KAPITEL 17
: WORSHIPPING
Der Sack, den sie ihm über den Kopf gestülpt hatten, war muffig und rau. Flover zählte nicht, wie viele Male er fast zu Boden fiel, während die Fremden ihn über den unebenen Grund schoben. Nach vorn gedrängt und gehalten von unbekannten Händen fühlte er sich fast wohl in der Dunkelheit, die ihn umgab.
Das hier war das Ziel. Etwas anderes gab es nicht, und etwas anderes konnte es nicht mehr geben. Entweder diese Menschen nahmen ihn bei sich auf, oder er kehrte mit Luke zum Auto zurück und wartete darauf, dass das Militär ihn fand. Vielleicht brachten sie ihn auch um. Egal, was geschah, hier entschied sich alles.
Und das machte ihn ruhig.
Sie waren am Ende angekommen.
»Setzt sie da drüben in die Ecke«, brummte der Bärtige.
Sie kamen in eine wärmere Umgebung, und die Fremden drängten ihn an eine Wand, um ihn dann mit auf die Schultern gedrückten Händen dazu zu bringen, sich auf den Boden zu knien. Die Fesseln um seine Handgelenke waren kühl und so fest angebracht, dass sie in sein Fleisch schnitten. Er hörte Luke neben sich atmen.
»Na los, mach schon. Schau dir das Ding an«, forderte der Alte, und einige Schritte waren zu hören. Ein schweres Tor schien geschlossen zu werden. Angeln quietschten, und ein metallischer Aufprall erfüllte für einige Sekunden den Raum .
Wie viele Personen befanden sich hier? Fünfzehn? Vielleicht zwanzig? Oder auch mehr. Flover wandte seinen Kopf hin und her, in der Hoffnung, durch das Licht zumindest hell und dunkel seiner Umgebung voneinander unterscheiden zu können. Doch es war hoffnungslos. Der Stoff war zu eng gewoben.
»Hast du seine Implantate schon auf dem Schirm?«, fragte der Fremde, und Flover atmete so leise er konnte, um sich ganz auf die gesprochenen Worte zu konzentrieren.
»Ja, Chef«, antwortete eine Frau. Er war also wirklich der Anführer dieser Gruppe. »Ich sehe allerdings nichts Außergewöhnliches. Ohrimplantate für die Kommunikation. Ein paar interne Überträger für Informationen, die mit einem TransPhone gekoppelt werden können. Nichts, was man orten könnte.«
Sie hatte recht. Was für einen Scanner besaßen sie, dass sie das so schnell feststellen konnten?
»Und die Brille?«, wollte der Kerl wissen. Einige der Schritte entfernten sich von ihnen.
»Ich kann nichts Außergewöhnliches erkennen.« Der Stimme nach zu urteilen, musste das Ben gewesen sein.
»Such weiter. Können wir seinen Körper schon selbst scannen?«
Jemand räusperte sich unangenehm. »J-ja, Boss«, antwortete ein Vierter. »Aber ich verstehe die Messwerte nicht ganz.«
Flover runzelte die Stirn. Die Messwerte? Hatten die hier Instrumente, um KAMI aufzuspüren? Er spitzte die Ohren und schloss die Augen, als könne ihm das helfen, jedes Wort besser zu verstehen.
»Was soll das heißen?«, donnerte der Bärtige.
»E-Einer der beiden ist ganz eindeutig von KAMI infiziert«, stotterte der Mann weiter. »Hier. Siehst du die Schwärme in seinem Körper? «
»Tatsächlich«, grummelte der Alte. Zumindest das würden sie ihnen beiden jetzt glauben. »Aber?«
»Sie wirken inaktiv. Normalerweise wirbeln sie, vor allem hier oben im Gehirn. Da sehe ich aber gar nichts.«
Was? Was sollte das bedeuten, sie wirbelten nicht? Am liebsten wäre er aufgesprungen, hätte sich den Sack vom Kopf gerissen und wäre zu ihnen hinübergeeilt, um selbst einen Blick auf den Scanner zu werfen.
»Was … bedeutet das?«, fragte der Chef weiter.
Auf seine Frage folgte nur Schweigen.
»So viele Nanos, wie er im Körper hat, müsste er eigentlich nicht mehr Herr seiner selbst sein«, warf die Frau ein, die sich zu ihnen gesellt hatte.
»Aber er hat ja gesprochen, oder?«, fragte der Kerl, den sie Ben genannt hatten.
»Ja, ich habe gesprochen«, ergriff Flover daraufhin endlich selbst das Wort. Und erneut trat Schweigen ein. Fuck, nun wurde er doch ungeduldig. Was stimmte mit ihm nicht, und wer um alles in der Welt waren diese Menschen?
Erst nach einer Weile setzten die schlurfenden Schritte wieder ein und bewegten sich langsam auf ihn zu. Flover spannte seine Muskeln an und setzte sich so gerade auf, wie er konnte, als jemand ihm den Sack in einem Ruck vom Kopf zog. Mit offenem Blick sah er zu dem großen Mann auf, der sie hatte abführen lassen.
»Glaubt ihr mir jetzt?«, wollte er wissen und schaute ihn herausfordernd an. Sie sollten sich entscheiden. Er wollte nicht mehr länger warten. Er konnte nicht. Er musste wissen, was mit ihm los war.
Der Mann bückte sich ein Stück hinab, packte Flover grob an der Schulter und zog ihn auf die Beine.
»Wie war dein Name nochmal?«, wollte er wissen. »Flower? Wie die Blume? «
»So in etwa.«
»Dann heißen wir dich hiermit in unseren Kreisen willkommen, Flover.« Und vollkommen unerwartet – fast schon wie in einem Film – senkte er seinen Kopf und ließ sich auf eins seiner Knie nieder. Als verbeugte er sich vor einem König.
Es dauerte, bis Flover seinen Blick von dem Fremden lösen konnte und es ihm gelang, die Halle zu inspizieren, in die sie sie gebracht hatten. Das Licht offenhängender Glühbirnen erfüllte nur einen kleinen Teil dessen, was wie ein alter Kornspeicher aussah. An langen Tischen waren verstaubte technische Geräte aufgebaut, die aussahen, als stammten sie aus dem letzten Jahrhundert. Vor ihnen standen die drei, die sich gerade noch so angeregt über ihn unterhalten hatten. Mit großen Augen starrten sie ihren Boss an – und fielen kurz darauf nahezu synchron, ebenso wie ihr Chef, auf die Knie.
Was war hier los?
»Kann mich mal jemand einweihen?«, keifte Luke neben ihm, weiterhin am Boden sitzend. »Flover, lebst du noch?«
»Ich denke, schon«, murmelte er perplex. »Oder ich träume.«
Mit einer für seine Statur unerwarteten Leichtigkeit richtete der Fremde vor ihm sich auf, griff an den Schlüsselbund an seinem Gürtel, packte Flover und drehte ihn herum, um ihn von seinen Fesseln zu befreien. Die metallenen Schellen ließ er zu Boden fallen.
»Du bist der erste Befallene, den wir treffen«, sagte der Große. Flover wandte sich um und trat einen Schritt von ihm zurück. »Bitte entschuldige die Reaktion. Ich weiß nicht, was angemessen ist.«
»Angemessen wäre vermutlich eine Beileidsbekundung«, entgegnete Flover und sah zu den anderen dreien, die noch immer am Boden knieten. Zwei von ihnen waren gerade mal Teenager. »Und wenn ihr besonders nett seid, vielleicht eine Dusche und ein Bett.«
»Natürlich«, sagte der Mann. »Mein Name ist Chris. Es tut mir leid, dass wir dich so ungebührend empfangen haben.«
Ungebührend? Was meinte er?
»Wir sind unangekündigt bei euch eingedrungen, also ist es schon …«, versuchte Flover zurückzurudern, aber der Mann hob schon die Hände zu einer beschwichtigenden Geste. »Ihr habt sicher eine lange Reise hinter euch. Kommt hier entlang.«
Er zog Luke ebenfalls vom Boden hoch, ein wenig gröber als Flover vielleicht. Ohne Luke von dem Stoff über seinem Kopf zu befreien, führte er ihn an der Schulter auf eine schwere Metalltür zu und bedeutete Flover, ihm zu folgen.
Das Zimmer, in das Chris sie gebracht hatte, besaß kahle, graue Wände und keine Fenster. Die Matratzen auf dem Boden waren vergilbt, die Decken schmutzig, und außer der dunklen Tür und dem schmalen Gang dahinter gab es nichts, was einen zweiten Blick wert war. Doch das Licht der kleinen Glühbirne in der Ecke war warm und die Matratze unter ihm weich. Und er lebte noch. Also gab es im Grunde nichts, worüber Flover sich beschweren konnte.
Es hatte einiges an Überzeugungsarbeit gekostet, um Chris dazu zu überreden, auch Luke freizulassen und ihn hierzubehalten. Die anderen waren kurz davor gewesen, ihn wieder auf die Straße zu setzen. Zumindest halbwegs in Sicherheit, saß sein ehemaliger Mitbewohner nun in einer der Ecken des Raumes auf einer der zwei Schlafmöglichkeiten, und starrte die Wand an.
»Ich bin also nicht ansteckend?«, fragte Flover und versuchte, seine abdriftenden Gedanken auf das Gespräch zu konzentrieren. Der Kleine, der den Scanner bedient hatte, hatte sich ihm nicht vorgestellt, aber Chris hatte ihn angewiesen, Flovers Fragen zu beantworten, und so saß er ihm sichtlich angespannt im Schneidersitz gegenüber. Er warf immer wieder nervöse Blicke zur Tür hin.
»G-genau«, erwiderte er. Während er den Eindruck erweckte, einfach aufspringen und aus dem Zimmer hechten zu wollen, kamen immer wieder Menschen an der Tür vorbei und warfen neugierige Blicke hinein. Einige blieben stehen, um den Kopf ehrfürchtig zu neigen.
Sie waren wirklich bei DVM gelandet. Und diese Menschen verehrten Flover wie einen Gott. Oder zumindest das, was sich in ihm befand.
»Aber wie kann das sein?«, wollte er wissen. Er hatte nie von einem solchen Fall gehört. Konnte es so etwas wirklich geben? Würde er davon nicht wissen?
»Das weiß ich nicht.« Der Junge war höchstens fünfzehn Jahre alt, vielleicht auch jünger. War er eins der Kinder dieser Menschen? Wie lange lebten sie schon hier unten, und wo hatte er gelernt, die Scanner zu bedienen? Es gab viel zu viele offene Fragen in seinem Kopf. Und Flover freute sich über jede einzelne von ihnen, denn jede bedeutete Ablenkung.
Sie hatten es geschafft.
Sie hatten es geschafft! Mal für Mal schaute er zu Luke hinüber, wollte ihm ein aufmunterndes Lächeln zuwerfen.
»Lässt sich das irgendwie herausfinden?« Vielleicht würden die Geräte nur Zeit brauchen, um das weiter zu analysieren. So alt wie die Dinger ausgesehen hatten, waren sie vermutlich von Mülldeponien zusammengesucht und wieder in Gang gebracht worden.
»Wir können morgen gern schauen, ob ich … das irgendwie … na ja.« Der Junge sah seine Hände an, während er sprach. Flover verstand die Situation noch nicht.
»Danke.« Er war also nicht ansteckend, auch wenn sie noch nicht wussten, warum es so war. Die Erleichterung über diesen Umstand ließ ihn vorerst alles andere vergessen. Seine Glieder fühlten sich plötzlich federleicht an.
Der Junge sah sich abermals zur Tür um. »Kann ich jetzt gehen?«
Flover nickte, und sofort sprang der Teenager auf, um sich raschen Schrittes aus dem Zimmer zu bewegen und im Gang zu verschwinden.
»Komisch.« Flover ließ sich langsam auf die Matratze sinken, auf der auch Luke sich niedergelassen hatte. Selbst dieses muffige, drahtige Ding kam ihm weich wie eine Wolke vor. »Alles gut?« Er versuchte, noch nicht die Augen zu schließen, sonst würde er vermutlich innerhalb von Sekunden einschlafen.
»Ja«, antwortete Luke leise und sah sich um.
»Denkst du, wir können ihnen vertrauen?«
»Wahrscheinlich«, seufzte Luke. »Wenn sie was im Schilde führen würden, hätten sie mich sicher besser behandelt.«
Flover lächelte matt. »Stimmt wohl. Also werden wir versuchen, morgen mehr herauszufinden.«
»Mhm.«
»Luke?«, fragte Flover und machte doch den Fehler, die Augen zu schließen, um sie ein wenig von den Anstrengungen des Tages auszuruhen.
»Hm?«
»Danke hierfür«, nuschelte Flover. Er brachte den Satz kaum mehr klar über seine Lippen, bevor der Schlaf ihn einholte.