KAPITEL 19
: HELPING
Okijen blinzelte in die Dunkelheit hinein. Schweißgebadet lag er in der Finsternis und fand sich erst nach und nach wieder in seinem Zimmer wieder, in seiner Realität, in seinem Leben. Wie weit war er weg gewesen?
Diese Erinnerung, die er so tief in sich vergraben hatte, war so frisch und echt wieder in seinen Geist getreten, dass die zwei Jahre, die seitdem vergangen waren, sich nun wie ein Traum anfühlten.
Schwerfällig setzte er sich auf und schaute sich um. War da nicht jemand in seinem Zimmer gewesen? Ihn hatte so ein seltsames Gefühl beschlichen, als er aufgewacht war.
»Hallo?«
Es kam keine Antwort. Waren sie gegangen?
Es tat gut, die Decken von seinem viel zu warmen Körper zu schieben, aber gleichzeitig fühlte es sich schlecht an, das Bett zu verlassen. Er fühlte sich nicht bereit. Er war müde. So müde, dass Schlaf ihm nicht mehr würde helfen können.
»Andra?«, rief er, trat auf die Zimmertür zu und blinzelte in die Küche hinein. Verdammt, es war schon Abend geworden. Die leuchtenden Neonbanner an den gegenüberliegenden Hochhäusern mischten sich mit dem Licht der untergehenden Sonne.
So lange hatte er geschlafen? Sein Körper fühlte sich fast so schwer an wie sein Geist. Er trottete in sein Zimmer zurück und tastete nach seinem Phone. Aber es lag nicht auf dem Tisch, und selbst nachdem er sich mühselig gebückt hatte, um im spärlich einfallenden Licht zu sehen, ob es heruntergefallen war, erkannte er nichts.
Er hatte es doch auf jeden Fall mitgenommen. Normalerweise ließ er es nie aus den Augen, auch wenn er es hasste. Wie eine Bürde trug er es tagein, tagaus mit sich. Das war sein Fluch.
Es konnte nicht fort sein.
Mit etwas mehr Elan packte er die Decken, zog sie beiseite, wühlte unter seinem Kopfkissen, tastete alle Taschen seiner Kleidung ab und wirbelte dann zurück in die Küche.
Es war weg.
Sein Phone war weg. Genau wie Byth und Andra …
»Okijen. Reg dich jetzt bitte nicht auf.«
Ein abfälliges Lachen drang aus seiner Kehle. Marshalls klägliche Versuche, ihn zu beruhigen, erzielten genau die entgegengesetzte Wirkung. Jedes Wort aus ihrem Mund machte ihn nur noch wütender, jede Erklärung ließ sein Blut höher kochen. Ziellos lief er durch die Straßen, das uralte TransPhone an sein Ohr gedrückt, das er noch in einer seiner Metallersatzteile-Schubladen gefunden hatte.
»Ich soll mich nicht aufregen?« Seine Füße trugen ihn durch die sich leerenden Straßen Ulan Bators, ohne ein genaues Ziel zu kennen. Sie sollte ihn endlich verdammt nochmal nach New York transportieren und aufhören, um den heißen Brei zu reden! Und wo zum Teufel war eigentlich Byth abgeblieben? »Ich habe die letzten Tage nichts anderes getan, als zu versuchen, diese Frau zu beschützen. Und sie ruft dich an und fragt, ob sie mit einer unbesiegbaren Maschine reden kann, und du lässt sie? Ist das ein verdammter Witz? Willst du mich umbringen?«
»Was?«, stammelte Marshall vollkommen überrumpelt von seiner Reaktion. Sie war doch sonst so redegewandt und diplomatisch. Seine Aufgebrachtheit warf sie nur dermaßen aus der Bahn, weil sie ihn lange nicht mehr so erlebt hatte. »Sie wollte es tun. Und zwar, um dich zu beschützen.«
»Ich kann mich selbst beschützen«, rief er in den Hörer hinein.
»Das ändert aber nichts daran, dass sie es …«
»Transportier mich jetzt endlich dahin!«, unterbrach er sie.
»Okijen!«
»Nein, ich will nichts hören!«
»Als General unserer Welt bin ich dazu verpflichtet, friedliche Lösungen den bewaffneten vorzuziehen!« Obwohl sie scheinbar ein paar ihrer Worte wiedergefunden hatte, wirkte sie noch immer zerstreut.
»Das ist mir sowas von …« Abrupt blieb er stehen, als er ein Zerren tief in seinem Inneren spürte. Etwas, das sich gegen die Worte sträubte, die er hatte aussprechen wollen.
Von einem Moment auf den anderen fehlte ihm die Kraft, auch nur einen Schritt weiterzugehen. Er schüttelte den Kopf und fuhr sich mit seiner freien Hand über die Augenlider. »Das ist mir sowas von scheißegal«, flüsterte er. Scheiße, was war mit seiner Stimme los?
Natürlich war es ihm nicht egal. Nichts von alldem hier. Aber warum? Warum konnte nicht einfach einmal alles gut sein? Warum wurden alle, die er liebte, immer wieder in solche Situationen gebracht? Er konnte einfach nicht mehr.
»Bring mich einfach nach New York, ja?«
Schweigen am anderen Ende der Leitung, auch wenn er Marshalls leises Atmen noch hörte. »Okijen«, sagte sie nach einer Weile, ganz leise. »Ich finde Lizas Entscheidung, dich zu befördern, auch nicht richtig.«
»Das hier hat nichts damit zu tun.« Die Wut, die sich in den letzten Minuten nahezu explosionsartig in ihm aufgebaut hatte, war verflogen. Sie hatte den Rest seiner Energie mit sich genommen. Schlaff hingen seine Schultern herab, während er dort stand und die wenigen Menschen, die sich noch auf der Straße befanden, ihm mit großen Augen auswichen.
»Sobald wir diesen Moja irgendwie unter Kontrolle bekommen haben, werde ich mich dafür einsetzen, dass du deinen Dienst ein für alle Mal quittieren kannst.«
Er schluckte schwer. »Danke. Aber bring mich jetzt einfach zu Andra, okay?«
Wieder eine kurze Stille. »Okay«, gestand sie ihm endlich zu. »Pass auf dich auf.«
»Ja.« Er klang hoffnungsloser, als er wollte.
»Major General Van Dire!« Einige der Soldaten salutierten, als Okijen die Station verließ und in einen frischen Morgen hinaustrat. Die Reise durch den Transportmechanismus seines uralten Phones war etwas turbulenter gewesen, als er es gewohnt war, aber die frische Luft beruhigte seinen schmerzenden Kopf, und fast hatte er den Eindruck, als klärte sie seine Gedanken.
»Das hat sich also schon rumgesprochen?«, fragte er und sah die Männer und Frauen an, die er mit einem Nicken wieder an die Arbeit schickte. »Verdammt«, murmelte er zu sich selbst. »Hey«, rief er dann einem vorbeijoggenden Mann zu, der sofort stehenblieb.
»Colonel«, grüßte er und nahm in Windeseile eine gerade Haltung an, auch wenn sein Atem noch schwer ging.
Es war eigenartig, die Sonne über den Horizont kriechen zu sehen, war sie in Ulan Bator doch gerade erst untergegangen.
»Entspann dich«, grummelte Okijen dem fremden Soldaten zu. »Wer ist euer befehlshabender Offizier?«
»Lieutenant General Chen, Sir«, bellte der junge Mann, und Okijen fiel ein zumindest kleiner Stein vom Herzen. Wenn hier jemand herumlief, der im Rang noch höhergestellt war als er, war er zumindest vorerst fein raus.
»Danke«, sagte er und setzte sich bereits in Bewegung. Rasch trugen ihn seine Schritte über das plattgetretene Gras zwischen der Station und den Toren der Sperrzone. Hinter diesen Toren hatte er selbst gekämpft, mehrere Male sogar. Die Moja der Sperrzone in New York waren bekannt dafür, sehr viele Unregelmäßige hervorzubringen. Das machte es für die Medien spannend. Und für diejenigen, die den Kampf gegen die Wesen als Leistungssport ansahen.
Ein kurzer Blick über die Landschaft genügte, um Andra zu sichten, bereits mehrere hundert Meter von der Station entfernt. Eine Frau in einem langen Kimono ging neben ihr her. Was hatte das denn zu bedeuten?
Er hatte sich bereits in die Richtung der beiden aufgemacht, um ihnen nachzueilen, als ein lauter Ruf ihn abermals zum Stocken brachte. »Major General!«
Oh Gott, wie er diesen Titel hasste. Warum reagierte er überhaupt darauf?
»Was?«, blaffte er und wirbelte herum. Tatsächlich erschrak er für den Bruchteil einer Sekunde, nachdem er den Blick der Frau traf, die diese Truppen lenkte. Die weiße Uniform mit den Sternen am Kragen sprach von ihrem hohen Rang. Er war an ihr und ihrer behelfsmäßigen Steuerzentrale vorbeigelaufen, ohne sie wahrzunehmen.
»Schön, dass Sie da sind«, grüßte sie ihn. Wer war sie? Lieutenant General Chen? Er hatte nie von ihr gehört, aber das hatte nicht unbedingt etwas zu bedeuten. Langsam trat er auf sie und einige Männer und Frauen zu, die sich um eine digitale Karte gesammelt hatten, auf der die Truppenbewegungen in der Umgebung bis hin zur Stadt eingezeichnet waren .
»Wir können jede Unterstützung gebrauchen.« Es schien ihr Mühe zu bereiten, nicht die ganze Zeit seine zerknitterte Alltagskleidung zu mustern. Er hätte sich wohl wenigstens Schuhe anziehen sollen.
»Ich bin vor allem hier, um meine Freundin zu retten«, stellte er klar. Für einen kurzen Moment schaute ihn die Frau verständnislos an, dann glitt ihr Blick zu Andra hinüber.
»Ah.« Sie wies auf einen kleinen Punkt auf der blau leuchtenden Karte vor ihr. Das Wimmeln der Moja in der Sperrzone, die in roten Punkten darauf eingezeichnet waren, bereitete ihm eine unangenehme Gänsehaut im Nacken. »Ich denke, Sie können uns auch darüber hinaus von Nutzen sein.«
Sein Blick huschte über die Karte, hin und her, bis er das gefunden hatte, wonach er gesucht hatte. Fast sprachlos deutete er auf einen der roten Punkte, der sich in einiger Entfernung der Station näherte.
»Ist er das?«
»Ja.«
»Scheiße«, hauchte er. All die Menschen hier, all die Soldaten, all die Strategen, Piloten und Panzerfahrer. Sie alle würden sterben. »Bei allem Respekt, Lieutenant General, aber sollten Sie sich nicht in die Zentrale zurückziehen? Sie können die Truppen doch auch von dort aus befehligen.«
Die Frau zog die Lippen zusammen, als hätte er gerade etwas vollkommen Unsinniges gesagt. »Ich werde meine Soldaten nicht allein im Kampf fallen lassen.«
Immer wieder huschte Okijens Blick zu Andra und ihrer Begleitung hinüber, obwohl er versuchte, sich mit aller Macht auf das Gespräch zu konzentrieren.
Im Kampf fallen lassen? Sie rechneten also damit, sterben zu müssen?
»Sie sehen besorgt aus, Major General.«
»Sie können mich Okijen nennen«, murmelte er gedankenverloren. So viele grüne Punkte in der Stadt. Sie alle scharten sich an gewissen Stellen, vermutlich Bahnhöfen, Cyber-Field-Zentren und Schutzbunkern. Aber das war nicht genug. Sie konnten keine Stadt, in der fast eine Milliarde Menschen lebten, innerhalb von nicht einmal zwei Tagen evakuieren.
»Was denken Sie?«
Er sah sich noch einmal um. Trotz des Militäraufgebots wirkte dieser Morgen ruhig und freundlich. Die Sonne war warm und rot am Himmel hinaufgeklettert, und das Grün der Wiese wirkte beruhigend natürlich. »Ich denke, das wird nicht funktionieren«, erwiderte er ehrlich.
»Das wissen wir auch«, seufzte sie, runzelte tief die Stirn und schluckte schwer. Die Anwesenden schauten zu ihr auf. »Das ist alles, was wir tun können.«
Okijen schüttelte entschlossen den Kopf. »Ist es nicht. Sie sollten Ihre Truppen von hier abziehen. So gut wie alle.«
»Und damit die Stadt diesem Ding überlassen?«, fragte sie empört und war schon dabei, sich abzuwenden, als Okijen die Hand hob, um auf die Karte zu deuten.
»Hier!« Er deutete auf den Bereich zwischen der Sperrzone und der Stadt, genau am anderen Ende der Station. »Hier sind zu wenig Leute. Selbst wenn die Moja nur aus dem Tor hinter uns ausdringen, ist das hier der Punkt, an dem sie angreifen werden.«
»Vermutlich«, bestätigte sie knapp. Die Hände hinter dem Rücken verschränkt sah sie ihn an.
»Sie sollten meiner Meinung nach nicht allzu viel Energie darauf verschwenden, zu versuchen, dieses Ding aufzuhalten. Das ist Selbstmord.«
Sie presste die Lippen zu einer schmalen Linie zusammen. Ihr musste klar sein, dass das stimmte. »Ich denke, Sie sollten ihre Energie vor allem darauf verwenden, eine Barriere zwischen der Stadt und der Sperrzone aufzubauen. Einen Großteil ihrer Truppen können Sie noch immer dafür einsetzen, die Zivilisten aus der Stadt zu schaffen.«
Tatsächlich schien sie über seine Worte nachzudenken. »Aber wenn dies hier das Tor ist, das der Moja aufsprengen wird, täten wir doch besser daran, die ausdringenden Moja direkt hier zu bekämpfen. Bevor sie die Stadt erreichen.« Einige ihrer Untergebenen nickten zustimmend.
Okijens Blick flog immer wieder zu dem kleinen, roten Punkt, der sich ihrer Basis Millimeter für Millimeter näherte. »Nein. Denn der Moja wird nicht nur das Tor öffnen, sondern alles aus dem Weg fegen, das hier wartet. Sie und ihre Truppen wären innerhalb von Sekunden tot.«
»Aber …«
»Ich habe es selbst miterlebt!«, fuhr Okijen ihr dazwischen. »Wenn Sie sich vor der Stadt positionieren, besteht zumindest eine geringe Chance, dass Sie etwas bewirken können. Und wenn wir Glück haben, zieht das Ding sogar direkt weiter zur nächsten Sperrzone und kümmert sich nicht großartig um die Stadt.«
Der Lieutenant General fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und sah zu den anderen auf, die Okijens Worten ebenfalls gelauscht hatten. »Ich würde mich nur ungern von der Front entfernen«, gestand sie ein.
Okijen zuckte mit den Schultern. »War nur ne Idee. Am Ende ist es Ihre Entscheidung.«
»Und was werden Sie tun, Major General Van Dire?«
Sie sollte ihn doch Okijen nennen.
Er deutete mit dem Daumen zu Andra und ihrer Begleitung hinüber. »Ich werde mich zu den beiden gesellen und schauen, was man machen kann. Vielleicht funktioniert’s ja.«
»Und wenn nicht? Das wäre kein Selbstmord?« Nahezu herausfordernd hob sie ihre Augenbraue .
Und Okijen lächelte. »Ich hab nichts zu verlieren. Mit Ihrer Erlaubnis würde ich mich nun entfernen.«
»Ist in Ordnung«, sagte sie. »Und Major General«, rief sie ihm nach, als er sich bereits zum Gehen abgewandt hatte. »Haben Sie bitte ein Auge auf Major Ellis Reed.«
»Auf wen?«
»Der Mann, der ihre Freundin unterstützen soll.« Sie ruckte mit dem Kopf zu den beiden hinüber, und Okijen musste die Überraschung aus seinem Gesicht fernhalten.
»Was ist mit ihm?«, wollte er wissen. Der Lieutenant General trat um die Karte herum und bedeutete Okijen, ihr einige Meter von den anderen weg zu folgen.
»General Moore hat ihn uns geschickt«, erklärte sie mit gesenkter Stimme. Sie sprach so leise, dass er sie selbst kaum verstand. Okijen verkniff sich jedwede schnippische Bemerkung, während er lauschte. »Er kommt in irgendeiner geheimen Mission. Ich habe den General gebeten, uns in ihre Pläne einzuweihen, damit wir uns strategisch darauf einstellen können. Aber sie hat uns nichts verraten.«
»Was soll das genau bedeuten?«, wollte Okijen wissen, den Blick auf den Rücken des Fremden geheftet.
»Irgendetwas hat er vor. General Moore hat explizit gefordert, dass er Andra Yun begleiten soll. Behalten Sie ihn im Auge, ja?«
Okijen spürte, wie sich seine Augenbrauen zu einem skeptischen Ausdruck zusammenzogen. »Zu Befehl«, sagte er, danach wandte er sich ab, um auf Andra und diesen Reed zuzusteuern. Hinter ihm vernahm er, wie Lieutenant General Chen Befehle bellte.
»Ihr habt den Major General gehört«, rief sie den anderen zu. »Wir machen es so! Zehn Prozent unserer Truppen bleiben bei den Toren. Die anderen positionieren wir zwischen die Sperrzone und die Stadt. Los!«