KAPITEL 35
: RAGING
»Scheiße, warum hat das so lange gedauert?« Bereits eine Sekunde nachdem sie über das TransPhone nach Moskau geholt worden waren, begann Okijen zu wüten, während Andra mit der Übelkeit rang.
Ihr wievielter Cyber-Trip war das jetzt gewesen? Würde das denn nie aufhören? Wie konnte es den anderen so egal sein, von einer Sekunde auf die andere durch die ganze Welt gezogen oder geschoben zu werden? Und warum schlug es ihr jedes Mal wieder so sehr auf den Magen?
»Spinnt ihr, uns so in Aufruhr zu versetzen und euch dann einfach ewig nicht mehr zu melden?«, donnerte Okijen. Seine Stimme hallte von den Wänden der engen Gasse wider, in der sie sich befanden, aber viel mehr als das verschwommene Pflaster des Bodens unter ihren Stiefeln konnte sie noch nicht sehen. Es fiel ihr schwer, sich überhaupt auf den Beinen zu halten, geschweige denn, dass sie die Reaktionen der anderen um sich herum beobachten konnte.
»Ich dachte, es wäre was passiert oder ihr wärt alle tot oder was weiß ich!«
Andra biss die Zähne wütend über die Reaktion ihres Körpers zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, um sich zusammenzureißen. Der Schmerz, den ihre Rippen in ihren ganzen Körper aussendeten, vermochte ihren Verstand zumindest so weit aufzuklaren, dass sie in der Lage war, den Blick zu heben.
»Okijen. Beruhige dich«, sagte Byth streng, die ihnen beiden direkt gegenüberstand. Ihr Tonfall war scharf, ihr Blick mahnend, aber Anstalten, sich zu erklären, machte sie trotzdem nicht.
Neben ihr hatten Ellis und Marshall Stellung bezogen. Die dunklen Einsatzuniformen, die die drei trugen, ließen sie auf unterschiedliche Weisen ungewöhnlich aussehen. Ellis wirkte ungewöhnlich steif, Marshall ungewöhnlich praktisch und Byth ungewöhnlich souverän. Andra fiel kein besserer Begriff für ihre Beobachtung ein.
Okijen schüttelte den Kopf. »Du findest, es war okay, uns in Alarmbereitschaft zu versetzen und dann zu ignorieren?«, fuhr er fort, ohne auch nur einen Moment darauf zu verschwenden, sich umzusehen. Oder danach zu fragen, wie es den anderen ging. So wie sie schauten, wie sie schwiegen und zu überlegen schienen, was sie antworten sollten, konnte nicht alles in Ordnung sein.
»Wir haben uns Sorgen gemacht«, versuchte Andra sanfter, ihre Situation zu erklären. Nur Ellis sah zu ihr und warf ihr ein kleines, aufmunterndes Lächeln zu. Erst jetzt, da sich ihr Blick weiter aufgeklart hatte, bemerkte sie, dass eine lange Wunde sich über seine Stirn zog, nur behelfsmäßig genäht und ganz rot an den Rändern. Sein Arm lag in einer Schlinge.
Ohne Worte sah sie ihn fragend an und zuckte mit den Schultern, als wäre nichts gewesen. Er wagte es wohl nicht, sich in das Gespräch der drei einzumischen.
»Wir dachten, ihr seid tot, Mann«, stellte Okijen resigniert fest, und zumindest Marshall setzte einen ehrlich entschuldigenden Ausdruck auf ihr Gesicht.
Vorsichtig tastete Andra nach den Pfeilen in ihrem Köcher, den sie aus Okijens Wohnung mitgenommen und sich um den Körper geschnallt hatte. Sie hatte nur noch sieben Pfeile übrig, also würde sie sie sehr bedacht einsetzen müssen.
Nachdem sie endlich wieder genug Kontrolle über ihren Körper hatte, trat sie einen Schritt von den anderen weg und sah sich um. Das Gewicht des Bogens über ihrer Schulter, wenn auch nur leicht, gab ihr endlich wieder das Gefühl von Sicherheit.
Andra kannte die Gasse, in der sie sich befanden. Die weißen Gebäude säumten den Bereich rund um den Platz, der direkt vor der Militär-Kommandozentrale lag. Sie inspizierte das Kopfsteinpflaster der Straße ganz genau, während sie so tat, als würde sie das Blickduell, das Okijen sich mit Marshall und Byth lieferte, gar nicht bemerken. Dabei war sie so froh, die beiden lebend zu sehen, gemeinsam mit Ellis, der sich ebenfalls auffällig für den grauen Himmel über ihnen interessierte.
Sie hatten es alle lebend aus Dikson hinausgeschafft, und das war ein verdammtes Wunder! Konnten sie nicht wenigstens einander umarmen? Oder taten diese Menschen das nicht mehr?
Unzufrieden presste Andra die Lippen zusammen und versuchte Byth nicht anzusehen. Die Wärme von Okijens Bett ruhte noch auf ihrer Haut, die Stille der letzten Nacht haftete noch an ihren Gedanken, und das Chaos der Welt fühlte sich so eigenartig fern von ihr an. Ihr Inneres war still geworden. Nicht stumpf, aber leise.
Und vielleicht hatte sie Angst, dass Byth es sah, wenn sie einander anschauten. Auch wenn sie gewiss andere Sachen im Kopf hatte.
Okijen schüttelte den Kopf, als ihm klar zu werden schien, dass weder Byth noch Marshall sich rechtfertigen würden, und trat einen Schritt von ihnen zurück. »Können wir jetzt losgehen, oder gibt es noch irgendwas, das ihr sagen wollt, bevor wir uns in die Höhle des Löwen stürzen?«
Andra verstand seinen Unmut. Vier Stunden waren vergangen, bis Byth und Marshall nach ihrem Telefonat wieder ein Lebenszeichen von sich gegeben hatten. Okijen und Andra hatten nicht ausgesprochen, was sie beide befürchtet hatten, aber die Angst, dass ihnen etwas zugestoßen sein musste, saß noch immer in ihren Knochen. Seine wütende Reaktion auf die beiden zeigte das nur allzu deutlich.
Nur nach und nach zeichnete sich etwas auf Marshalls Gesicht ab, das so tief und so endlos traurig wirkte, dass jede Anspannung aus Andras Geist wich. Es war, als hätte sie einen Teil ihrer Stärke verloren. Einen Teil dieser Weisheit und Autorität, den sie von Beginn an stets ausgestrahlt hatte.
»Letzte Nacht sind vier ganze Städte von KAMI befallen worden«, erklärte Byth dann. Marshalls Kiefermuskeln spannten sich deutlich an.
»Wie in Dikson«, fügte Ellis an, und Andra schaute kurz zu ihm hinüber. Er sah so schwach aus. Seine Wunden schienen wirklich schwer zu sein. Warum war er hier? Dachte er tatsächlich, dass er in diesem Zustand würde kämpfen können?
Sein Schwert hatte er zumindest dabei.
»Welche Städte?«, fragte Okijen ernst.
»Dikson, Sydney, Berlin und Dubai.«
»Und sie sind alle …?«
Byth nickte. »Das Militär hat in Dubai versucht, eine Sperrzone zu errichten, aber … es waren einfach zu viele. Durch KAMIs direkte Anwesenheit sind viele der Menschen innerhalb von Minuten zu Moja geworden, ohne Kontrolle über ihren Körper oder ihr Gehirn. Wie wir es selbst auch gesehen haben.« Byth und Ellis warfen einander einen Blick zu, bevor Marshall endlich das Wort ergriff. »Wir haben euch angerufen, um in die Zentrale vorzudringen, um Liza und Alaska davon abzuhalten, was auch immer sie planen.« Ein schmerzerfüllter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. »Dann … erreichten mich die Meldungen. Aus Berlin. Und aus Dikson. «
Okijen sah die beiden fordernd an, damit sie weitersprachen, erklärten, was geschehen war.
Am Ende war es Ellis, der das Wort ergriff: »Sie haben die Städte in die Luft gejagt«, erklärte er trocken, während sich auf seinem Gesicht Unverständnis abzeichnete.
Andra musste einige Momente angestrengt blinzeln, um zu verstehen. »Sie haben … Dikson …«, wiederholte sie, sprach allerdings nicht weiter.
»Wir waren dort, um zu schauen, ob noch irgendetwas … na ja.« Marshall ballte die Hände zu Fäusten.
Dikson war ihre Stadt gewesen. Das hatte Okijen erklärt, als sie das erste Mal dorthin gefahren waren. Sie erinnerte sich daran, wie verzaubert sie von den Steinen, den Bäumen und den glänzenden Fassaden gewesen war, die scheinbar grenzenlos in den Himmel hinaufgeragt hatten. In denen sich die Sterne gespiegelt hatten.
Andras Herz wurde schwer, als sie sich vorstellte, dass das alles nun nicht mehr da sein sollte. Dass all die Menschen, die hoffnungsvoll in dieses neu geschaffene Zentrum gereist waren … »War das … war das wirklich der einzige Weg, die Verbreitung zu stoppen?«, fragte sie perplex.
»Ich weiß es nicht«, murmelte Marshall und sah auf den Boden, wie um sich zu beruhigen. »Sie … Liza und Alaska haben mir nicht einmal Bescheid gesagt.«
Okijen knurrte unterdrückt. Erst jetzt, als Andra wieder zu ihm hinüberschaute, erkannte sie, wie wütend der Ausdruck auf seinem Gesicht geworden war. Die Augenbrauen zusammengezogen, die hellbraunen Augen funkelnd, schaute er in Richtung des Vorplatzes.
»Aber du bist doch auch General«, versuchte Andra zu verstehen. Wie konnte das sein? Alaskas Methoden waren extrem, aber Marshall hatte trotz allem stets in so hohen Tönen von ihm gesprochen .
»Das scheint ihnen egal zu sein.« Marshalls Gesichtsausdruck war so verzweifelt, dass Andra das dringende Bedürfnis hatte, sie in den Arm zu nehmen.
»Und die anderen beiden Städte stehen noch?«, wollte Okijen wissen.
Byth zuckte hilflos mit den Schultern. »Wir vermuten es. Zumindest haben wir noch nichts Gegenteiliges gehört.«
»Es wäre wirklich großartig, wenn du uns helfen würdest, zu ihnen vorzudringen«, äußerte Marshall selbst nun direkt ihren Wunsch. Sie atmete einige Male tief ein und aus, wie um sich zu sammeln. Danach nahm sie eine entschlossenere Haltung ein. »Wir können sie damit nicht durchkommen lassen. Zumindest nicht ohne eine Erklärung.«
»Auf jeden Fall«, grummelte Okijen. »Statten wir den beiden Herrschaften mal einen Besuch ab.«