Ich hatte erst vermutet, dass es hier generell etwas ruhiger ist«, sagte er leise und kam einige Schritte zurück. »Aber ich befürchte, es gibt einen anderen Grund dafür.«
Flover legte die Stirn in Falten. Wenn der Bereich schon evakuiert worden wäre, hätte der Zug nicht halten dürfen. Und in den Wohnungen über ihnen würden keine Lichter brennen. »Bestimmt gab es eine Kundgebung, dass sich alle in ihren Häusern aufhalten sollen«, murmelte er, und Luke stöhnte.
»Scheiße. Ich hab Hunger.«
Das ließ ihn fast lächeln. Sie hatten beide seit einer Ewigkeit nichts Richtiges mehr gegessen, aber dass das das Erste war, was ihm zu dieser Situation einfiel …? Flover strich ruhig durch Gertas Gefieder. »Vielleicht finden wir ja irgendwo eine …«
»Hey, ihr da!«
Synchron zuckten die beiden zusammen, und während Flover sich umwandte, kribbelte es in seinen Beinen, und er machte sich bereit, loszurennen, fort von dem Mann, der sie aus der Ferne gerufen hatte
.
Erst der Anblick des Fremden gab ihm Entwarnung. Ein Zivilist! Solange das blaue Leuchten in seinen Augen noch nicht zu sehen war, hätte der Mann keine Möglichkeit, ihn als künftigen Moja zu erkennen.
Er schob sich eilig über die Straße auf sie zu und wedelte heftig mit den Armen.
»Verdammt, was treibt ihr denn hier? Habt ihr die Info nicht bekommen?«
Flover und Luke sahen einander an, dann schüttelten sie den Kopf. Die Info? Vielleicht hatte der Rat wirklich eine Quarantäne verhängt.
»Ganz Südamerika wurde heute Mittag zur roten Zone erklärt!« Der ältere Mann, braungebrannte Haut, rabenschwarze Haare, blieb einige Meter von ihnen entfernt stehen und musterte sie skeptisch. Er war mit Sicherheit über sechzig Jahre alt. Unzählige Falten hatten sich in sein Gesicht gegraben, und die Kleidung an seinem Körper wirkte sehr schlicht. Nein, von ihm ging nichts Bedrohliches aus.
»Ihr … seid nicht von hier, oder?«, wollte er wissen, und endlich konnte Flover sich dazu durchringen, zu antworten. »Nein, wir kamen mit dem Zug aus der Antarktis«, entschied er sich für die Wahrheit. »Von einer Info wissen wir nichts.«
»Der gesamte Bereich wird evakuiert. Aber bis das Militär hier unten ist, kanns dauern.«
»Wir wollen morgen weiter«, ergriff Luke das Wort. Sie hatten sich eine Flashtrain-Verbindung nach Europa herausgesucht, die sie hoffentlich würden nehmen können. Wieder ein Lastenzug.
»Na, dann viel Erfolg«, spottete der Alte kopfschüttelnd. »Hier geht nämlich nichts rein oder raus.«
Zumindest nichts Offizielles.
»Wurdet ihr geprüft?« Der Mann hielt fortwährend einige Meter Abstand zu ihnen, und jetzt erst dämmerte Flover,
warum. Allerdings konnte er auf diese Frage nicht antworten, ohne zu lügen, also überließ er Luke das Reden.
»Wurden wir«, sagte dieser ohne eine Veränderung in seiner Stimmlage. »Wir sind Studenten von der Militärakademie.«
»Na, Gott sei Dank«, brummte der Alte. »Braucht ihr ’nen Unterschlupf für die Nacht? Ich hab ein Kellerzimmer frei. Keine Betten oder so, aber vielleicht reicht’s ja.«
Flover wollte die Stirn über diese unerwartete Gastfreundschaft runzeln, hielt sich allerdings zurück, um keinen Verdacht zu erregen. Was war in den Stunden vorgefallen, in denen sie abgetaucht waren?
»Ihr könnt auch euer Huhn mitnehmen.«
»Wir haben vor allem Hunger«, gestand Luke. Ein Blinzeln und Blinken am Himmel zog allerdings Flovers Aufmerksamkeit auf sich. »Wir hatten gehofft, etwas kaufen zu können.«
Das Gespräch der beiden verblasste im Hintergrund, während Flover versuchte auszumachen, was sich dort über ihnen, zwischen den Spitzen der Hochhäuser, befand. Hellblau und rosafarben leuchtete es, fast wie Sterne, nur viel näher. Waren das …
»Fuck«, hauchte er, als die Geschöpfe sich näherten und er die Schwingen erkannte, die sie ausbreiteten. Als das Krächzen aus ihren Schnäbeln drang.
Die Köpfe der anderen beiden wandten sich ebenfalls nach oben. Flovers Herz hatte bereits schneller zu schlagen begonnen.
Das waren Raben.
»Neonvögel«, hauchte Luke.
»Scheiße«, keuchte der Alte und wedelte so heftig mit seinen Händen, dass Flover es sogar aus den Augenwinkeln sehen konnte, während sein Blick ununterbrochen auf die Wesen über ihnen gerichtet war. »Kommt schnell!
«
Der Keller, in den der Fremde sie gebracht hatte, war feucht und kaum wärmer als der Metallwaggon, in dem sie ihren Tag verbracht hatten. Flover fühlte sich schmutzig und krank. Trotzdem hatte er sich in eine der Ecken verzogen, eine alte Decke eng um seinen Körper geschlungen, und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die schon seit Stunden an seinen Nerven zerrte.
Lukes Grummeln in der Dunkelheit war alles, was ihn wachhielt, und fast war Flover dankbar darum. Hatte er vorhin krampfhaft versucht, Ruhe zu finden, wollte er inzwischen gar nicht mehr schlafen. Er wollte nicht einschlafen und vielleicht nie wieder aufwachen. Wenn KAMI über Nacht seinen Geist fraß, wäre das Letzte, das er getan hatte, in einem schmutzigen Keller zu sitzen und über sein Leben zu sinnieren. Und das Erste, was er als Moja tun würde, wäre vermutlich, Luke zu töten.
Nein, so durfte es nicht enden. Und so durfte es nicht beginnen.
Scheiße.
»Dass dieser Van Dire ne Rede halten würde, hätte ich nicht gedacht«, sprach Luke nach einer Weile in die Finsternis hinein. Diffuses Neonlicht fiel durch ein staubiges Fenster über ihnen. Sie hatten einige Regale zur Seite geschoben und ein kleines Essen eingenommen, das der Kerl ihnen gebracht hatte. Sogar ein paar Körner für Gerta hatte er gefunden. Seine Gastfreundschaft wollte Flover einfach nicht verständlich werden – obwohl er Okijens Rede bereits mehrere Male über Lukes Phone mitgehört hatte und wusste, dass diejenigen, die Geflüchtete aufnahmen, finanziell entlohnt wurden. Etwas war ihm seltsam erschienen. Er konnte nur nicht den Finger darauflegen, was. Vielleicht war es nur der durchgehend skeptische Ausdruck in den Augen des Fremden gewesen.
»Wahrscheinlich haben Alaska und meine Mutter Okijen
gezwungen«, riss Flover sich aus seinen Überlegungen los. Die Vorstellung, wie die beiden den Soldaten festsetzten, um ihn für ihre Zwecke zu benutzen, missfiel ihm. Auch wenn sie gewiss richtig mit ihrer Herangehensweise lagen: Die Menschen liebten Okijen, und auf eine eigenartige Weise war er in seiner störrischen Haltung sympathisch. Er war bei seinem Vortrag eindeutig vom Skript abgewichen, und Alaskas vorwurfsvoller Blick daraufhin war Gold wert gewesen. Gerade das hatte seine Worte so vertrauenswürdig und verständlich erscheinen lassen.
»Flover, wir …«, setzte Luke nach einer ganzen Weile an, und Flovers Augen, die bereits einige Male zugefallen waren, öffneten sich wieder.
Sein Herz war ihm so verdammt schwer. Warum hasste er es so, dass Luke ihn begleitete, und warum konnte er sich nicht dagegen wehren, dass er so endlos dankbar dafür war, dass er ihn nicht allein ließ? Das alles war so kompliziert.
»Was?«, hakte er nach einigen Momenten nach, während sein Gegenüber scheinbar nach Worten rang. Das Licht des kleinen Screens vor ihm erhellte Lukes Gesichtszüge, ließ ihn eingefallen und blass aussehen. Flover war so müde, dass er die Konturen seiner Züge in der anderen Ecke des kleinen Raumes kaum mehr ausmachen konnte.
»Wir werden das schaffen, okay?« Luke sah ihn durchdringend an, danach legte er sein Phone zur Seite, und es wurde dunkel um sie herum.
Flover atmete bebend ein, als sein Herz einen Satz machte. Was sollte er denn dazu sagen?
Ja, er war dankbar. Und ja, er wollte im Grunde gar nicht, dass Luke ihn allein ließ. Doch dieses hoffnungsvolle Gewäsch konnte er auch nicht gebrauchen. Er wusste, dass es keinen verdammten Ausweg aus dieser Situation gab. Und dass Luke noch immer daran glaubte, deprimierte ihn. »Wenn ich
morgen als Moja aufwache: Tu mir den Gefallen und töte mich, bevor ich dich töten kann. Okay?«
Luke seufzte leiderfüllt. »Die Inkubationszeit kann mehrere Tage betragen«, versuchte er ihn erneut zu beschwichtigen.
Flover spürte ein Kribbeln hinter seinen Lidern und ballte die Hände so fest zu Fäusten, dass seine Fingernägel sich in sein Fleisch gruben.
»Manchmal sogar mehrere Wochen«, setzte Luke nach. »Es gibt sogar Fälle, da hat es Jahre gedauert, bis …«
»Bei einigen sind die Gehirne schon nach wenigen Stunden vereinnahmt«, unterbrach Flover ihn harsch, und Luke schien den Wink zum Glück zu bemerken – und schwieg.
Mist. Er wollte sich überhaupt nicht wie ein Arschloch verhalten. Nicht hier. Nicht jetzt. Das hatte Luke nicht verdient. Und doch war alles, was Flover über die Lippen bringen konnte, diese hoffnungslosen Phrasen.
Oder war es diese unausgesprochene Frage, die die Mauer zwischen ihnen beiden schuf?
Flover zog die raue Decke bis an sein Kinn und biss die Zähne grübelnd aufeinander. Was, wenn er den Gedanken äußerte, der ihn seit Stunden jagte? Was, wenn er Luke endlich auf das ansprach, was er in ihrer Wohnung offenbart hatte? Warum fürchtete er sich so sehr vor der Antwort?
»Luke«, setzte Flover an und schloss die Augen. Vielleicht als Schutz vor der Welt. Vor dem Wall, den er einzureißen drohte.
»Hm?«
Flover hatte immer gedacht, Luke sei ein normaler Typ. Ein Niemand mit dem Talent, schnell Freunde zu finden und Blumen zu züchten. Aber er hatte es wirklich gesagt, oder? Dass dieser Moja, den selbst die Bombe nicht hatte töten können, seine Schwester war
.
»Warum hast du mich so lange belogen?« Diese Frage hatte zwischen ihnen gestanden, seitdem sie mit allem, was sie brauchten, aus ihrer Wohnung geflüchtet waren. Nun hatte er sie ausgesprochen, und sie hing wie ein Schwert über ihnen.
»Worauf willst du hinaus?«, wollte Luke scheinheilig wissen, und Flover schnaubte abfällig.
»Tu nicht so!«, grollte er. Er hatte gedacht, er wäre in der Lage, Menschen zu durchschauen. Das war er vermutlich auch. Wie hatte er bei seinem eigenen Mitbewohner so blauäugig sein können? Dabei hatte es Anzeichen gegeben, die er so gekonnt ignoriert hatte. »Oder hast du den Moja vergessen, der dir wie aus dem Gesicht geschnitten ist? Und dass du gesagt hast, sie wäre deine Schwester, obwohl du immer behauptet hast, du wärst ein Einzelkind?« Flovers Herz schlug höher als bei ihrer Flucht und höher als in dem Moment, in dem er realisiert hatte, dass KAMI ihn erwischt hatte.
Luke brauchte einige endlos lange Minuten, bis er antwortete. Flover wusste nicht, ob es ihm gelegen kam oder nicht, dass er Lukes Gesicht im Dämmerlicht, das von den Straßen einfiel, kaum erkennen konnte.
»Ihr Name ist … Shiva«, erklärte Luke schließlich leise.
Flover schürzte die Lippen und nickte langsam.
Shiva. Diesen Namen hatte er Luke vor einigen Tagen im Schlaf murmeln hören. Das hatte er also zu bedeuten.
»Und sie ist deine …«
»Zwillingsschwester.« Luke räusperte sich. »Ja.«
Flover zog die Beine enger an seinen Körper und schwieg, in der Hoffnung, Luke würde einfach weitersprechen.
»Ich habe mit ihr und meinen Eltern in São Paulo gelebt.« Lukes Stimme war wie ein Anker in der Dunkelheit und gleichzeitig wie ein Nagel in Flovers Herzen. »Meine Eltern waren gerade in Berlin, um Freunde zu besuchen. Du weißt schon … Vor zwei Jahren. Der Vorfall.
«
Flover nickte. Erst im nächsten Moment wurde ihm klar, dass Luke ihn nicht sehen konnte, also bestätigte er leise.
KAMI hatte sich damals durch Vögel in São Paulo verbreitet. Innerhalb weniger Stunden hatte die Stadt sich in die Hölle verwandelt.
»Sie wurde infiziert«, schlussfolgerte Flover nach einer Weile. Hatte Luke deswegen das Bedürfnis, ihm zu helfen? Weil er es bei seiner Schwester nicht gekonnt hatte? Der Gedanke war ihm noch gar nicht gekommen, und sein Herz schmerzte plötzlich auf eine andere, neue Weise.
»Ja«, entgegnete Luke matt. »Und ich … ich musste zusehen, wie sie sie abtransportierten. Sie wurde in die Sperrzone gebracht und dort eingeschlossen.«
»Aha«, machte Flover, um ihn zum Weiterreden anzuspornen. Erst nach einigen Augenblicken wurde ihm klar, wie kühl und unfreundlich er sich verhielt. »Das … das tut mir sehr leid.« Die Worte kamen nicht so richtig ehrlich über seine Lippen. Das Bild, das er bisher von seinem gewöhnlichen, unschuldigen Mitbewohner gehabt hatte, musste sich erst geraderücken. Wenn das überhaupt möglich war. »Und dann?«
»Was, und dann?«
Flover legte seine Stirn in tiefe Falten und schüttelte den Kopf, bevor er die warme Decke von sich schob, sich aufrichtete und auf den Lichtschalter neben der Tür zustolperte. Sein Puls rauschte noch immer in seinen Ohren, als die Lampe an der Decke flimmernd ansprang und den am Boden kauernden Luke offenbar blendete.
»Komm, halt mich nicht für dämlich«, sagte Flover leise, dort stehend und auf Luke hinabschauend. Er konnte ihm nichts vormachen. Flovers fragwürdiges Talent war es immer gewesen, Dinge zu sehen, die andere nicht sahen. Bei Luke war das nur etwas zu spät gekommen. »Wenn du nichts zu
verbergen hättest, hättest du nicht über deinen Geburtsort und über … über einfach
alles
gelogen.«
»Vielleicht hatte ich einfach keine Lust auf dumme Fragen«, knurrte Luke und setzte sich aufrechter hin, während Flover auf ihn zutrat und sich vor ihn hockte.
»Ich dachte, wir wären Freunde.« Flover fühlte eine Energie in sich aufkeimen, die er seit einigen Tagen vermisst hatte. Jetzt, da er davon angefangen hatte, konnte er nicht lockerlassen. »Ich bin beim Militär, seit ich geboren wurde. Du kannst mich nicht mehr anlügen.«
Luke setzte einen so düsteren Ausdruck auf seine Züge, wie Flover es noch nie bei ihm gesehen hatte. Sonst hatte er mit seinen hellen Augen und den blonden Haaren stets so lebensfroh und heiter gewirkt. War all das nur Fassade gewesen?
»Du bist zum Militär gegangen, um sie zu finden, oder?«, sprach Flover seine nächste Vermutung aus. Vielleicht war das der einzige Weg, um Informationen aus Luke herauszubekommen. »Ich hatte immer den Eindruck, dass du irgendwie zu sanft für die Akademie warst. Mit deinen Pflanzen und deinen …«
»Ja, okay!«, rief Luke, und Flover richtete sich auf, als sein Gegenüber aufsprang. Gerta, in einem der Vorratsregale hockend, ließ ein skeptisch klingendes Geräusch erklingen. »Ja, das bin ich! Ja, ich habe meine Wünsche und Träume aufgegeben und den Kontakt zu meinen Eltern abgebrochen, um meine Schwester zu finden. Meine Schwester, die inzwischen von einem verdammten Monster besessen ist! Ich bin ein absoluter Spinner, und ich gehöre weggesperrt. Zufrieden?«
Flover war einige Schritte von Luke zurückgewichen, so sehr hatte er mit den Armen gefuchtelt, um seine Worte zu unterstreichen.
»Fast«, flüsterte Flover
.
Lukes Atem ging schwer, und sein Kopf war vor Rage rot geworden. »Was noch?«, fragte er mit zusammengebissenen Zähnen.
»An deinem ersten Studientag«, setzte Flover an und versuchte, so ruhig wie möglich zu klingen, obwohl es ihn innerlich zerriss, diesen Gedanken zu äußern. »Da bist du direkt auf mich zugekommen.« Er machte eine bedeutungsschwere Pause. »Wusstest du da, dass ich einen Mitbewohner gesucht habe?«
Und mit einem Mal wurde Luke leichenblass. Seine Haltung lockerte sich, seine Fäuste entspannten, und er schluckte schwer.
Flover hatte also recht gehabt.
»Ja«, bestätigte Luke erst nach einer Weile gedehnt. Wenigstens hatte er den Arsch in der Hose, dazu zu stehen, auch wenn das seinen Verrat nicht abmilderte.
»Und du wusstest damals bereits, dass ich bei KAGE bin. Oder?« Flovers Stimme bebte. Adrenalin kribbelte in seinen Adern, und seine Finger zitterten leicht vor Aufregung. »Du hast das irgendwie rausbekommen und wolltest deswegen gezielt mich als Mitbewohner.«
Luke schwieg.
Und das war im Grunde Antwort genug. Flover hatte keine Ahnung, wie Luke von KAGE hatte erfahren können. Doch da sein Mitbewohner scheinbar eine vollkommen andere Person war, als er vorgab zu sein, gab es dafür sicher eine spannende Erklärung.
»Rede!«, befahl er, wollte es trotzdem aus Lukes eigenem Mund hören. »Bist du deswegen mein Mitbewohner geworden?« Das war die finale Frage, die er sich seit ihrer Abreise stellte. Jetzt war ihm unklar, wie er sie so lang hatte zurückhalten können. »Bist du gezielt zu mir gezogen, weil du dachtest, durch mich an Geheiminformationen zu kommen?
«
Schweigen. Luke senkte beschämt seinen Kopf, konnte nicht einmal den entrüsteten Ausdruck auf Flovers Zügen sehen.
»Scheiße, Luke«, hauchte er. Wie konnte all das wirre Zeug, das er sich auf der Zugfahrt zusammengereimt hatte, tatsächlich wahr sein? Seine skeptische Ansicht der Welt bestätigte sich oft, aber nie in dieser Vollkommenheit.
Fuck. Wenn er gewusst hätte, dass all das wahr war, hätte er es früher angesprochen. Oder gar nicht. Die Entrüstung, die sich nur langsam in ihm ausbreitete, ließ sich nicht in Worte fassen. »Ich dachte, du … Scheiße, ich dachte, du wärst einer von den Guten.« Einer von den wenigen.
»Das bin ich«, wandte Luke schwach ein, doch Flover schüttelte lediglich seinen Kopf.
»Ich schwöre, dass ich …«
»Halt deine Klappe!«, fuhr er ihm dazwischen und trat einen Schritt zurück, weiter auf die Tür zu. »Ich dachte, ich könnte dir vertrauen.« Was war dieser Schmerz in seiner Brust, der ihn von innen anzuknabbern schien? »Und du hast mich von Anfang an nur benutzt.«
»Es tut mir leid, Flover. So ist …«
»Und jetzt willst du mir helfen, um dein krankes Gefühl von Gerechtigkeit aufrechtzuerhalten?«, überging er seine Entschuldigung.
Luke schüttelte heftig den Kopf. »Was, nein! So ist das nicht.«
»Du bist so ein … so ein …« Flover rang nach Worten, doch es wollte ihm keins einfallen, das seine Gefühle auch nur im Ansatz zum Ausdruck bringen konnte.
Er ging auf die Tür zu und legte seine Hand auf die Klinke. Sein Zeug war in dem Rucksack, den Luke mit sich herumtrug, aber das sollte jetzt egal sein.
Jetzt war alles egal
.
»Halt dich einfach von mir fern«, sagte er mit matter Stimme, bevor er den Keller verließ und über die schmale Treppe nach draußen floh.