KAPITEL 26
: SHINING
»Ihr verdammten Idioten! Ich hab doch gesagt, dass ihr eure Füße stillhalten sollt!«
Flover und Luke waren Lacy eine ganze Weile durch die Korridore des DVM-Lagers gefolgt, bis sie in eine Art leeres Großraumbüro gekommen waren, in dem sich etliche Tische, Stühle und alte Computer befanden. Flovers Müdigkeit war innerhalb der letzten halben Stunde komplett verflogen.
»Wie kommt ihr auf die Idee, in einem Raum voll von Anhängern der Religion solche Provokationen von euch zu geben?« Sie schüttelte den Kopf, und ihr pinkfarbenes Haar wirbelte um ihre schmalen Schultern. Im Kontrast zu allem, was es hier unten zu sehen gab, leuchtete ihre Gestalt fast neonfarben.
»Ich habe überhaupt nichts gemacht«, brummte Flover, was ihm von beiden einen kritischen Blick einbrachte. Dann ruckte Lacys Kopf zu Luke herum.
»Und was ist deine Entschuldigung?«, fauchte sie ihn an. Der Größenunterschied zwischen ihr und Luke schien sie nicht in geringstem Maß einzuschüchtern. Die Arme vor der Brust verschränkt forderte sie eine Antwort.
»Meine Entschuldigung ist«, sagte Luke lächelnd und wich mit deeskalierend erhobenen Händen einen Schritt zurück, »dass ich mich sicher nicht dem erschrockenen Aufheulen anschließen werde, wenn unsere Welt gerade vielleicht ein Stück sicherer geworden ist.
«
Lacy blinzelte ihm aus ihren dunklen Augen an, mit einem Ausdruck, der keinerlei Verständnis für seine Aussage zeigte. »Du bist hier nur zu Gast.« Sie sprach langsam, als würde sie es einem Kind erklären. »Du solltest lernen, zumindest teilnahmslos zu tun.«
Flover wollte sich zu Lukes Verteidigung einmischen, doch ein dumpfes Gefühl, das sich in seinem Magen ausgebreitet hatte, lenkte ihn ab, während Luke weiter provozierte.
»Du klingst ja, als würdest du dich damit auskennen«, säuselte er. »Tust du auch nur teilnahmslos, oder glaubst du den Mist wirklich, der hier erzählt wird?«
Lacy antwortete nicht, sondern begnügte sich damit, Luke missgünstig anzustarren.
Flover hingegen schluckte schwer und trat einen Schritt zurück, um die Luft tief in seine Lungen zu saugen, egal wie faulig sie roch, egal wie abgestanden sie war. Das Unwohlsein in ihm schien sich zu manifestieren, also versuchte er, sich durch seine Umgebung abzulenken. Vielleicht war es wirklich nur die alte Luft in diesen Gängen, das dumpfe Licht, das durch einige milchige Fenster in der Decke über ihnen eindrang, oder die Aufregung der letzten Tage, die langsam von ihm abfiel.
Gleich würde es bestimmt besser sein.
»Und wie«, setzte Luke an, und Lacy befreite sich endlich aus ihrer angespannten Haltung, legte den Kopf entnervt in den Nacken und ließ sich auf einen der alten Drehstühle fallen, »… wie geht ihr jetzt vor? Ich meine … macht ihr hier auch irgendwas, oder zapft ihr nur die Interna des Militärs an und kommentiert alles wie Sportereignisse?«
Lacy schlug die Beine übereinander. »Ich werde dir unsere Arbeit hier nicht erklären, weil du so freundlich zu mir bist«, spuckte sie förmlich aus. »Ich erkläre es dir, weil es dir das vielleicht einfacher macht, unsere Arbeit zu verstehen.
«
»Danke für deine Fürsorge«, zischte Luke mit zusammengepressten Zähnen, und Flover, dem das Geplänkel zu anstrengend wurde, ging einige Schritte zu den Tischen mit den uralten Rechnern darauf und ließ sich auf einem der staubigen Stühle nieder. Alles drehte sich.
»Wir werden versuchen herauszufinden, ob der Moja noch lebt, und ihn danach aufsuchen«, erklärte Lacy. Flover schloss die Augen und bemühte sich, sich auf ihre Worte zu konzentrieren.
»Und wenn ihr ihm gegenübersteht?«, schnaubte Luke. »Wollt ihr assimiliert werden?«
Woher kam Lukes plötzliche Aggressivität? Flover hatte auch gesehen, was geschehen war. Er hatte die Reaktion der DVMler auch als unangenehm empfunden, doch damit hatte er gerechnet. Er dachte, Luke wäre es genauso gegangen. Flover hatte gedacht, dass Luke gerade wegen dieses Wissens mit ihm hierhergekommen war.
»Einige ja«, gestand Lacy. Sie blieb überraschend geduldig dafür, dass Luke sie so anging. »Andere wollen ihn bitten aufzuhören.«
Das schien Luke zu überraschen, denn er reagierte zunächst nicht darauf. Gern hätte Flover seine Augen wieder geöffnet, einen Blick riskiert. Doch das dumpfe Gefühl in seinem Magen hatte sich inzwischen in leichten Schmerz verwandelt, und seine Lippen kribbelten unangenehm. Verdammt, was zum Teufel war das?
»KAMI ist die Optimierung der Menschheit«, fuhr Lacy nach einigen Momenten fort, in denen Luke irritiert geschwiegen hatte. »Viele Menschen wollen aber noch nicht optimiert werden. Es muss demnach einen anderen Weg geben, sie von KAMI zu überzeugen. Dieses sinnlose Töten ist kein guter Weg, um das zu erreichen. Zu viele Menschen sterben.
«
»Das ist«, setzte Luke gedehnt an, »wenn ich das so sagen darf, eine überraschend moderate Ansicht.«
»Du meinst von einem Extremisten wie mir?«
»Ja«, gestand er offen. »Ihr geht also selbst davon aus, dass euer Ji Shen – euer Maschinengott – nicht unfehlbar ist?«
»Nein. Aber er ist vielleicht noch zu radikal. Er versteht die Menschen vielleicht noch nicht. Und ihren Drang, um ihr Leben zu kämpfen.«
Luke grummelte, und obwohl Flover den Gedanken überaus spannend fand, konnte er seinen Körper nicht länger ignorieren.
Mit flackernden Lidern öffnete er die Augen, erhob sich wankend aus seinem Stuhl, und alles drehte sich weiter, während ihm gleichzeitig heiß und kalt wurde.
»Flover!«, rief Luke und war bereits in der nächsten Sekunde bei ihm, um ihn zu stützen.
Flover machte sich von ihm los und versuchte nicht einmal, den Kopf zu schütteln. »Schon gut«, brachte er unter Anstrengung über die Lippen. »Wo ist … das nächste Badezimmer?«
»G-gleich den Gang runter.« Lacy klang überrascht, und mit einem kurzen Blick erkannte Flover, dass ihr jedwede Farbe aus dem Gesicht gewichen war. »Du bist ja kreidebleich«, hauchte sie, nachdem Flover sich umgewandt hatte, um in Richtung Badezimmer zu schlurfen. »Soll ich einen Sanitäter kommen lassen?«
»Nein, alles gut. Ist nur der Stress.«
Auch wenn er sich eingestehen musste, dass es das nicht sein konnte.
Das kühle Wasser tat gut auf Flovers Gesicht, doch sein ganzer Körper zitterte. Er hatte seit Ewigkeiten nichts gegessen, also konnte er sich nicht übergeben. Durchatmen, ohne diesen
Schleier vor seinen Augen zu sehen oder einen klaren Gedanken zu fassen, konnte er allerdings auch nicht.
Scheiße. War das KAMI? War das der Anfang von allem? Oder das Ende?
Seine Finger zitterten. Mit seinem gesamten Gewicht stützte er sich auf das Waschbecken und ließ das Wasser einfach laufen, in der Hoffnung, das Plätschern könnte seinen Nerven Ruhe verschaffen. Alles um ihn herum war in das schummrige Licht einer letzten Neonröhre getaucht, die im Nebenraum flackerte.
Bei jedem Blinzeln tanzten Sterne vor seinen Augen, die sich nach und nach zu Bildern formten. Konturen von Städten, in denen er gearbeitet hatte, Straßen, in denen er gejagt hatte, Gesichter von Menschen, die er getötet hatte.
Und die Konzentration auf sie war tatsächlich das Erste, das ihm seit Minuten half. Das Erste, was sein Herz so schwer und unangenehm schlagen ließ, dass es ihm gelang, ihn von der Übelkeit abzulenken.
KAMI. Er hatte Jahre damit verbracht, es zu bekämpfen.
Jetzt hatte er unfreiwillig die Seite gewechselt, und er spürte, wie all diejenigen sich gefühlt haben mussten, die er in seinen Nächten für das Militär umgebracht hatte. War es ihnen allen so ergangen wie ihm jetzt?
»Flover?« Es klopfte an der Tür, und vor Schreck ging ein Ruck durch seinen Körper. »Ist alles gut da drin?« Lukes Stimme.
Er sollte sich keine Sorgen machen. Luke war der Letzte, den er mit alldem hier belasten wollte. Er war schon durch die ganze Welt gereist, um ihn in Sicherheit zu bringen, mehr wollte Flover ihm nicht aufbürden.
»Alles gut!«, rief Flover zurück. Zum Glück hatte er wieder Kontrolle über seine Stimme. »Mir ist nur etwas übel.«
»Du, ich geh mal in die Küche, ja?«, rief Luke, die Stimme
dumpf durch die alte Metalltür gefiltert. »Vielleicht musst du nur mal wieder was Anständiges essen.«
Essen. Daran konnte Flover jetzt gar nicht denken. »Ja, danke«, antwortete er trotzdem, damit Luke nicht weiter in seiner Nähe herumlungerte. Er brauchte Zeit für sich.
Die sich entfernenden Schritte entspannten ihn, und Flover spürte, wie sein Puls sich weiter beruhigte, obwohl seine Haut sich noch immer brennend heiß anfühlte. Es wurde besser.
Ein letztes Mal schluckte er, dann schloss Flover die Augen und versuchte die verschwommenen Silhouetten einzuordnen, die sich ihm zeigten. Menschen, Gesichter, fragmentiert wie Pixel in blau schimmernden Farben.
Das musste KAMI sein. Dieses Leuchten, diese Farbe. Das alles erinnerte ihn daran. War es jetzt wirklich in sein Gehirn vorgedrungen? Sollte er sich noch einmal scannen lassen?
Nachdem sich das flaue Gefühl in seinem Magen kurze Zeit später ganz gelegt hatte, nachdem seine Finger aufgehört hatten, unkontrolliert zu zittern, fasste Flover sich ein Herz, öffnete die Augen und sah zum ersten Mal in den staubigen Spiegel vor sich.
Erschrocken stolperte er zurück, so weit, bis er die geflieste Wand kühl in seinem Rücken spürte. Es kostete ihn alle Anstrengung, sich auf den Beinen zu halten und sich weiter anzusehen.
Seine Augen. Sie hatten blau geleuchtet.
Für einen Augenblick nur, wie das Zucken eines Blitzes, das durch sie hindurchgefahren war. Jetzt waren sie wieder dunkel und starrten ihm voller Panik in das leichenblasse Gesicht.
Das hatte er sich nicht eingebildet! Was hatte das zu bedeuten? War er jetzt ansteckend? Nein, das durfte nicht sein
.
Blanke Panik machte sich in seinem Inneren breit und fegte alles hinfort, all die Fragen, all die Sorgen. Sein eigenes Abbild im Spiegel anstarrend, war alles, was ihm blieb, eine Gewissheit: Er musste sofort weg von hier.