KAPITEL 23
: ARGUING
Luke. Du wirst dich an den Gedanken gewöhnen müssen, dass wir nicht immer zusammen sein können.
Das hatte Shiva oft gesagt, schon während sie klein gewesen waren. Als er im Kindergarten hingefallen war und erst aufhören konnte zu weinen, bis sie auf die Wunde an seinem Knie gepustet hatte. Oder als er im Ferienlager gewesen war und sich endlos leer gefühlt hatte, ohne jemanden, der seine Gedanken verstand. Der die Worte für ihn aussprach, die er sich nicht zu äußern wagte.
Shiva war immer die Stärkere von ihnen beiden gewesen. Diejenige, die sich gegen ihre Eltern aufgelehnt hatte, wenn sie zu Unrecht ausgeschimpft worden waren. Diejenige, die in der ersten Klasse die anderen Jungs auf dem Schulhof vertrieben hatte, weil sie Luke wegen seiner Liebe zu Blumen aufgezogen hatten. Diejenige, die alles organisiert hatte, wenn sie Reisen ohne ihre Eltern unternommen hatten.
Ihr kämpferisches Herz und ihre verletzliche Seele hatten ihn immer fasziniert, auch wenn er sich neben ihr oft wie ein Schatten vorgekommen war.
Und dann war sie plötzlich nicht mehr da gewesen.
Natürlich hatte er gewusst, dass sie irgendwann getrennte Wege gehen würden, Familien gründen, neue Freunde finden, andere Leben führen. Doch er hatte nicht so früh damit gerechnet. Nicht so final.
Dass er sie so lange nicht aufgegeben hatte, war wahrscheinlich nur ein Zeichen seiner Schwäche gewesen. Ein
Zeichen dafür, dass er ohne sie nicht nur nicht leben wollte, sondern es auch nicht konnte. Dass er tatsächlich kaum mehr war als Shivas Schatten.
Shiva.
Sie auf den Aufnahmen zu sehen, die das Militär ausstrahlte, löste einen so tiefen, einen so tauben Schmerz in ihm aus, dass er nicht wusste, wohin er ihn vergraben konnte, denn er war immer da. Gleichzeitig war die Vorstellung, dass sie – gerade
sie
– der Wirt dieses Wesens sein sollte, so irreal für ihn, dass sich jede Vorstellung davon, jeder Gedanke daran, anfühlte wie aus einem seltsamen Traum.
Das alles … das konnte nicht wahr sein.
»Hey.«
Luke zuckte zusammen und hob den Kopf. Verdammt, er hatte so lange in die Schwärze des Raumes gestarrt, dass er fast vergessen hatte, wo er sich befand. Er hatte sich nicht geregt in dieser Nacht, sich nicht einmal die Mühe gemacht, seine Decke über seinen Körper zu ziehen.
Seine Augen kribbelten vor Müdigkeit, und trotzdem blinzelte er zur Tür hinüber, durch die sanftes Licht vom Flur aus einfiel. Die junge Frau namens Lacy steckte ihren Kopf durch den Spalt. »Seid ihr wach?«
»Ich schon«, murmelte Luke und richtete sich etwas steif auf seiner Matratze auf.
»Ich auch«, hauchte Flover neben ihm, nuschelte dabei jedoch so sehr, dass zumindest er wohl geschlafen hatte.
»Was gibt es?«, fragte Luke, während Flover sich seine Decke noch einmal über den Kopf zog. Dieser Anblick machte Luke zufrieden. Ihm gönnte er die Sicherheit dieses Ortes mehr als sich selbst.
»Ihr solltet kommen, gestern Nacht ist etwas Unglaubliches passiert!« Lacys Stimme klang aufgeregt, obwohl sie scheinbar nicht in Alarmbereitschaft war
.
»Muss ich meine Sachen packen?«, fragte Luke trotzdem.
»Nein, ist nichts Schlimmes. Ihr solltet euch trotzdem beeilen. Das wollt ihr ganz sicher sehen.«
Lacy begleitete die beiden mit ernstem Blick durch die Gänge des unterirdischen Lagers. Die Zimmer und Räume, Hallen und Labore, an denen sie vorübergingen, waren so weitläufig verteilt, dass der Eindruck entstand, sie wären unter ganz Berlin verstreut. Die Tunnel und Räume wirkten wie die Schutzbunker aus Zeiten des Zweiten Kalten Krieges vor über dreißig Jahren. Der teils verwahrloste Zustand, in dem sie sich befanden, unterstützte Lukes Vermutung, obwohl er nie ein derart großes und ausgebautes System gesehen hatte.
Die Wände der Gänge waren grau und trist. An einigen Stellen waren sie zusammengebrochen und ließen durch eingestürzte Gebäudeteile morgendliche Sonnenstrahlen hinein. Von dort aus wuchsen Moos und Gräser so weit in die Gänge, wie das Licht der Sonne reichte. Überall roch es nach modrigem Wasser und Erde. Die intakten Teile wurden nur spärlich von Leuchtstoffröhren erhellt.
»Bekommen wir wenigstens einen Hinweis darauf, was vor sich gegangen ist?«, fragte Flover. Er trug trotz der frischen Morgentemperaturen nur ein kurzes Shirt. Die Narben an seinen Armen von all den Kämpfen gegen die Moja hatte er sogar bei ihnen daheim oft verborgen.
Lacys Blicke wanderten immer wieder zu ihnen hinüber. Erst heute konnte Luke sich ein Bild davon machen, wie sie wirklich aussah. Gestern, in der dunklen Gasse, war sie nur ein verschwommenes Gesicht unter vielen gewesen. Nun war alles, das ihm gestern an ihr bedrohlich vorgekommen war, verschwunden. Ihre weichen Gesichtszüge wirkten jugendlich. Sie konnte auf keinen Fall älter sein als er. Ihr langes Haar, leuchtend pink gefärbt, umrahmte ihre blassen Wangen. Im
spärlichen Licht und in der abgenutzten Kleidung, die sie am Körper trug, erschien sie nahezu zerbrechlich.
»Der Moja hat gestern Nacht die Sperrzone in New York erreicht«, offenbarte sie.
Luke kräuselte die Stirn. »Scheiße. Und?«
Lacy wandte sich zu ihnen um. Warum musterte sie die beiden, als müsse sie damit rechnen, jeden Moment von ihnen angegriffen zu werden? Flover, mit seinem zerzausten Haar und den vom Schlaf geröteten Wangen, und Luke, mit den vermutlich noch immer dunklen Ringen unter den müden Augen, konnten wirklich nach keiner großen Bedrohung für sie aussehen.
»Ihr seid keine Anhänger der Religion, oder?«, wollte sie wissen. Ihr Blick war unergründlich, sodass Luke nicht gleich wusste, wie er reagieren sollte. Und Flover war wahrscheinlich zu müde, um dieselbe Eloquenz wie gestern Nacht an den Tag zu legen.
»Schmeißt ihr uns raus, wenn wir es nicht sind?«, fragte Luke deswegen halb im Ernst, halb spaßig gemeint.
»Darüber habe ich nicht zu entscheiden. Aber …« Sie verlangsamte ihr Tempo ein wenig und senkte ihre Stimme. »Aber wenn ihr die Aufnahmen seht, solltet ihr eventuell nicht allzu euphorisch reagieren.«
»Was ist denn da zu sehen?«, fragte Luke und schaute sich prüfend um, angesteckt von ihrer Heimlichtuerei. Wenn sie nicht euphorisch sein sollten, war es dann etwas Gutes? Verdammt, hatten sie den Moja etwa besiegt?
»Wartet einfach ab.«
Der Versammlungsraum war weitläufig und kühl. Das kahle Zimmer lag etwas höher als die anderen, an denen sie vorübergekommen waren. Sogar Fenster waren vorhanden, obwohl durch die milchigen Scheiben und die Pflanzen und
Farne, die sich darauf sammelten, nichts von der Außenwelt zu erkennen war. Die Morgensonne ließ sich auch hier in einigen wenigen Anmutungen blicken.
Lacy trat zu einem der Tische hinüber, an die, wie in einem alten Klassenzimmer, Holzstühle gerückt waren, und ließ sich nieder. Mindestens fünfzig Augenpaare wendeten sich zu ihnen um, während Luke und Flover etwas verloren in der Doppeltür standen und nach vorn zu Chris schauten. Die große Leinwand, vor der er stand, war schwarz.
»Flover. Luke«, begrüßte Chris sie mit ernstem Blick. Seine Haut erschien gräulich, seine Augen blutunterlaufen, als hätte er die ganze Nacht nicht geschlafen.
Was ging hier vor sich?
»Dann können wir ja anfangen.« Alle wendeten ihre Aufmerksamkeit nun der Leinwand zu. »Setzt euch.«
Anfangen? Hatten sie extra auf sie gewartet?
»Kommt«, flüsterte Lacy und schob einen der Stühle neben sich zurecht, auf denen die beiden Platz nahmen. Lukes Anspannung wuchs mit jeder Sekunde, die er erwartungsvoll auf die Leinwand blickte. Was zum Teufel war dort vorgefallen?
»Gestern Nacht – früh am Morgen Ortszeit – ist der neue Moja an der Sperrzone New Yorks angekommen«, verkündete Chris laut. Einige der Männer und Frauen regten sich. Sie alle trugen dieselbe farblose Kombination aus simplen Overalls und dünnen Strickjacken. Die Kleidung von jedem Einzelnen von ihnen war abgenutzt. Wie lange lebten sie hier schon?
»Unserer aller Hoffnung zum Trotz gelang es dem Militär, ihn zurückzuschlagen.«
Ein Raunen ging durch die Menge. Einige der Anwesenden waren nahezu bestürzt, schlugen die Hände über dem Kopf zusammen oder schüttelten ihn fassungslos. Luke lief ein kalter Schauer über den Rücken. Verdammt, bei all der Hoffnung,
die er in die Zuflucht bei diesen Menschen hier gesteckt hatte, hatte er fast vergessen, was für eine verquere Weltansicht sie hatten. Er zog die Ärmel seiner Strickjacke hinab, damit niemand die Gänsehaut sah, die sich auf seinen Armen ausgebreitet hatte. Auch wenn er Lacys Blicke in seinem Nacken spürte.
»Wir haben leider keine Aufnahmen von dem Moja selbst«, fuhr Chris fort. »Uns stehen nur Aufnahmen der Tore und des Eingangs der Station zur Verfügung. Aber schaut selbst.«
Er nickte dem Jungen zu, der sich ihnen gestern als Ben vorgestellt hatte. Dieser aktivierte den uralten Projektor. Auf ein Flimmern folgte eine stumme Aufnahme der schwarzen Tore.
Luke erkannte sogar den Winkel der Überwachungskameras. Sie waren in allen Sperrzonen der Welt gleich ausgerichtet, er hatte schon unzählige dieser Bilder analysiert, sowohl live als auch über sein Studium.
Wie um alles in der Welt kamen diese Leute an die Aufnahmen? Das waren Militäraufnahmen. So etwas wurde nicht öffentlich ausgestrahlt.
Eine ganze Weile lang war nichts Außergewöhnliches zu erkennen. Militärtrupps sammelten sich vor den Toren, Panzer und Hubschrauber. Einige Male änderten sie ihre Position, dann wanderten sie – im Schnelldurchlauf abgespielt – wieder ab.
»Hatten die keine Lust mehr oder einfach Schiss?«, fragte einer der Männer aus den hinteren Reihen, während zu beobachten war, wie sich ein Großteil der Soldaten von den Toren fortbewegte.
»Die Feiglinge sind vielleicht doch nach Hause gegangen, als es ernst wurde.«
Luke musste sich jedwede Regung auf seinem Gesicht verkneifen. Das sah eindeutig nach einem Strategiewechsel in letzter Sekunde aus. Wie konnten diese Menschen hier so
abfällig darüber lachen? Über Menschen, die die Tore der Zone verteidigten, um das Überleben von ihnen und allen anderen zu sichern? Über Menschen, die bereit waren, ihr Leben für diese Welt zu opfern?
Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, herzukommen. Eigentlich hätte er auch dort stehen oder bei der Evakuierung einer Stadt helfen sollen, bei der Versorgung der Flüchtlinge oder sonst etwas. Er wusste nicht, ob er nur Flover gerettet hatte oder auch sich selbst.
Ein Ruck ging durch die Menge, als ein weißes Licht den Raum erfüllte und die Leinwand für einige Sekunden so hell werden ließ, dass Luke zuerst glaubte, die Übertragung sei unterbrochen worden.
Erst als sich das Bild langsam von den Ecken aus wieder ausbreitete, sah er, dass es etwas anderes gewesen sein musste. Das Weiß der Leinwand dunkelte sich ab, wich einem Beigeton, danach einem hellen Braun – und Luke erkannte, dass es Staub war, der die Sicht auf die Tore verdeckte.
Ein Fluch huschte ihm durch den Kopf, während er die Trümmer der Tore betrachtete und das Kribbeln in seinem Körper einfach nicht nachlassen wollte. Einige Sekunden später, als vermutlich alle begriffen hatten, dass irgendetwas Gewaltiges die riesigen Tore der Zone in die Luft gesprengt hatte, brachen Applaus und Jubel unter den Männern und Frauen in der Halle aus.
Lukes Puls beschleunigte sich. Er sank tiefer in seinen Stuhl zurück und hoffte fast, sich dadurch unsichtbar machen zu können. Hatte Lacy nicht gesagt, er solle nicht zu euphorisch sein? Noch sah er nichts, was in irgendeiner Art und Weise gut sein konnte.
Und er konnte sich beim besten Willen nicht dazu überwinden, seine Hände zu heben und zu klatschen, zu jubeln, zu lachen, wie alle um ihn herum. Würde er dadurch den Hass
dieser Menschen auf sich ziehen? Aber verdammt, das sollte ihm egal sein. Das hier war einfach nicht normal.
Lukes Blick glitt suchend zu seinen Sitznachbarn hinüber. Flover ballte die Hände zu Fäusten und schien ebenso wie er tief durchatmen zu müssen. Lacy behielt sie beide genau im Auge, auch wenn ihr eigenes Klatschen eher wenig euphorisch wirkte.
Nur langsam beruhigte sich die Stimmung, während der Staub sich legte und in Silhouetten zu erkennen war, wie Hunderte Moja, vielleicht Tausende, sich über die Trümmer der Tore hinweg nach draußen bewegten. Als hätten sie gewusst, dass sie befreit werden würden, strömten so viele von ihnen hinaus, dass sie eine graue Masse bildeten, in der kaum ein Wesen vom anderen zu unterscheiden war.
Mit effizienten Schritten steuerten sie auf die Truppe zu, die sich in einem Halbkreis um die eingestürzten Tore formiert hatte. Die Moja, einige von ihnen blau leuchtend, drängten die Soldaten so schnell zurück, dass erneut euphorische Rufe aus den Mündern vieler DVM-Mitglieder drangen.
Luke atmete tief ein, um sich zu beruhigen. Scheiße, da starben Menschen vor ihren Augen, und die waren froh darüber. Vielleicht sollten er und Flover weiterziehen.
Gerade hatte er seinen Blick von der Leinwand abgewandt, um das Massaker nicht weiter mit ansehen zu müssen, als jemand weiter vorn erschrocken keuchte – und Lukes Kopf doch wieder hochruckte.
»Ist das …«, setzte eine der Frauen aus der Gruppe an, stockte jedoch unsicher. Eine Person war zu sehen, die frontal auf das Kampfgeschehen zulief. Aus dieser Entfernung war sie nur ein kleiner Punkt, und trotzdem stoben alle Soldaten auseinander, sobald sie die Unterstützung kommen sahen. Eine pinkfarbene Explosion zerriss die Masse der Moja und schleuderte viele von ihnen zurück in die Sperrzone
.
Im Schnelldurchlauf verfolgten sie, wie es dem Mann oder der Frau fast ganz allein gelang, alle Moja entweder zu töten oder zurückzudrängen, um sie dann so lange in der Zone zu bekämpfen, bis es die übrigen Soldaten geschafft hatten, die Tore durch elektrische Felder wieder zu verschließen.
Und während alle DVMler diese Bilder mit wachsender Frustration verfolgten – zumindest dem gelegentlichen Stöhnen und Grummeln der Menge nach zu urteilen –, breitete sich in Luke eine fast beruhigende Wärme aus.
So jemanden gab es in ihrer Welt? Er hatte noch nie jemanden so kämpfen sehen.
»Das ist Okijen Van Dire«, flüsterte Flover. Einige der um sie herumsitzenden Menschen drehten sich zu ihm um.
»Was?« Luke riss seine Augen auf, um mehr auf dem Bild zu erkennen. Klar, die pinke Färbung von Okijens Elektropulsen und EMPs war charakteristisch. Luke hatte viele seiner Kämpfe im Fernsehen verfolgt, damals, vor São Paulo. Aber das … das, was sie dort sahen, war übermenschlich. So hatte Okijen nie gekämpft.
Luke ließ sich nicht anmerken, was für ein gutes Gefühl es war, diese Aufnahmen zu verfolgen. Dieses Bild der Hoffnung für die Welt. Wenn es so jemanden gab, war vielleicht noch nicht alles verloren!
Aber je hoffnungsvoller er wurde, umso mehr düstere Gesichter erkannte er um sich herum. Nachdem sich das Tummeln vor den Toren gelegt hatte und sich nach und nach alle Überlebenden sammelten, hielt Ben die Aufnahme an.
Für eine ganze Weile legte sich Schweigen über den Raum, fast als trauerten die Anwesenden.
Es war Chris, der das Wort wieder erhob und einen Schritt vor die Leinwand trat. »Das alles ereignete sich erst vor wenigen Stunden«, erklärte er.
»Wer war der Kerl?«, rief jemand aus der Menge
.
»Wir gehen davon aus, dass es Okijen Van Dire war.« Der Vorsitzende wirkte vollkommen ruhig.
»Wie bitte?«, keuchte jemand. »Hat dem jemand ein Upgrade gegeben, oder was?«
»Mörder!«, keifte ein anderer.
Irritiert ließ Luke seinen Blick über die Anwesenden schweifen. Passierte das gerade wirklich? Scheiße, er wollte aufspringen und etwas sagen. Doch diese Menschen waren die Einzigen, die sie aufgenommen hatten. Er konnte sie sich nicht auch zum Feind machen.
»Hat er das überlebt?«, wollte ein anderer wissen.
Chris zuckte mit den Schultern. »Wir haben die ganze Nacht über die Aufnahmen analysiert. Wir können nicht genau erkennen, ob er es überlebt hat oder nicht. Er scheint auf jeden Fall sehr schwer verletzt zu sein.«
»Wo ist der Moja?«
»Der war auf den Aufnahmen leider nicht zu sehen.« Nun wurde Chris’ Blick düster. »Van Dire schien allerdings schon verletzt zu sein, als er auf das Kampffeld kam. Wir wissen nicht, was vorher vorgefallen ist.«
»Das bedeutet, es … könnte sein, dass …«, setzte jemand an, und einer der anderen Anwesenden vervollständigte den Satz: »… dass die Chance besteht, dass er den Moja getötet hat?«
Chris schürzte die Lippen und nickte betreten. »Ja.«
Ein Stöhnen und Wimmern aus vielen Mündern erfüllte den Raum. Als sich Lukes Herzschlag vor Erleichterung ganz intensiv anfühlte, konnte er nicht mehr an sich halten und musste vorsichtig lächeln.
Okijen Van Dire. Vielleicht hatte er sie alle gerettet. Und selbst wenn der Moja nicht tot war: Das, was sie gerade gesehen hatten, war eine Heldentat gewesen!
»Hey, du!«, keifte allerdings direkt im nächsten Moment
jemand zu seiner Seite. Luke wusste, dass er gemeint war, noch bevor er sich zu dem Kerl umwandte. »Was gibts da zu lächeln, huh?«
Lacys Blick lag streng auf ihm. Kurz sah er von dem bärtigen Typen zu ihr, um zu ergründen, was sie ihm mitteilen wollte. Dann beschloss er, dass er seinen Mund nicht länger halten konnte. »Was es zu lächeln gibt?«, fragte er provozierend und legte seinen Kopf zur Seite. »Keine Ahnung. Vielleicht, dass da gerade jemand Millionen Menschen das Leben gerettet hat.«
Flover trat gegen Lukes Stuhl, doch jetzt war es eh zu spät. Der Kerl war aufgestanden, und seine Kollegen und Kolleginnen machten bereitwillig Platz, während er langsam auf Luke zutrat. Der Kerl war schlaksig, fast mager. Dachte er wirklich, dass er Luke einschüchtern könnte, wenn er sich ihm stolz wie ein Tiger näherte? Luke war kein Supersoldat, aber die Fitnesstests hatte er immer mit Leichtigkeit bestanden. Diese Menschen hier könnten ihm nur durch ihre Waffen oder ihre Überzahl gefährlich werden.
»Das Leben gerettet?«, fragte der DVMler. Alle Augen waren jetzt auf sie beide gerichtet. »Hast du etwas anderes gesehen als ich?«
»Du beziehst dich auf die Moja, die getötet wurden?«, wollte Luke wissen und runzelte die Stirn. Eine interessante Sichtweise. »Die waren sowieso verloren.«
»Und wer bist du, darüber zu richten, wer verloren ist und wer nicht?« Der Fremde war vor Luke angekommen, bückte sich ruckartig zu ihm hinab und stützte die Hände auf die Lehnen des Stuhles. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von Lukes entfernt. Es kostete Luke alles an Anstrengung, nicht zurückzuweichen, nicht sein Bein zu heben, um den Kerl von sich wegzutreten, nicht die Faust zu ballen und ihm ins Gesicht zu schlagen
.
Wenn er jetzt eine Schlägerei anfing, waren sie geliefert.
»Wer ist dieser Kerl, und wer ist das Militär, einfach bestimmen zu wollen, wer leben darf und wer nicht?«
»Das sind keine Menschen mehr«, knurrte Luke.
»Ja. Denn sie sind die Weiterentwicklung.«
Luke schnaubte. »Die Weiterentwicklung von was?«
Flover neben ihm grummelte warnend.
»Der Menschheit.«
»Du denkst, keine Emotionen zu haben und nur durch die Welt zu laufen, um andere zu töten, ist eine Weiterentwicklung?«
»Moja kämpfen nicht, wenn sie nicht angegriffen werden!«
Luke runzelte die Stirn so tief, so irritiert, dass der Fremde tatsächlich wieder ein Stück von ihm abwich. Diese These hatte er noch nie gehört. Das änderte allerdings nichts an den Tatsachen.
»Sie werden angegriffen, weil sie alle Menschen infizieren wollen.«
»Wenn alle Menschen Moja wären, wäre das kein Problem.«
»Aber …«, setzte Luke an. Er hatte nie gedacht, so ein Gespräch einmal führen zu müssen. »Aber das ist doch nicht erstrebenswert!«, fuhr er auf. »Willst du tatsächlich so werden? Berechnend? Emotionslos? Nicht mehr atmen, nicht mehr essen, dich nicht mehr unterhalten?«
»Ja.«
»Was?«
»Luke«, fuhr ihm Flover nun leise dazwischen. »Es reicht.«
»Ji Shen ist nicht einfach nur eine Krankheit, die die Menschen befällt. Er ist eine Instanz, die über kurz oder lang die überfällige Weiterentwicklung der menschlichen Rasse mit sich bringen wird.«
»Wow«, spottete Luke. »Hast du das auswendig gelernt?«
Der Kerl presste die Zähne zusammen, blähte die
Nasenflügel und wollte gerade zu sprechen ansetzen, als Lacy unerwartet aufsprang und ihn ein Stück zurückdrängte.
»Okay, das reicht, glaube ich, erst mal«, murmelte sie und warf Luke einen giftigen Blick über die Schulter zu, den er noch nicht ganz deuten konnte. »Die beiden sind neu hier und wissen noch nicht, wie sie sich zu verhalten haben«, knurrte sie in Lukes Richtung, drehte sich zu ihm um und scheuchte ihn und Flover mit einem Wink ihrer Hand hoch. »Wir sollten jetzt gehen«, sagte sie so laut, dass sie alle hören konnten. Luke schaute sie für einige Augenblicke fragend an, unwissend, ob sie ihm nun helfen oder ihn bestrafen wollte. Aber als Flover ihn am Arm packte und hinauszog, folgte er ihm, Lacy vor ihnen.