KAPITEL 41
: STABBING
Okijen hatte es geschafft, sich vom Anblick des sich öffnenden Himmels loszureißen, und in KAMIs Augen gesehen, während das Inferno über ihnen tobte. Er spürte keine Hitze, doch die Erschütterung der Atmosphäre war ihm durch Mark und Bein gefahren. Hektisch wirbelte er zu Marshall herum.
»Los, renn!«, fauchte er sie an und gab ihr einen Stoß, damit sie von hier verschwand. Flover hatte recht gehabt, ihr Schuss war keine Kurzschlussreaktion gewesen. Sie hatte KAMIs Aufmerksamkeit absichtlich auf sich gelenkt, um sie davon abzuhalten, Alaska zu töten. Auch wenn der Scheißkerl es nicht verdient hatte, beschützt zu werden.
Ihre Gegnerin machte nicht den Eindruck, als könnte sie diesen Angriff einfach verzeihen, also musste Marshall hier weg, solange das Ding abgelenkt war.
»Such dir ein Cyber-Field und mach, dass du wegkommst!«
»Ich kann nicht …«, wollte sie ansetzen, aber er fuchtelte angespannt mit der Hand.
»LOS!«, schrie er, und endlich folgte sie seinem Wunsch und zog sich in Richtung der Zentrale zurück. Hoffentlich würden die Moja sie in Ruhe lassen. Gegen einige würde sie sich im Notfall zur Wehr setzen können.
»Hör zu«, rief er KAMI zu. » Ich bin dein Gegner«, machte er klar, auch wenn KAMI eine ganze Weile brauchte, bis sie ihren Blick von Marshalls Rücken abwandte und ihn ansah.
» Du bist mein Gegner, ja?«, fragte sie. Sie schien tatsächlich gereizt zu sein. Wie ungewöhnlich. Bisher hatte alles, was sie getan hatte, so leer gewirkt. Die Wut, die ihre bloße Aura nun verströmte, war um einiges angsteinflößender als die berechnende Kälte.
War es überhaupt möglich, dass sie Wut empfand?
KAMI schüttelte den Kopf und löste sich sacht aus Flovers Griff. »Warum … warum denkt ihr noch immer, dass ihr mich besiegen müsst? Und dass ihr es könnt? Habe ich euch jetzt nicht oft genug bewiesen, dass es zwecklos ist?«
»KAMI«, sagte Flover leise.
Okijen verstand nicht, warum er den Moja begleitet hatte, wie die Beziehung der beiden zueinander war. Aber das spielte vielleicht auch keine Rolle. Es sei denn, es würde ihm tatsächlich gelingen, dieses Ding aufzuhalten.
»Wir müssen nicht kämpfen«, erklärte Flover rasch. »Sie alle sind befreundet und wollen einander nur beschützen.«
»Beschützen«, wiederholte KAMI ungehalten. Ihre Augen, zuvor noch die Augen eines gewöhnlichen Menschen, begannen gemeinsam mit ihren Haaren zu leuchten.
Scheiße, sie war wirklich wütend, oder?
»So etwas könnt ihr gar nicht«, flüsterte sie. »Alles, was ihr könnt, ist zerstören und dann große Reden darüber schwingen, was ihr hättet besser machen können. Seit Jahrhunderten tretet ihr auf der Stelle.«
»Das ist nicht wahr«, mischte Andra sich ein. »Die Menschen haben sich sogar schon sehr viel weiterentwickelt.« Verdammt, sie sollte auch von hier verschwinden! Sie alle sollten gehen, solange sie konnten. Bisher fixierte sich dieses Ding so sehr auf Okijen, dass es die anderen vielleicht in Ruhe lassen würde.
»Habt ihr nicht«, murmelte KAMI. Scheiße, sie sah Andra an! »Euer verzweifeltes Streben nach Individualität ist egoistisch und erbärmlich. Es zerstört euch und euren ganzen Planeten. Also lasst mich endlich helfen. «
»Wir wollen deine Hilfe nicht«, rief Ellis, und Flover schlug die Hände über dem Kopf zusammen.
Abermals begann KAMI, zwischen ihnen allen hin und her zu schauen. Das war vielleicht ganz gut. Sie musste sich offenbar sehr darauf konzentrieren, überhaupt zu sprechen. So viele Menschen, so viele Meinungen und Informationen überforderten sie anscheinend heillos.
Okijen warf Ellis, der trotz der Verletzungen von gestern Nacht sein Schwert entschlossen in seiner gesunden Hand hielt, einen Blick zu. Wenn es ihm gelingen würde, KAMI noch einmal mit seinem Schwert zu erwischen, hätte Okijen vielleicht genug Zeit, um …
Ein gleißend helles Licht durchbrach seine Gedanken. In der nächsten Sekunde stand KAMI so dicht vor ihm, dass sie nur wenige Zentimeter von Okijen trennten. Sie legte ihren Kopf schief. »Na, über was denkst du nach?«, fragte sie, holte aber schon im nächsten Moment aus, um nach einem seiner Arme zu greifen.
Scheiße! Okijen sprang zurück, doch es gelang ihm nur, auszuweichen, weil Ellis sich in Bewegung versetzt hatte und so schnell auf KAMI zugesprungen war, dass sie selbst ausweichen musste, um nicht den Hieb seines Schwertes abzubekommen.
KAMI wirbelte herum, um nach Ellis zu schnappen. Okijen, die Energie in seinen Fäusten bereits gebündelt, holte aus, um KAMI zumindest davon abzuhalten, Ellis zu erwischen.
Er traf ihre Schulter mit der vollen Ladung seiner Blitze! Ein schriller Schrei entwich ihrem Mund, als ihr ganzer Arm, bis hin zu ihrer Brust, ihrem Hals und ihrem Kiefer, desintegrierte und verschwand. Perplex stolperte sie zurück, ließ Ellis allerdings noch immer nicht aus den Augen und setzte ihm im nächsten Moment nach, um ihm das Schwert mit ihrem übrigen Arm aus den Händen zu schlagen. Sie erwischte ihn an der Hand, und das Bersten von Knochen war zu hören, als er zu Boden ging und das Schwert einige Meter von ihm entfernt auf dem Boden aufkam.
KAMI sah auf ihn hinab, hielt nun aber inne. »Hast du ein neues Spielzeug?«, presste sie aus ihrer geschundenen Kehle hervor und taumelte ein paar Schritte von Okijen fort. Blut tropfte aus ihren Wunden, und sie hielt sich mit der freien Hand die Seite, aus der Knochen ragten und Organe waberten.
»Shiva!«, schrie der Blonde, der so aussah wie KAMI selbst, doch Flover lief auf ihn zu, um ihn davon abzuhalten, auf sie zuzugehen.
KAMI senkte den Kopf und schien sich sammeln zu wollen, tief einzuatmen. Das durfte Okijen nicht zulassen! Er setzte sich wieder in Bewegung, da ging ein Lichtimpuls von KAMI aus, der Okijen von den Beinen riss und mehrere Meter von ihr fortschleuderte. Obwohl es ihm gelang, sich innerhalb weniger Sekunden aufzurichten, waren KAMIs Wunden wieder verheilt. Als wären sie nie dagewesen.
Scheiße. Ihre Wut schien sich zu verfestigen. Jetzt war Reden sicher keine Option mehr, und trotz der neuen Waffe in seinem Körper wusste Okijen plötzlich nicht mehr, ob das ein Kampf war, bei dem er auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte.
Er ballte die Hände zu Fäusten und sammelte die Energie in sich erneut. Er musste es versuchen! Er musste einfach. Andra, Byth, Marshall, sie alle zählten auf ihn. Vielleicht war er die letzte Chance für diesen ganzen verdammten Planeten.
»Denkt ihr wirklich, dass ihr gegen mich bestehen könnt, ihr Ameisen?« Wieder sprachen tausend Stimmen. Einige der Moja waren aus ihren Häusern getreten, um sich um sie zu scharen. Um KAMI wirbelte ein Wind aus blau glitzernden Partikeln, der ihre Haare fliegen ließ, während sie sich mit hasserfülltem Blick auf ihre Gegner konzentrierte .
Es gab keinen Ausweg mehr. Okijen musste einen weiteren Angriff wagen, auch wenn er dieses Mal nicht so glimpflich davonkommen würde. Flover sah nicht so aus, als hätte er noch vor zu kämpfen, Ellis lag mit zwei gebrochenen Armen am Boden, Byth hatte sich über den Schwertkämpfer gebeugt, und Andra …
»Nein!«, rief Okijen, aber es war schon zu spät. Er hatte nicht bemerkt, dass Andra ihren Bogen gespannt hatte, um einen ihrer Pfeile auf KAMI abzuschießen. Als Okijen schrie, hatte die Metallspitze des Pfeils bereits den Wirbel um KAMI herum durchbrochen und das Wesen direkt in den seitlichen Teil des Kopfes getroffen.
KAMI erstarrte, und Okijen schaute mit großen Augen von ihm zu Andra und wieder zurück. KAMIs Finger zuckten, und Okijen lief ohne nachzudenken los. Nein, Andra durfte das Ding nicht angreifen, damit machte sie sich selbst zur Zielscheibe!
Das Wesen hob die Hand, und Andra hatte bereits den nächsten Pfeil an die Sehne gelegt. Unbeirrt, wenn auch mit einem bedrückten Ausdruck auf ihrem Gesicht, zielte sie und schoss den nächsten Pfeil ab.
KAMI hatte die Finger um den ersten Pfeil in ihrem Kopf geschlossen, da durchbohrte der zweite ihre Hand. Wütend ruckte ihr Kopf zu Andra herum, doch diese griff mit fest aufeinandergepressten Lippen nach einem weiteren Pfeil.
»Es tut mir wirklich leid«, wisperte sie mit zitternder Stimme und schoss ihn zielgenau auf KAMIs gesunde Hand, mit der sie sich gerade von dem Pfeil in ihrer anderen befreien wollte. »Ich wollte wirklich nur reden.« Ihre weichen Worte drangen offenbar nicht mehr bis zum Zentrum der Maschine durch.
»Ihr seid alles Heuchler« , flüsterte sie mit all ihren Stimmen .
Wieder ein Lichtimpuls aus ihrem Inneren. Die Pfeile fielen aus ihrem Körper heraus, als hätten sie ihre Haut nie durchdrungen.
Verdammt, wie um alles in der Welt machte sie das? Wenn sie es nur wüssten, dann könnten sie ihm vielleicht irgendwie die Stirn bieten.
KAMI hatte Andra noch immer im Fokus, und Okijen, der so dumm gewesen war, in der Bewegung innezuhalten, rannte nun auf sie zu, um vor KAMI bei ihr zu sein.
Das Wesen hatte sich mit einem Blitz zu ihr befördert, doch Andra, geistesgegenwärtig, stieß mit dem nächsten Pfeil, den sie aus dem Köcher gezogen hatte, nach ihr. Er richtete nicht viel Schaden an, aber der Kratzer am Arm, den sie KAMI zufügen konnte, reichte aus, um es lange genug abzulenken, dass Okijen aufholen und seine Energie neu sammeln konnte. Dieses Mal versuchte er, jeden Funken an Elektrizität und was auch immer Byth in ihn hineingebaut hatte, auf einen Arm zu bündeln, mit dem er im Sprung ausholte, um ihn auf KAMI niederfliegen zu lassen.
Als seine Faust das Fleisch der Frau traf, spürte er ihre Rippen wie Zweige unter seinen Fingern bersten. Mit dem Ruck seines Schlags fiel sie zu Boden. Okijen hatte ihren Rumpf durchstoßen, bevor sie aufschlug.
Andra keuchte, taumelte zurück und presste sich die Finger auf den Mund, als sie das Loch sah, das Okijen in KAMI hineingerissen hatte. Aber KAMI regte sich noch immer! Gleich würde sie sich wieder regenerieren.
Scheiße!
Er zog seine Faust zurück, doch er hatte für den letzten Angriff so viel Energie gesammelt, dass sie sich nicht schnell genug wieder erneuerte. »Byth!«, schrie Okijen und ruckte zu ihr herum. »Der Generator ist zu langsam!«
Nur für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie einander an. Dann schien sie zu verstehen, sprang auf und griff nach Ellis’ Schwert am Boden.
KAMI zuckte. Die verdammten blauen Partikel begannen schon wieder um es herum zu leuchten, und wenn sie nicht gleich schafften, es ein für alle Mal handlungsunfähig zu machen, wären sie verdammt nochmal verloren! Bisher hatten sie nichts weiter als Glück gehabt.
Okijen wandte sich Byth zu, während sie beschleunigte, das Schwert mit beiden Händen packte und die Spitze auf ihn richtete. Er spürte die Energie in seiner Haut kribbeln und lockerte sie, um seinen elektrischen Schutzschild zu senken.
Byth schrie, als ein Lichtimpuls von KAMI ausging. Nur einen Augenblick, bevor die Druckwelle sie auseinanderschleudern konnte, gelang es ihr, Okijen das Schwert mitten in den Rumpf zu rammen.