Kapitel 3

So hatte sich Lauren diesen Heiligabend absolut nicht vorgestellt, doch als sie in ihrer Küche stand und Käse rieb, während Isaac mit Ike auf dem Arm sie über ihr Leben ausfragte, konnte sie sich keine bessere Art vorstellen, ihr erstes Weihnachten als alleinerziehende Mutter zu feiern.

Ein Fremder hatte ihr so viel Güte erwiesen und tat es weiterhin. Er überraschte sie auf die allerbeste Weise.

»Also, ich glaube, ich habe das Recht, dich zu fragen, was du beruflich machst«, sagte er, nachdem er sich für das Bier bedankt hatte, das sie ihm gereicht hatte. »Ich meine, du wirkst nicht wie eine Kriminelle, aber die gibt es schließlich in allen Farben und Formen. Mir wäre es allerdings lieber, wenn ich dich nicht verhaften müsste.«

Lächelnd nippte sie an ihrem Glas. »Ich bin eine gesetzestreue Bürgerin, versprochen. Ich bin Synchronsprecherin.«

Er zog die Brauen zusammen. Das hatte er mehrfach getan, seit er so überraschend vor ihrer Tür aufgetaucht war, und jedes Mal bildete sich dabei ein tiefes Grübchen über seiner Nase, das einfach zu süß war. »Wie meinst du das? Für Zeichentrickfilme oder so was?«

Sie nickte. »Unter anderem. Werbespots fürs Radio, Dokumentationen, Computerspiele – von denen mache ich in letzter Zeit eine Menge. Ich vertone Hörbücher, habe aber auch schon einige Zeichentrick- und Animationsfilme synchronisiert. Ich glaube, ich habe schon so ziemlich alles mal ausprobiert.«

Er legte den Kopf schief wie ein Welpe, und das Grübchen zwischen seinen Brauen wurde noch tiefer. »Ich habe noch nie eine Synchronsprecherin kennengelernt. Verdient man gut damit?«

Wieder nickte sie. »Kann man, ja. Ich meine, ich verdiene nicht schlecht. Ich habe mir in der Garage ein Tonstudio eingerichtet, damit ich von zu Hause aus arbeiten kann. Ich entscheide, wann ich arbeite. Vor Ikes Geburt habe ich geschuftet ohne Ende, damit ich es jetzt ein paar Monate lang ruhig angehen lassen kann.«

Er sah sie voller Bewunderung an. »Kenne ich irgendwas, worin deine Stimme zu hören ist?«

Sie hob eine Schulter, während sie den geriebenen Käse über den Oliven, Jalapeños, Tomaten und Tortillachips verteilte. »Die Captain Fantastic-Filme vielleicht? Ich habe Penelope, die Grandiose, synchronisiert.«

Beinahe wäre sein kantiges Kinn auf dem Boden gelandet. »Du bist Penelope, die Grandiose?«

Sie schnaubte. Es kam unerwartet, dass er die animierten Kinderfilme rund um einen Bösewichte bekämpfenden Labradoodle und seine Gang aus Haustieren kannte. Damals hatte sie selbst nicht damit gerechnet, die Rolle von Penelope, der Grandiosen, zu bekommen, einer getigerten Katze mit Nerven aus Stahl und einem wortwörtlich umwerfenden Talent für Karate. Normalerweise gingen solche Rollen an bekannte Hollywoodschauspieler, und ihr blieben nur die kleinen Nebenfiguren. Doch sie hatte Penelope bekommen, und dieser Job allein zahlte jeden Monat den Kredit für ihr Haus und Auto ab, und noch dazu ihr monatliches Blumenabo bei Zara und ein paar andere Annehmlichkeiten, die sie sich gönnte.

»Ernsthaft, du kennst die Serie?«, fragte sie, während sie sich die Hände wusch.

»Ich habe zwar keine Kinder, aber ich liebe gute Animationsfilme. Toy Story, Shrek, Captain Fantastic. Ich liebe sie alle. Und in meinen Augen ist Penelope einer der besten Charaktere überhaupt.« Sein Lächeln war sexy, als er wie nebenbei auf und ab wippte und Ikes Hintern tätschelte. Er war ein Naturtalent. Mit großen Augen und einem jungenhaften Grinsen fragte er: »Kannst du Penelopes typischen Spruch einmal für mich aufsagen? Ich frage danach auch nie wieder, versprochen.«

Wie konnte sie Nein sagen, wenn er sie so ansah?

Sie räusperte sich und setzte dann ihre beste Penelope-die-Grandiose-Miene auf. »Ein weiteres Verbrechen katztastisch aufgeklärt. Zeit, mit einer Schüssel Milch zu feiern!«

Lachend klatschte er hinter Ikes Rücken in die Hände, leise natürlich, um ihn nicht zu wecken. »Bravo. Genau wie in den Filmen.«

Sie nickte und wirbelte mit den Fingern durch die Luft, als würde sie zu einer übertriebenen Verbeugung ansetzen, grinste von einem Ohr zum anderen, bis ihr Sohn sich plötzlich an Isaacs Schulter zu regen begann und quäkende Geräusche von sich gab. Ike hob den Kopf, nur um ihn gleich wieder gegen Isaacs Schulter zu rammen.

»Woah, kleiner Mann. Das muss doch wehtun. Vorsichtig.« Er legte seine große Hand an Ikes Hinterkopf und lehnte sich vor, sodass das Baby auf seinem Unterarm zu liegen kam. »Habe ich ihn aufgeweckt?«

Sie trocknete sich die Hände an einem Geschirrtuch ab und nahm dann ihren Sohn von Isaac entgegen. »Nein, nein. Sein Magen hat ihn geweckt, der ist nämlich nur so groß wie ein Ei. Er hat Hunger.«

»Oh!«

Schon vollkommen an diese neue Routine gewöhnt, nahm sie sich ein frisches Spucktuch aus dem Korb auf der Küchenzeile und ging damit zurück ins Wohnzimmer. Statt auf die Couch setzte sie sich dieses Mal jedoch in den Sessel, den zuvor Isaac in Anspruch genommen hatte. »Stört es dich, wenn ich stille?«, fragte sie, während sie es sich bequem machte, den wimmernden Ike auf ihren zusammengedrückten Oberschenkeln abgelegt.

Isaac war ihr gefolgt, blieb jedoch stehen. Mit den Händen in den Hosentaschen hob er leicht die Schultern, wie um zu sagen, dass es ihm nichts ausmachte, doch seine großen runden Augen verrieten ihr das Gegenteil.

»Ich kann … ja schon mal den Tisch decken oder so, wenn du willst«, sagte er und deutete über die Schulter zurück in die Küche.

Sie schüttelte den Kopf. »Brauchst du nicht. Ich habe den Wecker am Ofen gestellt, du musst also nur die Nachos rausholen, wenn es piept. Außer, du fühlst dich unwohl neben mir, während ich stille.« Sie sah ihn direkt an, mit erhobener Braue und herausforderndem Blick. So nett er auch war … wenn er sich nicht neben einer stillenden Mutter und ihrem Kind aufhalten konnte, musste er gehen.

Er räusperte sich, nahm dann aber auf dem Sofa Platz. »Ich fühle mich überhaupt nicht unwohl.« Wie um das zu unterstreichen, schlug er ein Bein über und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Halt dich nicht zurück.«

Sie verdrehte die Augen, fuhr dann aber fort, ihre Brust auszupacken, und begann, ihren Sohn zu füttern. Sie riss ihre Brust natürlich nicht einfach aus dem Oberteil. Sie manövrierte den Stoff ihrer Kleidung so, dass nur ein kleiner Teil ihrer Brust entblößt war, der zudem gleich wieder vom Kopf ihres Sohnes verdeckt wurde. Sobald Ike die Brustwarze gefunden und zu saugen begonnen hatte, lehnte sie sich zurück und schloss die Augen. »Du hast dein Bier in der Küche vergessen.«

»Oh, stimmt.«

Sie hörte, wie er aufstand, machte sich aber nicht die Mühe, die Augen zu öffnen. »Bring meine Weinschorle mit, wenn du schon dabei bist.«

Sein tiefes, kehliges Lachen wurde leiser, als er Richtung Küche ging.

Augenblicke später drückte er ihr das stiellose Weinglas in die Hand, und sie schlug die Augen auf. »Danke.«

Er nickte, als er sich wieder aufs Sofa fallen ließ, und nahm einen Schluck von seinem Bier. »Darf man Wein trinken, während man stillt?«

Sie wackelte mit dem Kopf, während sie einen Schluck nahm. Sie hatte den köstlichen Merlot so stark verdünnt, dass er nur noch rosa war und kaum noch nach Wein schmeckte. Trotzdem genoss sie es. »Ab und zu. Ich kann mich natürlich nicht betrinken, aber hin und wieder eine kleine Weinschorle ist schon okay.«

Er nahm einen weiteren Schluck Bier und nickte ernst. »Also, wie bist du dazu gekommen, Synchronsprecherin zu werden?« Seine aufrichtige Neugier und Wissbegier waren wirklich erfrischend. Vermutlich war er ein paar Jahre älter als sie, doch die Art, wie er ihr seine volle Aufmerksamkeit schenkte und an ihren Lippen zu hängen schien, verlieh ihm einen jungenhaften Charme, den sie gleichermaßen liebenswert und attraktiv fand.

»Das war, als ich noch studiert und Geld gebraucht habe. An der Highschool war ich im Chor, und mir wurde oft gesagt, dass ich eine schöne Stimme habe.«

»Die hast du auch. Vor allem dein Lachen ist schön. Aber deine Stimme auch.«

Bei seinem Kompliment spürte sie Wärme in ihre Wangen steigen. Dass er sie dabei musterte wie ein seltenes Gemälde, machte es nur noch schlimmer.

Sie senkte den Kopf zu ihrem Sohn, sah nur durch die Wimpern zu Isaac auf. »Danke.«

Er zuckte mit den Schultern. »Singst du immer noch?«

»Nicht wirklich. Nur unter der Dusche, wenn ich putze oder Ike etwas vorsinge.«

»Nicht für deinen Beruf?«

»Nein. Ich habe es zwar schon mal gemacht, vermeide es aber lieber. Ich verdiene genug damit, nur zu sprechen. Jedenfalls war ich im dritten Semester – ich habe Kommunikationswissenschaften studiert –, als ich das schwarze Brett nach einem Job abgesucht habe, weil ich kurz davor war, mich ausschließlich von Tütensuppen zu ernähren. Das Geld war echt knapp.«

»Scheiße. Das kenne ich.«

»Ja, na ja, jedenfalls hat da jemand nach Synchronsprechern gesucht. Ich habe ein paar Proben aufgenommen, eingeschickt und wurde genommen. Erst lief es ziemlich schleppend. Ich habe nicht viele Aufträge bekommen, konnte auch nur die annehmen, die ich neben den Vorlesungen und meinem Teilzeitjob an der Kasse im Drogeriemarkt unterbringen konnte. Aber dann habe ich angefangen, Computerspiele zu synchronisieren, und danach ging es rapide bergauf. Nach den Spielen kamen die Hörbücher, mit denen habe ich noch mehr verdient, dann die Werbespots fürs Radio. Ich meine, diese Spots laufen auf der ganzen Welt, nicht nur hier in Seattle. Ich bekomme ein Skript zugeschickt, lese es, nehme es auf, schicke eine Rechnung, und die Radiosender nutzen die Aufnahme, wie sie wollen.«

Er schüttelte erstaunt den Kopf. »Das ist echt cool. Und Captain Fantastic, wie bist du daran gekommen?«

»Ich habe mir inzwischen einen Namen gemacht, sodass meine Agentin mit dem Angebot auf mich zugekommen ist. Eigentlich habe ich mich um eine kleinere Rolle beworben, aber ich habe ihnen so gut gefallen, dass sie mir Penelope gegeben haben.«

»Das ist so cool. Ich muss meinen Kollegen erzählen, dass ich Penelope, die Grandiose getroffen habe. Die werden mir das nie und nimmer glauben. Mel und Sid sind riesige Animationsfans. Die beiden kaufen sich alle DVDs und schauen sich dann den Film mit Kommentar des Regisseurs an. Mega-Nerds.«

Sie verdrehte prustend die Augen. »Ich muss ja zugeben, ich habe noch nie wirklich einen Fan getroffen. Zu den Premieren gehe ich nicht. Ich bleibe lieber unerkannt. Und die meisten Kinder meiner Freundinnen verstehen noch nicht, wie eine menschliche Stimme hinter einem Zeichentrickcharakter stecken kann. Entweder das – oder sie wollen den Zauber nicht zerstören. Aber wie ist es denn mit dir? Wie bist du …«

Sie wollte fragen, wie er zur Polizei gekommen war, doch in dem Moment begann der Ofenwecker zu piepen, und Isaac stand auf.

Beinahe gleichzeitig ließ Ike ihre Brustwarze aus seinem Mund ploppen. Ein kleines Milchrinnsal lief an seiner Wange hinab, seine Augen waren fest geschlossen. Sie hob einen seiner Arme, um den Waschlappen-Test zu machen, den Bianca ihr gezeigt hatte. Und tatsächlich fiel sein Ärmchen schlaff wieder herunter, wie ein nasser Waschlappen. Er war satt, zufrieden und fest eingeschlafen.

Sie legte ihn an ihre Schulter und klopfte ihm sanft auf den Rücken, während sie in die Küche hinüberging.

»Wenn du zwei Teller, drei Schüsseln und drei Löffel mitnimmst, können wir im Wohnzimmer essen. Sour Cream, Salsa und Guacamole sind im Kühlschrank.« Sie selbst schnappte sich ein paar Servietten sowie zwei Untersetzer, um ihren Couchtisch vor der Hitze zu schützen, und ging zurück ins Wohnzimmer. Mehr konnte sie mit Ike auf dem Arm ohnehin nicht tragen.

Isaac folgte ihr mit der großen Auflaufform voller Chips und geschmolzenem Käse, die er auf die Untersetzer stellte, bevor er wieder in der Küche verschwand, um Geschirr und Dips zu holen. Kurz darauf saßen sie nebeneinander auf der Couch, mit Ike in seiner Wiege zu ihren Füßen, während sie sich zu Ist das Leben nicht schön den Bauch mit Nachos vollschlugen.

»Das ist ein wirklich toller Heiligabend«, sagte Isaac, als er sich zurücklehnte und sein Bier leerte. »Eigentlich hatte ich vor, nach Hause zu fahren und gleich ins Bett zu gehen, weil ich morgen früh um fünf wieder arbeiten muss. Aber das hier ist viel besser. Danke dafür.«

Sie musste ihm zustimmen. Sie wäre vollkommen zufrieden damit gewesen, Heiligabend nur mit ihrem Baby zu verbringen, aber es war schön, noch jemanden hier zu haben, der wach war und mit dem sie sich unterhalten konnte. Sie lächelte mit vollem Mund, kaute und schluckte, bevor sie sagte: »Finde ich auch. Aber fühl dich bitte nicht verpflichtet, zu bleiben. Ich verstehe es absolut, wenn du nach Hause ins Bett willst.«

Wieso kribbelte es beim Wort Bett so heftig in ihrem Bauch? Die Geburt lag erst zwei Wochen zurück, sie hatte Blähungen, Blutungen und Mühe, ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. Sie sollte wirklich nicht an Sex denken.

Und trotzdem tat sie es.

Sehr sogar.

Aber die Gedanken waren bestimmt nur ein Überbleibsel aus ihrer Schwangerschaft, als sie sexgeiler gewesen war als eine läufige Hündin. In den letzten Monaten hätte sie einfach alles bestiegen. Und da sie das letzte Mal Sex gehabt hatte, kurz bevor sie von ihrer Schwangerschaft erfahren, es dem Vater gesagt und der das Weite gesucht hatte, sehnte sie sich schon seit Langem danach. Die Art, wie sich Isaacs Jeans an seine kräftigen Oberschenkel schmiegte, verriet ihr außerdem, dass er bestens dafür ausgestattet war, ihr in dieser Angelegenheit behilflich zu sein.

War sie betrunken und bildete sich etwas ein? Oder sah er sie tatsächlich so an? Seine Miene veränderte sich, seine Augen wurden dunkler, die Nasenflügel blähten sich.

Sie hatte nicht mal ein ganzes Glas Weinschorle geleert, betrunken konnte sie also gar nicht sein.

Müde? Natürlich.

Hungrig? Immer.

Aber betrunken? Das war sie seit zehn Monaten nicht mehr gewesen.

Erregt? Ja, trotz ihrer Müdigkeit. Laurens Sexualtrieb war immer schon sehr ausgeprägt gewesen, die letzten neun Monate darauf zu verzichten war also die reinste Folter gewesen.

Ihr war klar, dass sie in dieser Hinsicht eigenartig war. Celeste und Bianca hatten ihr das bestätigt. Die meisten frischgebackenen Mütter waren viel zu müde, emotional und hatten noch zu große Schmerzen, um überhaupt an Sex zu denken. Aber bei ihr war das nun mal anders.

Vielleicht lag es daran, dass sie viel Zeit allein verbrachte und darüber nachdachte, was sie aus ihrem alten Leben vermisste: Dazu gehörte auch ein anständiger Mann mit geschickter Zunge und einem schönen, langen, dicken Schwanz zwischen den Beinen.

So einen Mann hatte sie schon lange nicht mehr gehabt. Vor allem war Ikes Vater nicht so ein Mann gewesen. Er war nur ein Lückenbüßer gewesen, ein Typ, mit dem man seine Bedürfnisse befriedigen konnte, bis jemand Besseres daherkam, jemand mit mehr Substanz.

Und Isaac war nicht einfach nur ein gut aussehender Typ. Da war noch was anderes, er hatte etwas an sich, das sie im Innersten berührte und ihre Temperatur ansteigen ließ.

»Was hast du morgen vor?«, fragte er, während er seinen Blick wieder dem Fernseher zuwandte.

Sie räusperte sich und trank einen Schluck Weinschorle, um die Spinnweben aus ihrem Kopf zu vertreiben. »Vermutlich das Gleiche wie heute. Ich habe eine Putenbrust im Kühlschrank, die ich mir anbraten werde. Dazu eine kleine Portion Truthahnfüllung und Kartoffelbrei, mehr lohnt sich eigentlich nicht, ich esse ja allein. Wenn das Wetter so schön ist wie heute, packe ich Ike in den Kinderwagen, und wir gehen spazieren. Aber abgesehen davon habe ich keine Pläne. Videoanrufe mit meiner Familie. Bianca und Celeste kommen mit ihren Kindern vorbei, und wir tauschen Geschenke aus. Alles ganz entspannt. So mag ich es am liebsten. Und bei dir?« Sie betrachtete sein Profil, das fast noch attraktiver war als seine Frontalansicht. Sein Kinn war ausgeprägt, die Gesichtszüge markant, aber nicht übertrieben. Nur maskulin und perfekt geformt.

Sie fragte sich, ob sein rotes Haar immer so wuschelig war oder ob das nur an einem langen Arbeitstag und der Mütze lag, auch wenn er die schon vor Stunden ausgezogen hatte. Ihr gefiel es jedenfalls, es stand ihm gut.

»Ich arbeite von fünf Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags«, sagte er und sah sie dabei wieder an. »Aber danach habe ich nichts vor.«

War das ein Wink mit dem Zaunpfahl?

Er hob eine Schulter. »Falls du also jemanden brauchst, der dir hilft, das ganze Essen zu vernichten, oder Ike hält, während du kochst – oder kocht, während du Ike hältst …« Das Funkeln in seinen Augen ließ sie innerlich zerfließen und so breit grinsen, dass ihre Wangen schmerzten.

»Das klingt super.«

Er nickte, stand auf und streckte sich mit einem urmännlichen Geräusch, wobei sein T-Shirt hochrutschte und dieses verführerische V auf seinem unteren Bauch entblößte, das in seiner Jeans verschwand. Sie wollte diese Linie mit der Zunge entlangfahren, daran lecken wie an einem Eis am Stiel.

Um sich davon abzuhalten, laut zu schnurren, nahm sie schnell noch einen Schluck aus ihrem Glas.

»Ich will zwar nicht, aber …« Er warf einen Blick auf die Uhr und pfiff durch die Zähne. »Es ist fast elf. Wenn ich Frühschicht habe, bin ich um diese Zeit normalerweise schon im Bett. Ich sollte wirklich gehen.«

War es tatsächlich schon elf? Wo war die Zeit bloß geblieben?

Sie wartete, bis er zur Seite getreten war, und stand dann ebenfalls auf, um ihn zur Tür zu bringen.

Er schlüpfte in seinen Mantel und zog die Mütze wieder an.

Fasziniert davon, wie er bei allem, was er tat, einen solchen Sexappeal ausstrahlen konnte, lehnte sie sich gegen die Wand im Flur und zog die Unterlippe zwischen die Zähne.

Nachdem er den Reißverschluss seiner Jacke zugezogen hatte, hob er den Kopf und lachte leise. »Alles okay bei dir?«

Lauren musste mehrmals blinzeln und den Kopf schütteln. Wieder war sie wie eine notgeile Motte im Spinnennetz ihrer Lust kleben geblieben. »Ja, nur … müde.« Das letzte Wort seufzte sie mehr, als dass sie es aussprach.

»Dann solltest du auch ins Bett gehen.« Er legte eine Hand auf die Türklinke, sah sie aber immer noch an. »Danke, dass ich bleiben durfte. Das war ein wirklich schöner Abend.«

Mit einem Schlucken drückte sie sich von der Wand ab und verschränkte die Arme vor ihren plötzlich schmerzenden Brüsten. Sie konnte spüren, dass sie bereits auslief. Ike würde sicher jeden Moment aufwachen. »Danke, dass du geblieben bist. Es war schön, Gesellschaft zu haben.«

Er hob beide Brauen. »Dann sehen wir uns morgen, nachdem der Weihnachtsmann da war?« Als er die Tür öffnete, drang eine Böe kalter Winterluft ins Haus. Er trat über die Schwelle hinaus auf ihre Veranda.

Sie folgte ihm, hielt sich am Türrahmen fest. »Ja, bis morgen.«

Mit einem Zwinkern, das ihren ganzen Körper prickeln ließ, wandte er sich um und ging durch die Dunkelheit zu seinem Truck. Wenig später erfüllte das tiefe Dröhnen des V8 die Stille der Nacht.

Kurz überlegte sie noch, stehen zu bleiben, um ihm ein letztes Mal zuzuwinken, doch ihre Nase begann in der Kälte bereits zu laufen, und das vertraute Quengeln eines hungrigen Babys, das durch den Flur zu ihr drang, ließ ihre Milch quasi überlaufen.

Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, eilte sie ins Wohnzimmer und lächelte trotz ihrer schmerzenden Brüste. Sie kannte nicht mal Isaacs Nachnamen und fühlte dennoch diese Verbindung zu ihm. Er hatte ihr geholfen, als sie sonst niemanden gehabt hatte, und auch wenn sie es niemals zugeben würde, hatte er ihr heute erneut geholfen.

Im Lauf der letzten Woche hatte es mehrere Momente gegeben, in denen eine merkwürdige Traurigkeit sie überkommen hatte – was, wie sie wusste, vermutlich nur an ihrem überforderten Hormonhaushalt lag, aber diese Momente waren eben trotzdem da. Ihren Freundinnen gegenüber hatte sie so getan, als würde es ihr nichts ausmachen, Heiligabend und die Feiertage allein zu verbringen, doch wenn sie ehrlich war, fühlte sie sich einsam.

Ihr war klar, dass es hart war, alleinerziehende Mutter zu sein, da machte sie sich keine falschen Vorstellungen. Isaacs Besuch heute und die geplante Wiederholung morgen erfüllten sie mit mehr Hoffnung und Glück, als sie seit Langem empfunden hatte.

Mit beruhigenden Lauten setzte sie sich auf den Sessel und legte Ike an ihre Brust.

Konnte sie Gefühle für einen Mann haben, den sie kaum kannte, der sie aber schon auf so viele Arten gerettet hatte? War es so auch Schneewittchen und Dornröschen ergangen, die ihre Prinzen nach wenigen Minuten schon heiraten wollten? Weil sie sie gerettet hatten?

Sie war es gewohnt, unabhängig und stark zu sein, sich auf niemanden verlassen zu müssen – erst recht nicht auf einen Mann. Solange sie denken konnte, hatte sie selbst für sich gesorgt. Es war ihr so sehr zur Gewohnheit geworden, dass es ihr beinahe unmöglich schien, zuzugeben – selbst vor ihren engsten Freundinnen –, dass sie einsam war, und traurig. Celeste und Bianca kamen vorbei, wann immer sie konnten. Aber sie hatten ihr eigenes Leben, sie hatten Jobs und Kinder. Lauren hätte gern einen Partner für ihren Geburtsvorbereitungskurs gehabt, doch allein bei dem Gedanken daran, jemandem solche Umstände zu machen, zog sich ihr Magen zusammen. Also hatte sie den Kurs allein bewältigt.

Isaac schien jedoch genau zu wissen, was sie brauchte, ohne danach fragen zu müssen. Er war in diesem Regensturm aufgetaucht, um ihr zu helfen, und heute Abend wieder.

Es schadete natürlich nicht, dass er wirklich eine Augenweide war. Allein seine Hände und die Art, wie er sie um eine Bierflasche legte, boten schon reichlich neuen Stoff für ihr verruchtes Kopfkino – sobald sie das wieder anschmeißen konnte, während sie sich selbst vergnügte.

Idris Elba – so hatte sie ihren Vibrator getauft (sein offizieller Name war Tracy’s Dog, was einfach nur ein schrecklicher Name für alles außer einem tatsächlichen Hund war, der einer Frau namens Tracy gehörte) – lag schon lange unbenutzt in ihrer Nachttischschublade. In den letzten Monaten ihrer Schwangerschaft hatte sie ihn nicht mehr wirklich nutzen können, weil ihr Bauch einfach zu groß geworden war. Und da sie jetzt, nach der Geburt, immer noch Blutungen hatte, lag er weiterhin in seinem lila Satinbeutel und verzehrte sich nach ihr – und sie sich nach ihm. Wie ein verhindertes Liebespaar.

Doch bald (hoffentlich) würden Idris und sie ihre Wiedervereinigung feiern, und sie würde an Isaac denken, an seine Hände und dieses V, das in seiner Jeans verschwand, während sie mit Gott sprach und Farben roch und ihren G-Punkt wiederentdeckte.

Sie wippte sacht im Sessel vor und zurück, die Augen geschlossen, während Ike eifrig trank. Ihre Mundwinkel sanken immer weiter herab, je länger sie an Isaac dachte. Vom breiten Grinsen zum finsteren Blick in unter einer Minute.

Wochenbett-Gefühlsschwankungen waren wirklich die Hölle.

Denn sosehr ihr Isaac auch gefiel, so sexy und süß sie ihn auch fand, sosehr er genau das war, was sie jetzt brauchte, wusste sie doch, dass sie keine Zukunft mit ihm hatte.

Ein bisschen zwangloser Spaß war vielleicht drin, aber eine Beziehung, Liebe gar, stand nicht zur Debatte.

Sie ging nicht mit Polizisten aus.

War sie nie.

Würde sie nie.

Denn die Frauen ihrer Familie wurden von einem Fluch heimgesucht, der ihnen die Helden nahm, die sie liebten.

Ihr Vater war Polizist gewesen und im Dienst gestorben. Sein Tod war sinnlos, tragisch und vermeidbar gewesen. Auch wenn sie damals erst fünf Jahre alt gewesen war, hatte ihre Mutter ihr ab dem Tag der Beerdigung eingeschärft, sich niemals mit einem Polizisten einzulassen. Niemals einen Cop zu heiraten. Ihre Familie war verflucht.

Bis zu seinem Tod hatte Laurens Mutter jeden Tag mit Angst im Bauch und einem dumpfen Schmerz im Herzen darauf gewartet, dass Laurens Vater aus der Arbeit kam. Sie hatte sich erst wieder entspannen können, wenn er zu Hause war. Nur um dieselbe Folter am nächsten Tag erneut zu durchleben, und am Tag danach.

Das war sicher der Hauptgrund dafür, dass Laurens Mutter eine so ängstliche Person war. Lauren hatte diesen Charakterzug nicht geerbt, ihre Halbschwester Fiona dafür umso mehr.

Trotz ihrer fünf Jahre (ein Alter, auf das sie damals stolz gewesen war) hatte sie nach einem Albtraum im Bett ihrer Eltern gelegen, als es an der Tür klopfte und zwei Beamte davorstanden. Es war Viertel nach elf an einem Samstagabend gewesen. Am zwölften Oktober.

Und seit jenem Tag wusste sie, dass sie sich niemals in einen Cop verlieben konnte.