KAPITEL 39
: ACCUSING
Nachdem KAMI ihn abermals unvermittelt gepackt und an einen anderen Ort der Welt entführt hatte, gelang es Flover dieses Mal, sich schneller zu orientieren. Chaos tobte um sie herum, bis das gleißende Licht sich verflüchtigte und er sich auf dem Vorplatz der Militärzentrale in Moskau wiederfand. Schreie wurden laut. So viele Menschen sammelten sich auf dem Platz, kreisförmig um sie geschart, sodass er für einen kurzen Moment dachte, sie hätten ihn bereits erwartet; bis er sich umwandte und sein Blick auf die Szenerie vor dem Eingang der Zentrale fiel.
Ein Riss zog sich vom Vorplatz bis zur Treppe. Rückstände von Radions glommen im Boden. Und in der Mitte von all dem stand Okijen Van Dire neben Marshall Lloyd, die einen Radiator in der Hand hielt und ihn auf zwei gefesselte Gestalten richtete, die am Boden vor ihr knieten. Alaska und …
»Mutter!«, rief Flover aus und wollte loslaufen. KAMI packte ihn mit Leichtigkeit am Stoff seines Mantels, um ihn zurückzuhalten. Ohne auch nur eine Sekunde zu zögern, schaute Marshall von den beiden Gefesselten am Boden auf, hob die Waffe und richtete sie auf KAMI und Flover.
Sie feuerte ab, ohne auch vorher nur ein Wort zu verlieren.
KAMI verzog genervt den Mund, hob die Hand, und das glimmend weiße Radion verstreute sich vor ihren Augen in alle Himmelsrichtungen. Flover spürte die Hitze auf seiner Haut, sah die Schlieren, die die Glut in die Luft malte. Doch er war nicht getroffen worden. Fast ergeben trat er wieder einen Schritt zu KAMI zurück.
Sie hatte ihm das Leben gerettet.
»Was für eine Begrüßung«, rief KAMI General Lloyd entgegen, die die Waffe sinken ließ und sie mit ernstem Blick fixierte. Da standen noch zwei Menschen bei Okijen und Marshall, aber Flover kannte keinen von ihnen beiden. Ein Mann mit Schwert und eine Frau mit Bogen. Was für eine eigenartige Gruppe.
»Du wieder!«, bellte Okijen KAMI entgegen. Keinen von ihnen interessierte auch nur im Geringsten, dass Flover bei ihr war.
Blitze durchzuckten die Straßen, und wie in Berlin sahen sich die Menschen zunächst irritiert um, bis die ersten die Veränderung in sich spüren mussten und sie auseinanderstoben. Schreiend, weinend.
Nur die Menschen in der Mitte des Platzes regten sich nicht. Wie ein Standbild inmitten des Chaos.
»Okijen«, rief KAMI. »Diese Energie kenne ich doch.« Ein Lächeln verzerrte ihre Züge.
»Du sprichst schon viel fließender als bei unserer ersten Begegnung«, stellte der Soldat fest. »Bist du deswegen hier?«
»Und du wurdest repariert«, überging sie seine Frage. Die beiden kannten einander also. »Irgendwas an dir ist …« Sie runzelte die Stirn, als würde sie selbst noch darüber nachdenken müssen, was sie sagen wollte. »Irgendwas an dir ist anders.« Und Flover noch immer nicht loslassend, machte sie einen Schritt nach vorn, und nach einem weiteren Lichtstrahl, der sie umgab, befanden sie sich plötzlich direkt in der Gruppe.
Okijen und Marshall stolperten zurück. Nur die beiden Fremden und die Gefangenen am Boden regten sich nicht. Flover spürte den Blick seiner Mutter auf ihm ruhen .
»Was ist das für eine Situation?«, fragte KAMI. Marshall hatte die Waffe wieder hochgerissen, auch wenn diese Geste nur ein Bluff sein konnte. Auf diese Nähe würde sie sie alle mit dem Radiator töten und KAMI keinen Kratzer zufügen können. Der Kerl mit dem Schwert, der direkt hinter Alaska stand, ließ sich allerdings nicht durch KAMIs Nähe beirren und konzentrierte sich fortwährend auf den General, der ebenfalls zu ihnen aufsah.
»Wir regeln das schon«, versicherte Okijen mit fester Stimme.
KAMI lächelte abermals. Dieses Mal wirkte es fast ehrlich. »Kann ich bei etwas helfen?«, wollte sie wissen und sah zu Alaska und Flovers Mutter hinab. Einen Moment beäugte sie die beiden, dann ließ sie Flover los und bückte sich zu ihnen.
Flover nutzte die Gelegenheit, um sich einige Schritte von ihr zu entfernen. Scheiße, was sollte er tun? Sie würde seine Mutter töten!
»Ihr beiden«, sagte KAMI und musterte die am Boden Sitzenden. »Ihr wart es, die die Städte vernichtet haben.« Die Umherstehenden starrten Alaska, Liza und KAMI an, nachdem sich die Menschenmenge um sie herum aufgelöst hatte. Viele von ihnen waren in den Gassen verschwunden. Einige blau leuchtende Augen hatte Flover aus den Augenwinkeln gesehen.
KAMIs Blick war fortwährend auf Alaska und Liza gerichtet. »Wie hat sich das angefühlt?«, fragte sie, als die beiden nicht antworteten.
»Wie hat es sich für dich denn angefühlt, all diese Menschen ihres Bewusstseins zu berauben?«, knurrte Alaska und machte Anstalten, sich auf die Knie zu wuchten, um aufzustehen. Der Blonde drückte ihm auf die Schulter, um ihn an seinem Vorhaben zu hindern. Dass Alaska sich derart streitlustig gab, geschlagen, gefesselt und im Angesicht des sicheren Todes, sagte viel über seine geistige Verfassung aus.
KAMI blinzelte zu dem Schwertkämpfer hoch, der keine Regung der Angst oder Überraschung auf seinen Zügen trug. »Danke. Aber du musst mir nicht helfen.«
»Tue ich nicht«, grummelte der Kerl. »Aber der Typ hier kommt nirgendwo mehr hin.«
Sie runzelte die Stirn. »Also heißt ihr sein Verhalten nicht gut?«
»Nein!«, sagte die Fremde mit dem Bogen und dem dunklen Haar. KAMI lächelte sie an, als würde sie sie ebenfalls kennen.
»Wir haben nur versucht zu helfen«, rief Flovers Mutter und schaute erschreckend oft zu ihm hinüber. Was wollte sie? Hatte sie nun doch ihre mütterlichen Gefühle für ihn entdeckt? Oder erwartete sie von ihm, dass er etwas tat?
»Ich versuche auch nur, zu helfen.« KAMI seufzte und schaute Liza verständnisvoll an. Flover wusste nicht, ob diese Emotion echt oder voller Sarkasmus war. »Scheint, als wären unsere beiden Wege nicht so gern gesehen.«
»In der Tat nicht«, knurrte Okijen zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Flover, mach, dass du hier wegkommst!«, rief Liza an ihn gewandt, und Flover wusste nicht, wie er reagieren sollte.
Er blinzelte einige Male, atmete tief durch, dann sah er ohne Mitleid und ohne Dankbarkeit auf sie hinab. »Ist okay, Mutter«, brummte er. »Sie wird mir nichts tun.«
KAMI erhob sich und sah ihn verwundert, nahezu überrascht an. Vielleicht war sie von seinem Vertrauen irritiert. Aber wenn sie ihn hätte töten wollen, hätte sie es längst getan.
Alles, was sie wollte, war reden.
Sie richtete sich auf und sah sich zu den Menschen um, die noch immer durch die Gassen liefen. Blaue Augen funkelten sie inzwischen durch alle Fenster rund um den Vorplatz herum an.
»Vielleicht sollten wir uns an einen ruhigeren Ort zurückziehen und über alles sprechen«, schlug die Fremde mit dem Bogen vorsichtig vor. KAMIs Lächeln wurde weich, während sie die junge Frau ansah.
»Reden?«, fragte sie, und die Fremde nickte einfach. »Hast du dich inzwischen erinnert?«, fragte KAMI sie.
Der Blick der Bogenschützin war verwundert, und sie schluckte heftig, offensichtlich um Worte ringend.
»Ich würde mich auch für ein Verhandlungsgespräch anbieten«, warf Flover ein, ohne auf die verwirrten Blicke von Okijen, Marshall und dem Mann mit dem Schwert zu achten. Er wusste natürlich nicht, was alles vorgefallen war, aber er hatte das Gefühl, zumindest den Hauch einer Verbindung zu KAMI zu haben. Inzwischen war er fast überzeugt davon, dass man sie dazu würde überreden können, mit ihrem Feldzug aufzuhören. Oder zumindest eine Pause einzulegen. Egal, was vorgefallen war: Sie brauchten jetzt Menschen, die ohne Wut und mit einem kühlen Kopf an die Sache herangehen könnten.
Und damit schieden sowohl Okijen als auch Alaska und Liza aus.
»Hm«, machte KAMI und sah zwischen ihnen beiden hin und her. »Das könnte eine …«
»Flover?«
Der Ruf, der über den Platz hinweg zu ihnen drang, ließ Flover alle Gedanken, die er zuvor gehabt, alle Pläne, die er gesponnen hatte, vergessen. Fast wagte er es nicht, seinen Kopf zu wenden, während sein Name in dieser vertrauten Stimme durch seinen Kopf hallte.
Dann sah er ihn.
Luke.