KAPITEL 12
: FINDING
Das Wetter in der Wüste war so dunstig drückend, wie Andra es schon lange nicht mehr gespürt hatte. Als sie in den blassen Morgen hinaustraten und sie die Sandebenen vor sich sah, die Dünen und die Verwehungen vor der Station, ergriff sie ein Gefühl, so bitter, so schwer, dass es ihr Tempo verlangsamte, bis sie starr und kraftlos stehenblieb.
Die Sonne, noch schummrig hinter einigen Wolkenschleiern verborgen, spendete diffuses Licht, das sie über dieses endlos große Sandmeer warf. Und während Andra dort stand und sich umschaute, während Okijen und Byth noch gar nicht bemerkt hatten, dass sie nicht hinterherkam, zog sich ihr Herz so sehr zusammen, dass sie sich nicht mehr rühren konnte.
Atmen.
Ein Gewicht schien sich auf ihre Lungen gelegt zu haben. Das leichte Rieseln des Sandes, der vom Wind an ihre Haut getragen wurde, füllte sie mit einer schmerzenden Nostalgie.
Atmen. Mit dem Fluss gehen.
Vielleicht war es eine dumme Idee gewesen, hierher zu kommen. Der Drang, auf die Knie zu sinken, sich einfach in den Sand zu legen und sich ihren Emotionen hinzugeben, war fast zu groß, um ihm zu widerstehen.
»Andra?« Okijen hatte inzwischen bemerkt, dass sie nicht mehr hinter ihnen gegangen war, und eilte nun zu ihr zurück.
Aber sie wollte jetzt nicht reden.
Jetzt, hier, in dieser sandigen Welt, in ihrer warmen Heimat, wirkte er plötzlich so fehl am Platz wie ein Geist. Als wären die letzten Tage mit ihm und den anderen nur ein wirrer Traum gewesen.
Und sie konnte nichts tun, als dort zu stehen und den Kopf zu schütteln. War es wirklich da, ihr Dorf? So leer und dunkel, wie sie es sich vorstellte? Wollte sie es sehen? Solange sie es nicht sah, würde sie sich immer einreden können, dass alles normal geblieben war. Dass alle noch lebten und Andra nur fortgegangen war.
Würde sie es sehen, wäre dieses Trugbild für immer zerstört.
Andra atmete tief ein und aus, blinzelte einige Male, bevor Okijen bei ihr ankam.
»Hey, alles gut?«, wollte er wissen. Was für eine dumme Frage. Natürlich war es das nicht.
»Ja«, antwortete sie trotzdem steif und versuchte, alle Schilde in ihrem Inneren zu aktivieren. Sie musste in ihr Dorf. Sie musste dorthin. Vielleicht würde sie nie mit der ganzen Sache abschließen können, wenn sie es nicht tat.
Und mit diesem Gedanken, fest in ihren Kopf gefressen, setzte sie sich in Bewegung, schob sich an Okijen vorbei und bewegte sich raschen Schrittes auf die offene Wüste zu.
»Andra«, hörte sie Okijens Stimme hinter sich. Er kam ihr hinterher, während Byth noch immer einige Meter vor ihr stand und alles nur beobachtete. »Ich weiß nicht, ob das eine gute Idee ist.«
Das war es gewiss nicht. Aber sie musste auf ihr Gefühl vertrauen. Etwas anderes hatte sie nicht mehr. Wenn doch nur nicht Byth vor ihr stehen würde. Dann hätte sie den Tränen, die hinter ihren Lidern kribbelten, freien Lauf lassen können. Aber sie wollte nicht weinen, wenn die beiden es sahen.
»Es war eine dumme Idee, dich mitzunehmen«, fuhr Okijen hinter ihr fort. »Du bist noch nicht bereit dafür. Wir sollten dich … «
»Ist schon gut«, rang Andra sich ab. Nun war sie hier, und es gäbe eh kein Zurück mehr.
Byth warf Okijen aus unerfindlichen Gründen einen scharfen Blick zu, als Andra an ihr vorbeistapfte.
»Ich hab das von Anfang an gesagt«, grummelte sie und bezog sich wohl auf ein Gespräch, von dem Andra nichts wusste.
Sie ballte die Hände zu Fäusten und versuchte, die beiden zu ignorieren.
Endlose Stille lag über dem Ort, der einmal ihre Heimat gewesen war. Nur der durch Ritzen und Fugen pfeifende Wind und das Rieseln des Sandes an allen Ecken füllten die Leere, die sich über das Dorf gelegt hatte.
Alles war leer.
Die Gassen, die Wege, die Häuser. Türen standen offen, einige der Holzhütten waren bis auf das Fundament abgebrannt, andere wirkten so unversehrt wie am Tag vor ihrer … Abreise.
Und nirgendwo waren Menschen zu sehen. Weder lebendig noch tot.
Andra sah sich langsam um, während Okijen und Byth einige Meter hinter ihr Stellung bezogen hatten und scheinbar versuchten, so wenige Geräusche wie möglich von sich zu geben.
Dieser Ort hier war nicht mehr ihre Heimat. Nein, er war trostlos geworden. Ihm fehlten das Lachen und die Liebe. Das Schreien der Kinder, das Lachen der Männer, die Diskussionen der Frauen, die Geschichten der Alten. Ihm fehlte das Leben. Das, was Andra nun vor sich sah, wie sie mit weichen Knien und zitternden Fingern dort stand, war nichts als die leere Hülle des Dorfes, in dem sie gelebt hatte.
»Hat man die Toten bestattet?«, fragte sie, ohne sich umzudrehen. Je mehr sie versuchte, das Bild ihrer Eltern und ihrer Geschwister zu verdrängen, das sie heimsuchte, umso deutlicher wurde es vor ihrem inneren Auge.
»Ja«, antwortete Okijen. Er wusste es vermutlich nur, weil eine Sache wie diese hier nicht zum ersten Mal vorgekommen war.
»Man hätte sie auf die Weise unseres Volkes beisetzen sollen«, murmelte Andra nur zu sich selbst. Sie schluckte schwer und schürzte die Lippen. »Aber eure Weise ist sicher besser.« Im Grunde spielte es keine Rolle. Keiner dieser Menschen würde sich nun mehr darum scheren, was mit seinem Körper geschah.
Geh mit dem Fluss , hatte die Älteste immer gesagt. Lass dich nicht von etwas zerstören, das du nicht ändern kannst.
All ihre Weisheiten klangen inzwischen so richtig und gleichsam so leer.
»Wir können uns deswegen gern nochmal bei der Stadt melden«, bot Okijen kleinlaut an. »Du kannst …«
»Ist schon okay«, unterbrach Andra ihn und setzte sich wieder in Bewegung.
Wie viele Tage war es her, dass die Moja aus der Station ausgebrochen und über sie hergefallen waren? Andra hatte versucht, sie zu zählen, doch alles verschwamm ineinander. Es war noch keine Woche her, oder?
Warum fühlte es sich dann wie eine ganze Ewigkeit an?
Vorsichtig setzte sie einen weiteren Schritt auf den kleinen Weg, der zwischen den Hütten hindurch zu ihrem alten Haus führte. Der Sand hatte sich an den Wänden, in Fensterbänken und Türrahmen gesammelt.
»Es tut mir wirklich leid, Andra«, stammelte Okijen hinter ihr. Sie hatte keine Kraft, sich zu ihm umzudrehen. »Ich … ich hätte nicht annehmen sollen, dass ich dir helfen kann.«
Sie antwortete nicht, auch wenn sie ihm sagen wollte, dass er nichts dafürkonnte, dass diese Wunde nicht heilen würde. Zumindest nicht demnächst. Sie besaß einfach nicht die Energie zu sprechen.
Die Tür zu der Hütte, in der sie gelebt hatte, hing aus den Angeln. Die Splitter, die an allen Enden von ihr abgebrochen waren, ließen nur vermuten, mit welcher Wucht sie aufgebrochen worden sein musste.
Sie hatte sich damals nicht umgedreht.
Andra ballte ihre Hände so stark zu Fäusten, dass ihre Finger nach und nach taub wurden, als die Erinnerung sie einholte.
Sie hatte vor dem Dorf gestanden und gekämpft, war sich so sicher gewesen, alle zu beschützen.
Aber sie hatte sich nicht umgedreht. Hätte sie es getan, hätte sie gesehen, dass die Moja auch aus anderen Richtungen gekommen waren. Sie hätte gesehen, dass sie in das Dorf eindrangen und alles verwüsteten, während sie mit Angst und auch unbändiger Hoffnung im Herzen dort vorn gestanden hatte.
Sie hatte sich nicht umgedreht …
Warum bereitete ihr dieser Gedanke die meisten Schmerzen? Wenn sie sich nach rechts und links umsah, wenn sie die Zerstörung betrachtete, die die Wesen hier angerichtet hatten, und wenn sie an die Zerstörung dachte, die sie der Welt brachten, wusste sie, dass sie nicht hätte helfen können. Fast wäre sie selbst ums Leben gekommen, geschweige denn, dass sie auch noch gegen all die Moja hier drin hätte triumphieren können.
Trotzdem schmerzte es so sehr, nicht hier gewesen zu sein. Nicht wenigstens die Chance gehabt zu haben, es zu versuchen. Es schmerzte sie körperlich, in ihrem Bauch, ihrer Brust, ihrem Kopf und ihren Händen.
Blut tropfte in den Sand, als sie sacht einen Schritt über die Türschwelle in ihr Haus trat. Ihre Fingernägel hatten sich in ihr Fleisch gegraben. Es fühlte sich befreiend an, wie die warme Flüssigkeit an ihren Fingern hinabrann. Das Blut ihrer Freunde und Verwandten war bereits vom Sand bedeckt und fortgetragen worden.
Die Dielen unter ihren Füßen knarzten, als sie in die Küche trat. Sand war durch die offenstehende Tür gedrungen und hatte einen Großteil der Spuren des Szenarios verdeckt, das sich hier abgespielt haben musste.
Zwei Holzstühle lagen zersplittert am Boden, der große Esstisch, an dem sie gemeinsam gesessen hatten, war in eine der Ecken geschoben. Teller und Töpfe wirkten wie willkürlich verstreut zwischen Sand, Geschirr und Blut.
Andra wandte ihren Blick ab und schaute in eine der oberen Ecken des Raumes, noch immer gegen die Tränen kämpfend. Doch unter ihrem bebenden Körper und ihrem schmerzenden Kopf konnte sie sie nicht länger zurückhalten.
»Lasst mich bitte allein«, stammelte sie Okijen und Byth zu, die hinter ihr in der Haustür stehen geblieben waren. »Geht ohne mich, bitte.« Sie drehte sich nicht zu ihnen herum, hörte nur, dass einer von ihnen ebenfalls eintrat.
Es war Okijens Hand, die sich auf ihre Schulter legte.
»Bitte geht einfach«, flüsterte sie. Sein besorgter Gesichtsausdruck verschlimmerte alles nur noch.
»Andra«, wiederholte er ihren Namen. Sie hasste es, dass sie so vor ihm stand, die Schultern eingesunken, die Tränen auf den sandigen Wangen. »Du musst nicht allein damit klarkommen. Es tut mir so leid, dass ich nicht gesehen habe, dass …«
»Ist schon okay«, unterbrach sie ihn erneut. Der Blick seiner hellgrünen Augen, der sich in ihrem verkeilte, war wie ein letzter Anker. Er sah so endlos hilflos aus.
»Wir gehen zurück nach Ulan Bator, und ich stelle dir … ich me ine, ich könnte dir einen befreundeten Psychologen vorstellen? Wenn du das willst?«
Ein Psychologe? Was sollte das sein?
»Mit ihm könntest du über alles reden. Und er kann dir dann helfen, besser … hiermit … klarzukommen.«
Andra runzelte die Stirn und wandte sich wieder ab. Die Tränen brannten förmlich auf ihrer Haut. »Ich will nicht darüber reden«, murmelte sie. Alle Menschen, mit denen sie sonst über so etwas hätte sprechen können, waren tot. »Ich will nicht, dass es sich besser anfühlt.«
In der dunklen Zelle war ihr klargeworden, dass sie die Erinnerungen an ihre Familie nicht aus Angst vor dem Schmerz verdrängen durfte. Dass sie kämpfen musste, um die Erinnerungen an all die Menschen und ihre Kultur zu erhalten.
Aber das bedeutete wohl nicht, dass sie gefeit vor dem Terror war, der in ihr lauerte. Linderung würde sich noch falsch anfühlen. Genau das hier … genau dieser Schmerz war richtig, oder? Ihre Familie hatte nicht verdient, dass sie es sich leicht damit machte, diesen Verlust zu bewältigen.
Andra trat zu einem der letzten intakten Holzstühle hinüber und ließ sich darauf sinken. Wie hatte es sein können, dass sie tagelang versucht hatte, mit dieser Sache abzuschließen, während in ihrem Herzen die verzerrte Hoffnung gekeimt hatte, dass hier alles so war, wie sie es in Erinnerung hatte? Woher kam selbst jetzt noch diese verklärte, irreale Hoffnung in ihrem Herzen?
Sie würde nie einen von ihnen wiedersehen. Verdammt, sie wollte es sich in den Kopf prügeln, bis es endlich jede ihrer Fasern, jede ihrer Zellen durchdrungen hatte, und gleichsam hatte sie zu viel Angst vor dem, was das mit ihr machen würde.
Okijen trat einen weiteren Schritt auf sie zu und hockte sich nun vor sie. Dieses Mal machte er keine Anstalten, sie zu berühren, sondern sah einfach nur in ihr Gesicht, während sie dort saß und es einfach nicht verstand.
Sie verstand das alles hier nicht.
Es hatte lange gedauert, bis Andra wieder in der Lage gewesen war, sich zu fangen. Die Überreste ihrer Heimat so vor sich ausgebreitet zu sehen hatte ihr einen härteren Schlag versetzt, als sie sich jemals hätte vorstellen können.
Das Loch, in das sie gefallen war, das sie gelähmt und handlungsunfähig gemacht hatte, hatte ihr gezeigt, dass ihre Seele von Heilung noch weit entfernt war. Doch während sie dort gesessen hatte, in der alten Hütte, Okijen vor ihr kniend und Byth vor dem Haus wartend, während all ihre Wurzeln endgültig zerbröckelt waren, hatte ein neuer Gedankengang eingesetzt, der nun nicht mehr aufzuhalten war.
Ein Gedanke, so mächtig, dass er ihr die Energie gegeben hatte, ihre Tränen fortzuwischen und sich zu erheben. Ein Gedanke so stark, dass es sich anfühlte, als würde er ihr beim Laufen und beim Sprechen helfen.
Der Gedanke, nicht mehr fortrennen zu wollen. Der Wunsch nach einer erneuten Konfrontation mit diesem Wesen, das alles, was sie geliebt hatte, zerstört hatte. Und nicht aus dem Grund, es zu töten. Sondern um Antworten zu bekommen.
Es musste Antworten geben. Und während sie schweigend durch den Sand wateten und die Stelle ansteuerten, an der die Älteste die Segnung ihrer Waffen durchgeführt hatte, wusste Andra, dass sie sie bekommen würde.
Dieser Moja konnte sprechen. Sie hatte es nicht nur in der Aufnahme gesehen, sondern auch in ihrem Traum. Und er würde ihr antworten. Da war sie sicher.
»Da vorn orte ich Energiefelder«, sagte Byth, auf eins ihrer Geräte schauend, das leise vor sich hin piepte. Die Sonne war inzwischen schon weit am Himmel hinaufgeklettert – viel näher, als sie es hatten erleben wollen. Schweiß lief ihnen allen an den Schläfen hinab. Doch während Okijen und Byth vollkommen von den Temperaturen aus der Fassung gebracht wurden, fühlte Andra sich das erste Mal seit Tagen wieder lebendig.
»Ja, das ist es«, bestätigte Andra und sah zu der Stelle, auf die Byth deutete. War sie genervt davon, dass sie so lange darauf hatte warten müssen, dass Andra sich wieder beruhigte? Ihre Miene ließ keine Rückschlüsse darauf zu, wie sie diese ganze Situation aufgenommen hatte. Aber das fühlte sich auf eine eigenartige Weise gut an.
Auch die Art, wie Okijen in einigem Abstand hinter ihr ging, beruhigte Andra. Sie hatte nicht das Gefühl, den beiden eine Rechtfertigung oder Dank oder sonst etwas schuldig zu sein. Sie machten weiter mit der Mission und waren trotzdem für sie da. Irgendwie.
»Das Signal ist nur schwach«, überlegte Byth weiter, und Andra nickte.
»Ja, die …« Sie musste sich noch einmal räuspern, weil ihre Stimme immer wieder abbrach. »Die Kammer liegt unter der Erde. Seht ihr dort vorn?« Sie deutete auf eine Stelle im Sand, in der die Überreste eines alten Metallzauns aus den Dünen ragten.
»Wow«, machte Okijen und schloss langsam zu ihnen auf. »Wartet das hier niemand?«
»Ich habe gestern Nacht in alten Berichten gelesen, aber kaum etwas gefunden. Das Lager hier gibt es schon seit Jahrzehnten. Da war das alles hier noch Steppe. Vielleicht wurde es vergessen.«
»Oder vielleicht dachten sie, wenn der Sand alles zuschüttet, kommt da eh keiner mehr dran«, dachte Okijen laut nach. Byth nickte zustimmend. Die beiden atmeten schwer. Der Gang über den nachgebenden Boden schien ihnen Mühe zu machen. Andra war hier aufgewachsen und kam deutlich schneller voran als sie. Für sie waren die harten, steinernen Straßen der Städte eine unangenehmere Erfahrung.
»Da ist der Eingang.« Sie deutete auf eine kleine, graue Erhebung, die hinter einer der Dünen in Sicht kam. Sie hatten Glück. Manchmal war der Eingang zur warmen Kammer so von Sand zugeweht, dass er gar nicht mehr sichtbar war.
»Gehts von da aus runter?«, keuchte Byth, und Andra lächelte leicht über den hoffnungsvollen Ton in ihrer Stimme. Sie konnte es offenbar kaum erwarten, endlich wieder in Schatten zu treten.
»Ja«, bestätigte Andra und hörte das Aufatmen der beiden.
Das winzige Haus aus Stein und Metall, halb verborgen unter der Erde, wurde noch immer von der schweren Metalltür geschützt, die Andra das erste Mal gesehen hatte, als sie ein Kind gewesen war. Totenköpfe waren in leuchtenden Farben auf sie gezeichnet worden, Kreuze und andere Warnhinweise, die in allen erdenklichen Sprachen und Symbolen darauf hinwiesen, dass diesen Bereich zu betreten keine gute Idee sein konnte. Warum die Ältesten sich dazu entschieden hatten, dort das erste Mal hinabzugehen, war Andra tatsächlich immer ein Rätsel gewesen.
Trotzdem hoffte sie darauf, dass es etwas anderes als Radioaktivität sein würde, was dort unten auf sie wartete, während Okijen begann, den Sand vor der Tür ein wenig zur Seite zu graben und dann heftig an dem schweren Metall zu ziehen.
Nur ein Stück weit öffnete sich die Tür und gab den Blick auf ein in vollkommener Dunkelheit liegendes Inneres preis. Ein kühler Hauch drang von der düsteren Treppe zu ihnen hinauf, was Okijen noch mehr zu motivieren schien, die Tür mit einem weiteren Ruck vollkommen zu öffnen. Er und Byth stürzten praktisch hinein, und Andra musste sich fast ein Lachen verkneifen, als die beiden erleichtert aufstöhnten.
Byth hatte die Augen auf ihr Gerät geheftet, die hellen Strähnen ihres Haars klebten ihr in der Stirn, und sie strich sie immer wieder genervt beiseite.
Die Dunkelheit umfing sie, während die Tür sich langsam wieder hinter ihnen schloss, und auch Andra hieß das Gefühl der Kälte auf ihrer Haut willkommen.
»Und?« Okijen war bereits eine Stufe nach unten getreten. Das metallene Geländer an den Seiten der grob in den Stein geschlagenen Treppe fühlte sich angenehm eisig unter Andras Fingerspitzen an.
Byth, nur beleuchtet von dem Screen, auf den sie schaute, nickte. »Ja. Dort unten gibt es auf jeden Fall ionisierende Strahlung«, berichtete sie, und Andras Herz rutschte ein Stück tiefer. Das sollte also wirklich der Grund sein?
»Ist es ungefährlich, wenn wir uns nähern?«, wollte Okijen wissen. Er hatte einen Rucksack mit jeder Menge Ausrüstung dabei und machte Anstalten, ihn abzusetzen. Byth hielt ihn mit einem kurzen Wink ihrer Hand auf.
»Wenn wir nicht lange dableiben, sollte es gehen«, erklärte sie. »Wenn das Zeug hier wirklich schon seit vierzig Jahren lagert, sollte es relativ ungefährlich sein.«
»Relativ«, murmelte Okijen und zog eine Augenbraue hoch. Andra erkannte es nur schummrig, weil ihre Augen sich noch immer an die Dunkelheit hier gewöhnen mussten.
»Die Yuna sind hier ja scheinbar regelmäßig drin gewesen.« Sie schaute fragend zu Andra, die sacht nickte. »Wenn bei ihnen nie ein gesundheitlicher Schaden aufgetreten ist, habe ich keine Bedenken.«
»Na gut«, seufzte Okijen. »Dann mal runter.«
Das Leuchten seiner Taschenlampe erfüllte schon im nächsten Moment das steinige Innenleben des sporadisch gebauten Treppenhauses.
Die kleinen Taschenlampen an ihren Phones waren über viele Minuten hinweg das Einzige gewesen, das sie den Weg hinab geleitet hatte. Auch Andra war es gelungen, die Leuchte an dem TransPhone zu aktivieren, das Liza Moore ihnen gegeben hatte. Und bald war der Lichtkegel vor ihr das Einzige geworden, auf das sie ihren Blick noch gerichtet hielt, während sie sich am Geländer festkrallte, um auf den immer klammer werdenden Steinstufen nicht auszurutschen.
Keiner von ihnen hatte ein Wort gesagt. Doch nachdem sich das Chaos in Andras Kopf langsam wieder beruhigt hatte, nistete sich ein neues Unwohlsein in ihren Geist. Wenn die Waffen, mit denen sie ihr Leben lang zu kämpfen geübt hatte, wirklich radioaktiv waren, hatte die Älteste es ihr wirklich verschwiegen? Hatten alle es ihr verschwiegen? Oder waren sie wirklich so gefestigt in ihrem Glauben gewesen, dass auch sie davon ausgegangen waren, dieser Ort, so weit unter der Erde, wäre eine heilige Stätte, die Metall über Tage hinweg warm und stark machen konnte?
Das hatte Andra ja selbst geglaubt. Allerdings nur, weil sie nicht gewusst hatte, was Radioaktivität war. Sie schloss jedoch nicht aus, dass die Ältesten darüber Bescheid wussten.
»Wie siehts aus?«, fragte Okijen einige Male. Aber immer wieder bestätigte Byth, dass die Strahlung, auf die sie sich zubewegten, zu schwach war, um Schaden anzurichten – bis sie irgendwann den Fuß der Treppe erreicht hatten und sich sammeln mussten.
Die steinerne Kammer, in die sie gelangt waren, nachdem sie einen niedrigen, rundum betonierten Gang hatten durchqueren müssen, war so gewaltig wie ein Raum aus Marshalls Palast. Nur ganz aus feuchtem Gestein und dunkel wie ein schwarzes Loch. Ihre Stimmen hallten an ihren Wänden wider, und eine eisige Gänsehaut überzog Andras ganzen Körper, wenn sie sich – wie früher schon – vorstellte, wie viele Meter Erde und Sand sich über ihnen befinden mussten.
Selbst die hellen Lampen an ihren Phones reichten nicht aus, um bis ans Ende der unterirdischen Halle zu leuchten. Die schmalen Leuchtstoffröhren, die an der Decke angebracht waren, hatten noch nie funktioniert. Zumindest nicht, seitdem Andra das erste Mal als kleines Mädchen mit der Ältesten hier unten gewesen war.
»Das ist beeindruckend«, flüsterte Okijen, und trotzdem hallte seine Stimme laut und klar aus allen Richtungen wider. Jedes Wort jagte Andra einen weiteren kleinen Schauer über die Haut. »Wohin müssen wir?«
Einige schwere Türen und Tore waren zu sehen, doch Andra glaubte, sich nicht mehr daran zu erinnern, welchen Weg die Älteste stets genommen hatte.
»Ich glaube, wir müssen unser Licht ausschalten«, überlegte sie. »Die Älteste hat immer die Lampe gelöscht, wenn wir an dieser Stelle angekommen waren.«
Okijen und Byth warfen einander einen Blick zu, zuckten danach mit den Schultern und taten es Andra gleich, die die Lichtfunktion an ihrem kleinen Gerät schon deaktiviert hatte.
»Mann, ich hoffe echt, hier unten lebt nichts«, murmelte Byth, und Okijen lachte. Es dauerte eine Weile, bis ihre Augen vergessen hatten, dass es Licht gab. Bis die Dunkelheit, hier unten so vollkommen und absolut, sie ganz umfangen hatte und sie trotz mehrmaligen Blinzelns nichts außer Schwärze erkennen konnten.
Schwärze und …
»Da drüben«, murmelte Andra, als sie erst nach vielen Momenten in der Finsternis einen Schimmer wahrnahm, so leicht, dass es fast wirkte, als spielten ihre Augen ihr einen Streich.
Sie setzte sich langsam in Bewegung, denn trotz des ebenen Bodens war auch hier der Stein von herabtropfendem Wasser so glatt, dass sie an einigen Stellen zu schlittern begann.
»Könntest du das etwas spezifizieren?«, grummelte Byth, sah es dann aber offenbar ebenfalls. »Ah«, machte sie, und auch sie steuerte auf das Licht zu. Jedes Geräusch hier unten wirkte so erhaben und verloren zugleich. Die Kammer war wie eine Kathedrale, durch die sie nun andächtig schritten.
Und Andra hatte sich nicht getäuscht. Das Leuchten, dem sie folgte, ein sachtes Blau, wurde immer deutlicher, je näher sie ihm kam. Die Tür, durch deren unteren Spalt es hervordrang, hing leicht schief in ihren Angeln. Sie erinnerte sich daran, dass sie sich an dieser Stelle stets auf den Boden hatte setzen und warten müssen, während die Älteste hineingegangen war. Diesen Raum hatte sie nie betreten.
Würde sie es heute tun?
Unsicher legte sie die Hand auf die Klinke und drückte sie hinab, legte ihr ganzes Gewicht nach hinten. Trotzdem gelang es ihr nicht, das schwere Metall mehr als einige Millimeter weit aufzuziehen.
Das hellblaue Flackern, das aus dem offenen Spalt drang, ließ sie ihre beiden Begleiter zumindest als Silhouetten erahnen.
Okijen machte einen Satz nach vorn und half ihr, die Tür aufzustemmen, während Byth erneut ihr Untersuchungsgerät hervorzog.
»Bitte sag nicht, dass wir jetzt alle dem Tode geweiht sind«, murmelte Okijen und bedeutete Andra, dass sie die Klinke loslassen konnte, während er sich noch immer mit aller Mühe gegen die Tür stemmte, um sie offen zu halten.
»Nein«, murmelte Byth. »Die Strahlung ist ganz gering. «
»Also gehen wir rein?«, keuchte der Soldat. »Mann, eure Älteste muss echt muskelbepackt gewesen sein«, stöhnte er, und Andra lachte.
»Sie war zweiundneunzig Jahre alt«, erzählte sie kichernd. »Aber bei ihr sah das nicht so schwer aus.«
»Wir können rein«, versicherte Byth und schob sich an Okijen vorbei in den blau pulsierenden Raum. Andra folgte ihr rasch, damit Okijen die Tür loslassen konnte, die mit einem lauten Krachen hinter ihnen ins Schloss fiel.
Ein eigenartiges Gefühl breitete sich in ihr aus, während sie sich zu einem zuckenden, leuchtenden Energiefeld umwandte. Etwas wie eine dünne Wand aus Strom trennte sie vom Rest des großen Raumes. Der Wall wirkte allerdings nicht stabil. In Intervallen flimmerte er, wurde kurz unterbrochen, um sich dann durch sich ineinander verschlingende Blitze wieder aufzubauen.
Andra sah sich um, doch in den anderen Ecken des Raumes gab es nichts.
»Hält das Ding die Strahlung ab?«, fragte Okijen, und Byth runzelte die Stirn so tief, als wollte ihr Gesicht danach fragen, ob er nicht ganz beisammen war.
»Natürlich nicht«, erwiderte sie harsch. »Das soll vielleicht Menschen davon abhalten, weiterzugehen.«
»Vertrauenerweckend«, murmelte Okijen voller Ironie und seufzte, während er das flackernde Intervall mit in die Hosentasche gesteckten Händen beobachtete.
»Das ist ein reichlich ungewöhnlicher Mechanismus zum Schutz vor radioaktivem Müll«, überlegte Byth weiter, suchte die Wände zu ihrer Rechten und Linken ab, offensichtlich irritiert von dem, was sie sah. »Ich sehe keine Steuerkonsole.«
»Hört ihr das auch?«, überging Okijen ihre Überlegungen und starrte intensiv in die Leere vor sich, bevor er zu den anderen beiden hinüberschaute .
Andra lauschte, konnte aber nichts ausmachen, bis auf das Summen des Stroms vor ihnen. Und vielleicht … vielleicht ein kleines Quietschen aus der hinteren Ecke des Raumes, der noch vor ihnen verschlossen lag.
»Ich höre nichts«, tat Byth seine Frage ab.
Doch Andra war von einem eigenartigen Gefühl befallen worden. Während die Mechanikerin jede mögliche Ecke des Raumes absuchte, versuchte sie angestrengt, sich daran zu erinnern, was ihr die Älteste über diesen Ort hier gesagt hatte. »Ich weiß nicht, ob es eine gute Idee ist, hier zu sein«, murmelte sie und trat einen Schritt von der Barriere zurück.
So viel Stein über ihnen. So viel Dunkelheit um sie herum. Was, wenn hier unten …
Okijen wirkte nicht weniger besorgt als sie selbst. Lediglich Byth blieb weiterhin entspannt.
»Der Regler ist wohl auf der anderen Seite der Wand.«
Die Daten, die es ihr in die Luft spielte, ergaben für Andra keinen Sinn.
»Hatte eure Älteste so etwas wie eine Fernsteuerung dabei?«
Andra schüttelte den Kopf. »Wenn ich nur …«
»Ich hab keine Lust, zu warten«, grummelte Okijen – und noch bevor eine der beiden etwas dazu sagen konnte, hatte er einen Satz durch den elektrischen Schild gemacht, als dieser für ein Intervall lang ausgefallen war.
»Du Vollidiot!«, rief Byth wutentbrannt. »Du hättest draufgehen können!«
»Ach, alles gut«, murmelte er und trat offensichtlich unverletzt durch den Raum, auf einen Kasten an der Wand zu. »Vielleicht hätte es mir sogar mehr Power gegeben, wenn’s mich erwischt hätte«, scherzte er.
Byth fing seinen humorvollen Unterton nicht auf. »Du weißt genau, dass das so nicht funktioniert«, erwiderte sie streng. Andra verstand ihren Unmut. Okijens Sprung hatte ihr ebenfalls einen riesigen Schrecken eingejagt.
Er betätigte einen Schalter, die leuchtende Wand baute sich nach und nach ab – und die Dunkelheit verschlang sie erneut.
»Perfekt«, murmelte Okijen, und Andra atmete tief ein, nachdem das Rauschen und Ziepen des Stroms sich gelegt und drückender Stille Platz gemacht hatte.
Doch noch während sie alle nach der Leuchtfunktion ihrer Phones suchten, hörte sie es wieder. Dieses Quietschen, ganz leise nur. Danach ein Geräusch wie Fingernägel an einer steinernen Wand.
Und plötzlich gefror alles an Andra mitten in der Bewegung.
»Das …«, flüsterte sie und trat einen weiteren Schritt zurück, auch wenn alles um sie herum gleich schwarz war. Die anderen beiden schienen ebenfalls erstarrt zu sein, denn es dauerte gefühlt eine Ewigkeit, bis Okijen endlich seine Taschenlampe einschaltete und ein kühles, weißes Licht den kargen Raum flutete.
Er war größer, als Andra erwartet hatte, und die überraschende Größe dieser unterirdischen Kammer jagte ihr einen weiteren Schauer über den Rücken.
Verdammt, sie wollte hier raus! Jetzt.
»Wasserbecken«, flüsterte Byth andächtig und trat zu Okijen hinüber. Eine Art Pool erstreckte sich vor ihnen, zehnmal so groß wie ihre Hütte und mindestens fünf Meter tief. Trübes, grünes Wasser sammelte sich an seinem Boden. Es gab keinen Hinweis darauf, was sich in ihm verbarg oder wie tief es nach unten ging. Leise tropfte Wasser von den Decken hinein.
»Da drin werden die Brennstäbe gelagert«, überlegte Byth, während Andra fortwährend in ihrer Ecke stand und versuchte, ruhig zu atmen. Warum fiel ihr das so schwer? Irgendetwas war hier falsch. Irgendetwas war ganz und gar nicht in Ordnung.
Heiß und kalt wechselten sich auf ihrer Haut ab, als erneut das hohe Quietschen ertönte. Etwas wie dumpfe Schritte aus der Ferne. Sie schienen aus einer der Türen hinter dem Becken zu kommen.
»Scheiße«, murmelte Okijen und starrte das Metall des Eingangs an.
Andra hatte sich noch nie so sehr gewünscht, ihre Waffen bei sich zu haben, wie in diesem Moment.
»Was ist das?«, fragte Byth.
Okijen schüttelte sofort den Kopf. »Ich hab da eine ganz üble Vermutung.«
Hatte die Älteste hier tatsächlich etwas verborgen, über all die Jahre? Hier unten? Nein, das konnte nicht sein. Es konnte nicht.
»Wir hätten nie hier runterkommen sollen«, wiederholte sie und versuchte, sich einen weiteren Schritt auf die Ausgangstür zuzubewegen. »Wir sollten verschwinden. Und zwar jetzt.«
»Ich denke, schon, dass wir …«, setzte Okijen an, aber Andra unterbrach ihn harsch: »Ihr seid euch jetzt sicher, dass es Radioaktivität war, mit der die Älteste hier gearbeitet hat, oder?«, wollte sie wissen und schaute die beiden abwechselnd an. Die Angst kribbelte in ihren Gliedern, und sie versuchte trotzdem, sich ganz ruhig zu halten. »Wenn ja, dann wissen wir alles, was wir wissen müssen. Bitte lasst uns gehen.«
Okijen und Byth warfen einander wieder einen Blick zu, danach schüttelte Okijen den Kopf, griff an seine Hosentasche und zog eine Schusswaffe hervor.
Wieder das Quietschen und Reiben, die dumpfen Schritte.
Okijen trat einen Schritt auf die Tür zu, und Andra war so erstarrt, dass sie nicht einmal mehr blinzeln konnte .
»Da sind Moja drin, oder?«, hauchte sie tonlos.
Okijen legte sein Ohr an die Tür. »Ja. Es sind ein paar.«
Andras Herz schlug so heftig in ihrer Brust, dass es fast schmerzte. »Aber … warum …?«, murmelte sie. Dass Byth genauso ratlos dreinschaute wie sie, erleichterte Andra ein wenig.
»Mach die Tür nicht auf«, murmelte sie heiser. »Bitte.«
»Doch«, entgegnete Okijen, und Andra spannte sich an. Der Soldat griff mit einer Hand in die Seitentasche seines Rucksacks und zog eine kleine Dose hervor. Zwei davon warf er Byth zu, die sie sicher fing. Eins der Dinger hielt er sich an den Arm.
Waren das Impfungen? So eine hatte sie an dem Tag bekommen, als ihr Dorf angegriffen worden war.
»Such dir was, um dich zu verteidigen«, sagte Byth, während sie Andra ohne zu fragen die Impfung in den Arm spritzte und die kühle Flüssigkeit sich sofort in ihren Venen ausbreitete. Nachdem sie auch sich selbst geimpft hatte, griff Byth nach einem der größeren Steine am Boden.
»Nicht nötig«, grummelte Okijen und legte seine Hand auf die Klinke. Scheiße, war das nicht viel zu gefährlich? War er sich wirklich so sicher, dass er etwas mit dieser kleinen Waffe gegen sie ausrichten könnte?
»Drei«, sagte er, und Andra schaute sich hektisch in dem Licht um, das Byths Taschenlampe ausstrahlte, dann griff sie rasch zu einer am Boden liegenden Metallstange.
»Zwei.«
Das Quietschen war noch einmal zu hören. Es klang, als würden die Wesen hinter der Tür mit ihren Fingerkuppen über das Metall streifen. Wie lange waren sie schon hier unten?
»Eins!«, rief Okijen und riss im nächsten Augenblick die Tür auf .
Eine Frau machte einen Satz nach draußen. Ihre blau schimmernden Augen verrieten sie schon in der ersten Sekunde als Moja. Okijen, die Waffe im Anschlag, versetzte ihr einen gezielten Schuss in den Kopf, nachdem er bereits vor den Eingang gesprungen war, um das nächste Wesen am Herauskommen zu hindern.
Die Frau war noch nicht einmal auf dem Boden aufgeschlagen, da hatte Okijen dem nächsten Moja einen Tritt versetzt, der ihn zu Boden gestreckt hatte, um ihm ebenfalls eine Kugel in den Körper zu jagen.
»Licht!«, rief er, und Byth, in der einen Hand ihre Lampe, in der anderen einen Stein, riss ihren Arm hoch, damit Okijen besser würde sehen können.
Doch es herrschte wieder Stille.
Für einige Sekunden wagte keiner der drei, sich zu bewegen, Andras und Byths Blicke fest an Okijens Rücken geheftet, der sich nach wie vor nicht zu ihnen umgewandt hatte. Erst nach viel zu vielen endlosen Augenblicken erhob Andra das Wort.
»War es das?«
»Scht«, machte Okijen, regte sich keinen Millimeter.
Und dann ertönte es wieder.
Das Quietschen.
Oder war es ein …
Ja, das war ein Winseln.
Endlich gelang es Andra, sich aus ihrer Starre zu lösen, nach vorn zu hechten, vorbei an Byth und dem Pool und auf Okijen zu. Erst als sie in den dunklen Raum getreten war und dem Lichtstrahl folgte, den Byths Lampe erzeugte, sah sie das, was Okijens Blick so gebannt hatte.
»Ein Wüstenfuchs?«, flüsterte sie. Ja, es war eindeutig eins der Tiere, mit denen sie sich immer so gern umgeben hatte. Mit großen Ohren, die ängstlich an seinen Kopf angelegt waren, weit aufgerissenen Augen und geduckter Körperhaltung sah es sie an.
Sein Fell leuchtete glitzernd blau.
Der Moja, den Okijen umgebracht hatte, lag regungslos auf dem Boden direkt vor ihnen. Und um ihn herum, soweit das spärliche Licht den Raum erhellen konnte, ebenfalls Leichen, in verschiedenen Stadien der Verwesung. Der Geruch schlug Andra erst entgegen, als sie erschrocken einatmete.
»Scheiße«, keuchte sie hustend und zog sich den Kragen ihres Overalls über Mund und Nase.
Nachdem der Fuchs sich für einige Sekunden nicht geregt hatte, hob Okijen erneut die Waffe, um sie auf ihn zu richten. Einem vollkommen unbegründeten Reflex folgend griff Andra nach seinem Arm und hielt ihn auf.
»Nein, warte!«, rief sie leise und versuchte, seinen Blick einzufangen. Das Tier hatte nur erschrocken gezuckt, aber sonst keine Regung gemacht.
»Siehst du nicht, dass …«, setzte Okijen an, doch Andra runzelte die Stirn und ließ ihn erst los, als sein Blick weicher wurde.
»Er scheint gar nicht aggressiv zu sein«, stellte sie fest. An der Bewegung des Lichtkegels hinter ihnen bemerkte sie, dass Byth sich nun auch vorsichtig näherte.
Okijen starrte das Tier an. Er hatte seine Waffe noch nicht gesenkt, wirkte allerdings ein wenig entspannter. »Aber er ist eindeutig infiziert.«
»Das sehe ich auch«, murrte Andra. War es ihre weiche Seite, die dieses ängstliche Wesen ansprach? Erinnerte es sie so sehr an früher? Nein, das konnte nicht sein. Nichts an diesem Bild stimmte.
»Ich habe gelesen, dass Moja keine Angst haben können«, versuchte sie, ihr Verhalten zu erklären. »Sie können sie auch nicht spielen. Auch die Tiere können das nicht.« Alle Bilder von infizierten Tieren, die sie gesehen hatte, waren angsteinflößend und bedrohlich gewesen.
»Und was willst du damit sagen?« Er sah sie aus dem Augenwinkel an. Dass er ihr überhaupt zuhörte, obwohl er kurz davor gewesen war, das Tier zu erschießen, irritierte sie nahezu.
Leicht schüttelte sie den Kopf. »Ich … ich weiß es nicht. Aber irgendetwas an ihm ist anders. Oder?«
Okijen presste die Lippen aufeinander, dann tat er vorsichtig einen Schritt zurück. Der Fuchs winselte, als fürchtete er, jeden Moment angegriffen zu werden.
»Irgendetwas Schräges geht hier vor«, murmelte er. »Die beiden Moja waren auch viel zu schwach.«
Was? Sie hatten sich doch unglaublich schnell bewegt. Das empfand Okijen als schwach?
»Ich will ja nichts sagen«, murmelte Byth. »Aber ich befürchte, die Älteste hat hier nicht nur irgendwelche Waffen gesegnet
»Du meinst, sie hat …«, setzte Andra an und versuchte, ihre Gedanken zu ordnen, während ihr Blick wieder über die Dutzenden Moja am Boden vor ihnen glitt.
»Für mich sieht das aus, als hätte sie hier herumexperimentiert.«