KAPITEL 32
: DAYDREAMING
Aufwachen war schon immer eins der angenehmsten Gefühle für Okijen gewesen. In seinem Bett zu liegen, im Licht eines neuen Morgens zu ruhen und zu wissen, dass ein neuer Tag bevorstand, den er bestreiten konnte, hatte sich immer endlos wohltuend angefühlt.
Heute tat es das auch, obwohl es das nicht sollte, an diesem Tag, in dieser Situation, in dieser Welt.
Er schlug die Augen auf, und die Wärme seiner Decken hüllte ihn ein wie ein Kokon, das Licht der aufgehenden Sonne blendete seine müden Augen nicht, das Kirren der mechanischen Katzen aus der Küche sprach von ausgelassenen Spielen, und der Geruch von Erde und Wasser erinnerte ihn an all die Jahre in dieser Wohnung. All die Jahre der Ruhe und Zufriedenheit.
Nur seinen Blick zu wenden konnte diese Situation noch besser machen. Seine Augen auf die Frau zu richten, die noch immer, halb verborgen zwischen Decken und Kissen, neben ihm ruhte, das lange Haar wirr um ihren Kopf herum liegend, die Brust sich langsam hebend und senkend. Die Haut, an einigen Stellen unter der Decke hervorblitzend, weich und warm.
Fast tat es ihm weh, seine Hand nicht nach ihr ausstrecken zu können. Sie nicht berühren zu können. Er wollte sie nicht wecken. Er wollte nicht, dass sie zu sich kam und in diesen Morgen erwachte, der ihr vielleicht nur Sorgen bringen würde.
Solange sie schlief, war alles gut in ihrer Welt. Und
vielleicht auch in seiner. Solange sie schlief, konnte er es sich erlauben, im Bett neben ihr zu liegen und an nichts zu denken.
Diese Frau. Sie berührte sein Herz so tief, auf so viele verschiedene Weisen, dass er sie gar nicht alle aufzählen konnte, nicht einmal vor sich selbst. Ihr Gespräch im Krankenzimmer hatte die letzten Mauern niedergerissen, die verhindert hatten, dass er sich ihr so nahe fühlte.
Das, was sie über ihn gesagt hatte. Über das Kämpfen. Und dass sie ihm selbst das vergab, was er sich nie würde selbst vergeben können. Als hätte sie in seinen Kopf hineinschauen können.
Er wusste gar nicht, wie das möglich war. Dass jemand, den er erst seit so kurzer Zeit kannte, ihn so gut verstand wie kein anderer Mensch auf diesem Planeten. Besser vielleicht, als er sich selbst verstand. Dieser Gedanke wärmte ihn so sehr von innen heraus, dass er das Gefühl hatte, seine Haut würde glühen.
Andra regte sich vorsichtig, sog tief die Luft in ihre Lungen und atmete seufzend wieder aus. Okijen presste die Lippen aufeinander, in der Hoffnung, sie würde sich nur kurz zur Seite drehen und danach weiterschlafen. Doch sie ballte die Hände zu Fäusten, streckte ihre Arme über den Kopf und gähnte mit geschlossenen Augen.
Ein desorientiertes Blinzeln folgte, ein Blick durch den Raum, zum Fenster hin, vor dem die Gebäude im sachten Licht des Morgens schimmerten. Danach sah sie ihn an, eine ganze Weile, in der sie nachzudenken schien. Bis sich ein Lächeln auf ihre Lippen schlich.
»Morgen«, grummelte sie, zog die Decke über ihrem Körper zurecht, bis unter ihr Kinn, und schaute ihn abwägend an. »Starrst du mich schon lange an?«
Okijen lachte unvermittelt und wandte demonstrativ seinen Kopf ab, bevor er verneinte. »Ich bin auch gerade erst
aufgewacht.« Er hatte gehofft, noch einmal einschlafen zu können.
Ihre Finger schoben sich unter ihrer Decke hervor und tasteten vorsichtig nach seinem Arm. Er neigte den Kopf, um ihren warmen Geruch in sich aufzunehmen und sie danach vorsichtig zu küssen.
»Hast du gut geschlafen?«, fragte er sie, und fast theatralisch überlegend schürzte sie die Lippen, wiegte ihren Kopf hin und her – bis sich ihre Blicke wieder trafen und sie lachte.
»Sehr gut«, sagte sie. Ihr müdes Gesicht war so angenehm anzusehen. Ihre roten Wangen, ihre noch halb geschlossenen Lider. Sie wirkte so zufrieden. So, wie er sie noch nie gesehen hatte.
»Und du?«, wollte sie wissen, doch er lächelte nur. Es war surreal, so zu empfinden, oder? Wenn er sich vorstellte, was dort draußen geschah, was auf den Straßen in den Städten vor sich ging, war das alles hier unverständlich. Vermutlich waren sie die letzten glücklichen Menschen auf der Welt.
Als hätte sie abermals seine Gedanken gelesen, befreite sich Andra von ihrer Decke. Noch bevor er beim Betrachten ihres Körpers die Erinnerungen an die letzte Nacht wieder aufflammen lassen konnte, hatte sie ihm einen flüchtigen Kuss aufgedrückt und sich aus dem Bett gewunden, um ihre Kleidung zusammenzusuchen.
»Wir sollten uns fertig machen«, sagte sie entschlossen. »Damit wir bereit sind, wenn die anderen uns brauchen.«
Okijen wollte gerade widerwillig zustimmen, da ertönte das schrille Läuten des kleinen Geräts auf seinem Nachttisch. Das Geräusch jagte ihm einen Schauer über den Rücken, so unangenehm war alles, das er damit verband. Trotzdem nahm er das Phone sofort in die Hand und schaltete auf Lautsprecher.
»Okijen!«, rief Byth in den Hörer, ohne Zeit zu verschwenden.
Ihre Stimme war so dringlich, dass er von einer auf die andere Sekunde hellwach war.
»Was ist los?«, fragte er und erhob sich ebenfalls.
»Seid ihr noch in Ulan Bator?«
»Ja«, bestätigte er rasch, während er sich mit der freien Hand ebenfalls seine Kleidung zusammenklaubte.
»Ihr müsst nach Moskau kommen! Also … vor allem du. Es gibt ein Problem!«
Er glaubte, noch immer die Spuren von Andras Berührung auf seinem Gesicht zu fühlen, doch das wohlige Gefühl war verschwunden. »Was ist los?«
Die Verbindung war so schlecht, dass Okijen zwar Stimmen im Hintergrund vernahm, aber nicht ausmachen konnte, worüber sie sprachen. »Wir sind in einem Bunker in der Nähe von Moskau untergekommen. Marshall hat sich noch in der Nacht auf den Weg in die Zentrale gemacht, aber … die Cyber-Fields dort sind blockiert. Gerade rief sie mich an und sagte, dass dort alles abgeriegelt ist. Sie lassen nicht einmal sie hinein!«
»Was?«, hauchte Okijen und schüttelte den Kopf. »Das kann nur bedeuten, dass …«
»… dass Alaska da drin was ausbrütet«, setzte sie seinen Satz fort, und Okijen schloss die Augen, fuhr sich mit den Fingern über die Lider und versuchte, sich zu beruhigen.
Dieser verdammte Scheißkerl! Was hatte er vor? Es musste etwas Zwielichtiges sein, wenn er nicht einmal Marshall mit einbezog.
»Marshall vermutet, dass Liza und Alaska einen nuklearen Anschlag auf KAMI planen könnten.«
»Was?«
»Das ist die einzige Erklärung für ihr Verhalten. Ellis’ Schwert war ein Test für die Empfindlichkeit von KAMI gegen Radioaktivität. Es hat ausgereicht, um es zu verletzen. Laut
Marshalls Informationen befinden sich unter den Bomben, die für das Z-Protokoll in den Orbit gebracht wurden, auch nukleare.«
»Aber das … was?« Sie wollten Atombomben aus dem Weltall abfeuern? Um Himmels willen, nein! »Das ist doch unsinnig! Das Ding ist viel zu schnell.«
Byth seufzte, machte dann eine kurze Pause. Ellis’ Stimme war zu hören. Ein unverständliches Murmeln. »Ja, und wir haben festgestellt, dass die Schwärme überall in der Luft sind.« Okijen schluckte hart. »Wir haben keine Ahnung, wie das Ding funktioniert, aber … Ich weiß nicht. Vielleicht planen sie ja auch etwas Intelligentes.« Sie klang wenig hoffnungsvoll. »Das komplette Gebäude ist von Soldaten umstellt. Marshall bittet dich darum, ihr zu helfen, die Barriere zu durchdringen.«
»Natürlich«, bestätigte Okijen sofort. Das war ein Kampf, den er hoffentlich noch gewinnen konnte. »Wo seid ihr gerade?«
»Etwas außerhalb der Stadt. Ich schick dir die Koordinaten.«
»Kommt ihr an Cyber-Fields?«
»Ja.«
»Dann holt uns über das TransPhone zu euch. Danach machen wir uns gemeinsam auf den Weg.«
»Gut. Danke.« Und sie legte auf.