Kapitel 4

Es war viertel vor fünf am ersten Weihnachtsfeiertag, und natürlich wurde Isaac zu einem Handgemenge in die Innenstadt geschickt. Zwei Obdachlose waren in einen Streit geraten – als er dort ankam, sah es eher aus wie ein Kampf auf Leben und Tod –, weil einer dem anderen die Zeltplane gestohlen hatte. Daraufhin hatte der Leidtragende die Habseligkeiten des anderen in Brand gesteckt, und von dort war es immer weiter eskaliert, bis der Erste eine rostige alte Axt schwang und der andere eine messerscharf gefeilte Zahnbürste.

Isaac war gemeinsam mit Sid losgeschickt worden, die beide Männer kurz darauf im Streifenwagen abtransportierte. Auf die zwei warteten ein warmes Bett und eine heiße Mahlzeit in einer Zelle auf dem Revier. Sicher nicht die beste Art, Weihnachten zu feiern, aber so wie die beiden aussahen, freuten sie sich vermutlich, mitten im eisigen Winter einen Tag hinter Gittern statt auf der Straße verbringen zu dürfen.

Isaac schaffte es, das Feuer zu löschen, ohne extra die Kollegen von der Feuerwehr rufen zu müssen – die hatten um diese Jahreszeit schon mehr als genug zu tun –, und war gerade dabei, die Habseligkeiten des Mannes einzusammeln, die nicht in Flammen aufgegangen waren, als er ein leises, aber unverkennbares Miau hörte.

Doch es war kein gewöhnliches Miauen. Es war das hohe, kreischende Mauzen eines Katzenbabys.

Er musste die Sachen des Obdachlosen nicht zusammenpacken. Das war nicht seine Aufgabe, und er wünschte, er hätte mehr als nur Gummihandschuhe im Wagen, am besten gleich einen ganzen Schutzanzug, aber vermutlich war der Inhalt dieses Einkaufswagen alles, was der Mann besaß. Außerdem war Weihnachten.

Als er schließlich alles in seinem Kofferraum verstaut hatte, hörte er wieder das Miauen.

Die schmale Gasse stand voller Pappkartons und Müllcontainer, aber eine Katze konnte er nirgendwo entdecken, erst recht kein Katzenbaby.

Wenn hier draußen wirklich ein kleines Kätzchen war, würde es nicht lange überleben. Über die letzte Woche waren die Temperaturen immer weiter abgesunken, und für die nächsten Tage war Schnee vorhergesagt – jede Menge davon.

Als er seine Handschuhe in den Müll warf, hörte er das Miauen lauter und näher als zuvor. Es musste definitiv ein Katzenbaby in der Nähe sein.

Weil es wirklich verdammt kalt war, zog er seine Lederhandschuhe aus der Gesäßtasche und streifte sie über, bevor er sich zwischen den Kartons und anderem Müll auf die Suche nach dem Tier machte.

Es dauerte nicht lange, bis er das getigerte Katzenbaby in einem Mikrowellenkarton fand. Es hatte langes, plüschiges Fell, war aber von oben bis unten verdreckt und wirkte absolut panisch. Im Karton befand sich außerdem eine Art Nest aus Stofffetzen und jeder Menge Fell, auch sah das Katzenbaby eindeutig zu jung aus, um von seiner Mutter getrennt zu sein.

War sie in der Nähe? Vielleicht auf Futtersuche?

Er ging in die Hocke, rieb Daumen und Zeigefinger zusammen und machte leise »Psst, psst«, um das Kätzchen anzulocken – oder die Mutter aus ihrem Versteck. Sollte er das Kleine ins Tierheim bringen? Oder würde die Mutter zurückkommen?

Es war dunkel und die Straßen wie ausgestorben. Er sah sich in der Gasse um, dann auch auf dem Bürgersteig davor, doch entweder versteckte sich die Katze absichtlich vor ihm, oder sie war gar nicht hier.

Gerade als er wieder zurück in die Gasse gehen wollte, um nach dem Kätzchen zu sehen und zu überlegen, was er tun sollte, entdeckte er eine kleine Gestalt mitten auf der Straße, keine hundert Meter von ihm entfernt.

Die Gestalt regte sich nicht.

Mit schnellen Schritten ging er hinüber und fand seine Befürchtung bestätigt.

Die Mutter. Sie war von einem Auto angefahren worden, vermutlich erst vor Kurzem.

Verdammt.

Das Katzenbaby war nun ganz allein auf der Welt, ohne Mutter, ohne Nahrungsquelle, und würde vermutlich nicht mal bis zum Morgen überleben.

Mit einer zerschlissenen Decke des Obdachlosen und der Schaufel aus seinem Kofferraum hob er die tote Katze auf und wickelte sie ein. Dann holte er ihr Baby, schob es vorsichtig unter seinen Mantel, stieg in den Streifenwagen und rief Sid an.

***

Er hatte gesagt, dass er um fünf Feierabend habe, aber als Tochter eines Polizisten wusste Lauren, dass das nicht zwangsläufig bedeutete, dass man um fünf auch tatsächlich Feierabend machte. Oft zwang ein Fall, ein Notruf oder Papierkram die Beamten dazu, Überstunden zu machen. Also hatte sie das Abendessen für halb sieben geplant. Natürlich wäre es auch kein Problem, das Essen aufzuwärmen, aber Truthahn war frisch gebraten eben am leckersten.

Ganz der anständige Mann, der er war, hatte Isaac ihr nach Ende seiner Schicht eine Nachricht geschrieben. Sie hatten Nummern ausgetauscht, während sie am Abend zuvor Nachos gegessen hatten. Es hatte ihr besondere Freude bereitet, ihn als Sergeant Sexy in ihren Kontakten einzuspeichern.

Doch seine Nachricht war mehr als kryptisch gewesen. Wie stehst du zu Katzen? Ich verspäte mich etwas. Sollte um sieben bei dir sein.

Die zweite Hälfte der Nachricht verstand sie, aber der erste Satz verwirrte sie. Wie stand sie zu Katzen?

Nun, erst mal: Sie liebte Katzen. Sie war immer schon ein Katzenmensch gewesen.

Ihre geliebte Genevieve hatte sie begleitet, seit sie dreizehn Jahre alt gewesen war, und war erst letzten März gestorben. Danach hatte sie es nicht über sich gebracht, eine neue Katze zu adoptieren. Ihre Genevieve war unersetzlich. Aber von all dem Katzenzubehör hatte sie sich auch nicht trennen können.

Sie beantwortete Isaacs Nachricht so gut sie konnte: Ich liebe Katzen. Hatte den Großteil meines Lebens selbst eine. Wieso? Okay, dann bereite ich das Essen für sieben vor.

Danach meldete er sich nicht mehr.

Hatte er eine Katze und machte sich Sorgen, dass sie allergisch sein könnte?

Mit Ike in einem Tragetuch vor der Brust – wie Celeste und Bianca es ihr gezeigt hatten – wiegte sie sich zu Bing Crosby hin und her, dessen Stimme aus ihrem Computer auf dem Schreibtisch drang. Auf dem Herd blubberten Kartoffeln vor sich hin, in der Pfanne daneben brutzelte Rosenkohl, und das Haus duftete nach gefülltem Truthahn, mit anderen Worten also einfach himmlisch.

Am Vormittag war Ike ein wenig unruhig gewesen. Celeste hatte gemeint, dass es an Blähungen liegen könnte, deswegen hatte sie ihn den Großteil des Tages aufrecht gehalten, was zu helfen schien. Sie hatte es sogar geschafft, ihn in dem Tragetuch zu stillen. Dieses Erfolgserlebnis hatte allerdings nicht lange angehalten, denn sie hatte ihrem Sohn Milch ins Auge geschossen, und danach hatte er keine Position mehr gefunden, in der er trinken konnte, ohne dass es ihr Schmerzen bereitete.

»Das kriegst du schon hin«, hatte Bianca mit einem verständnisvollen Lächeln gesagt. »Es ist erst eure zweite Woche zusammen. Meine Kinder waren mehrere Monate alt, bis ich es geschafft habe, sie in dem Tuch zu stillen. Mach dich deswegen nicht fertig.«

Ihre Freundinnen waren gegen elf mit ihren Kindern vorbeigekommen, alle schwer beladen mit Geschenken für Ike. Biancas sechsjährige Zwillinge, Hannah und Hayley, hatten sich die ganze Zeit darum gestritten, wer Ike halten durfte, bis Sabrina, Celestes fünfzehnjährige Tochter, eingeschritten war und Ike selbst übernommen hatte.

»Wenn ihr euch so streitet, bekommt ihn keine von euch.« Mit diesen Worten hatte sie ihre Stirn an Ikes gelegt. »Nur ich.« Und sie hatte Wort gehalten, denn den Rest des Besuchs hatte niemand Ike aus ihren Armen nehmen dürfen. Sie hatte die ganze Zeit mit ihm im Sessel gesessen, beide zufrieden und glücklich, während sie sich verliebt angeschaut hatten.

Sabrina war bereits eine erfahrene Babysitterin, nicht nur für Biancas Kinder – was vermutlich einer der Gründe war, dass sie sich bei den Mädchen so gut hatte durchsetzen können –, sondern auch für mehrere andere Familien. Lauren freute sich schon auf die Zeit, wenn sie sich damit wohlfühlen würde, Ike bei jemand anderem zu lassen, und wenn es nur für eine Stunde war, um mal wieder joggen zu gehen.

Doch nach zwei Wochen fühlte es sich noch viel zu merkwürdig an, nicht im selben Raum wie ihr Sohn zu sein, ganz zu schweigen von einer größeren Entfernung.

Als ihre Freundinnen sich schließlich verabschiedet hatten, waren sie und Ike völlig ausgelaugt gewesen. Von eins bis drei hatten sie ein Festtagsnickerchen gehalten, danach hatte sie mit dem Kochen begonnen, während Ike in seinem Tragetuch noch ein wenig weiterschlummerte.

Um fünf nach sieben klopfte es an der Tür.

Es gefiel ihr, dass Isaac ein pünktlicher Mensch war – oder zumindest diesen Eindruck machte.

Sie warf einen Blick in den Flurspiegel. Die letzten zwei Wochen hatte sie in Schwangerschaftsleggings und weiten T-Shirts über Still-BHs gelebt, doch heute Abend hatte sie sich ein wenig schick gemacht. Schwarze Yogapants zu einem rot-weiß karierten Flanellhemd über einem schwarzen Tanktop.

Die neueste Mode für frischgebackene Mütter, wie sie sich selbst einredete.

Außerdem hatte sie geduscht, während ihre Freundinnen da gewesen waren, und ihre Haare in Form geföhnt, sodass sie ihr in sanften Locken bis auf die Schultern fielen. Ein Riesenunterschied zu dem unordentlichen Mami-Dutt, denn sie sonst trug.

Sexy fühlte sie sich trotzdem nicht, aber zumindest weniger wie der müffelnde Müllsack der letzten Wochen. Mit einem breiten Lächeln öffnete sie die Tür. »Frohe Weihnachten!«

Dieses Lächeln. Himmel, wenn Isaac nicht aufpasste, würde er sie damit auf der Stelle zum Orgasmus bringen. »Frohe Weihnachten!«

Sie trat zur Seite, um ihn einzulassen, doch bevor sie die Tür schließen konnte, hielt Isaac inne, trat dicht vor sie und streckte die Hand aus. Sie hielt den Atem an. Was hatte er vor?

Doch er zog nur ganz unschuldig den Stoff des Tragetuchs zur Seite, der Ikes Kopf bedeckte, und lächelte wieder. »Sieht ziemlich gemütlich aus da drin.«

Sie schluckte trocken. »Er schnarcht sogar.«

Isaac schnaubte und trat in den Flur. »Vielleicht sollte ich mir auch so ein Tuch besorgen.«

Für wen? Ike? Wieso?

»Ich hatte dafür nur meinen Mantel.« Plötzlich zog er den Reißverschluss seiner Jacke auf, und zum Vorschein kam das plüschigste, absolut süßeste Kätzchen, das Lauren jemals gesehen hatte. »Ich habe sie in einer Gasse unter einem Haufen Müll gefunden. Ihre Mutter wurde überfahren.«

Oh, Mist. Sofort schossen Tränen in ihre Augen. »Ihre Mutter ist gestorben? An Weihnachten?« Von einer Sekunde auf die andere heulte sie richtig. Verdammte Hormone. Würde sie ihre Emotionen jemals wieder unter Kontrolle bekommen?

Isaac sah so schockiert aus, als würde er am liebsten sofort wieder verschwinden. »Ich … Tut mir leid. Ich wollte dich nicht traurig machen.« Er wollte den Reißverschluss wieder zuziehen, um das Kätzchen verschwinden zu lassen, doch sie streckte schnell eine Hand aus und hielt ihn davon ab.

»Nein. Nein. Ich hab dir doch gesagt, dass ich momentan wegen absolut allem weine, schon vergessen?«

Er nickte. »Aber ich will dich trotzdem nicht zum Weinen bringen.«

Sie lächelte durch die Tränen und schniefte leise. »Mir geht’s gut, ehrlich.«

Er wirkte nicht sonderlich überzeugt. »Ein Freund von mir, Sidneys Bruder, ist Tierarzt. Er hat seine Praxis in einem Anbau direkt neben seinem Haus. Deswegen bin ich so spät dran. Ich habe Jim angerufen und ihn gefragt, ob er sich die Kleine ansehen kann. Ich wollte sie nicht mit hierher und in Ikes Nähe bringen, wenn sie Würmer hat oder so was.«

Sie hatte wirklich lange keinen so umsichtigen Mann mehr kennengelernt. Klappte er etwa auch die Klobrille runter?

»Sie ist ungefähr sechs Wochen alt, sagte Jim. Sie war total schmutzig, aber wir haben sie gewaschen, sie hat ihre Impfungen bekommen und ein Wurmmittel. Ich weiß, das ist viel verlangt, vor allem, weil du selbst ein Baby hast, deswegen ist es in Ordnung, wenn du Nein sagst. Aber würdest du vielleicht auf sie aufpassen, wenn ich in der Arbeit bin? Nur bis sie gelernt hat, aufs Katzenklo zu gehen, und allein bleiben kann.«

Lauren blinzelte überrascht. »Du willst sie behalten?«

Als er zu seiner Bitte angesetzt hatte, war sie sich sicher gewesen, dass er sie fragen würde, ob sie das Kätzchen behalten wollte. Ungefähr fünfundneunzig Prozent von ihr wollten das nur zu gern. Aber die restlichen fünf Prozent mahnten sie, praktisch zu denken. Sie hatte einen Säugling. Das war mehr als genug Arbeit.

Doch er wollte ihr das Kätzchen gar nicht aufzwingen. Er bat sie nur um Hilfe. Er bat sie, für ihn die Katzensitterin zu spielen. Er war heute zum Katzen-Papa geworden, und das machte ihn gleich noch viel attraktiver.

»Ich hatte noch nie eine Katze«, fuhr er fort. »Ich war mir nicht sicher, ob es dem Tier gegenüber fair wäre, weil ich so viel arbeite. Aber die Tierheime haben heute geschlossen, und nach Weihnachten sind die sowieso immer überfüllt, weil so viele Idioten Haustiere verschenken, die dann ein paar Wochen später im Tierheim landen.« Er zuckte mit den Schultern, seine Miene jungenhaft und unschuldig. »Außerdem mag ich sie.«

Verdammt noch mal. Ihre Eierstöcke würden jeden Moment explodieren.

»Ist es denn eine Sie?«

Er nickte. »Penelope, die Grandiose, oder Penny.«

Kabumm! Puff! Krach! Beide Eierstöcke gingen in die Luft wie Feuerwerk. Vermutlich verstreute sie gerade mehr Eier als jede Legehenne.

Das Haus war warm vom Kochen, und mit Ike vor ihrer Brust war ihr noch wärmer. Aber jetzt? Jetzt war sie der reinste Atomreaktor. Sie musste sich abkühlen. Sie brauchte frische Luft, bevor sie völlig kollabierte – und mit kollabieren meinte sie, über Isaacs Mund herfallen.

Sie nickte, ohne jedoch etwas zu sagen, und ging in Richtung Garage.

Dort drin war es kühl, und der kurze Abstand zu dem Mann, der sie so umfassend durcheinanderbrachte, war erlösend. Ike begann sich in seinem Tragetuch zu regen, suchte nach Milch. Wie auf Knopfdruck begannen ihre Brüste zu schmerzen, und als ihr kleiner Mann dann auch noch wimmerte, pulsierten sie regelrecht.

Mit schmerzverzerrtem Gesicht hob sie den Karton, nach dem sie gesucht hatte, aus einem der Regale. Sie trug ihn ins Wohnzimmer, wo Isaac mit Penny bereits nervös auf sie wartete, und stellte die Kiste auf den Couchtisch. »Da ist alles drin, was du für sie brauchst. Alles ist gewaschen. Du musst nur noch Kitten-Futter besorgen und es mit Nassfutter mischen, bis sie etwas älter ist. Ich glaube, das Futter, das da noch drin ist, ist für erwachsene Katzen oder sogar für Katzensenioren. Aber für den Moment kann ich ihr ein bisschen Lachs aus der Dose anbieten, und wir können etwas von dem Erwachsenenfutter drüberbröseln. Ein Wassernapf sollte auch da drin sein, kannst du den mal raussuchen?«

Sie ging in die Küche, um kurz nach dem Essen auf dem Herd zu sehen. In der Zwischenzeit hatte Ike begonnen, sein Gesicht gegen ihre Brust zu drücken und wie ein Bärenjunges zu brummen.

»Jaja, ich weiß, Süßer. Ich muss nur kurz die Kartoffeln abgießen und den Ofen ausmachen.«

Ein Quaken, das sie noch nie von ihrem Sohn gehört hatte, ließ sie zusammenzucken. Als sie auf Ike hinabsah, blinzelte er ihr aus großen dunklen Augen voller Hunger entgegen.

Sie konnte spüren, dass bereits aus beiden Brustwarzen Milch drang. Bis sie sich irgendwo hingesetzt hatte, waren vermutlich sowohl sie als auch Ike völlig durchnässt. Tja, sie wusch ohnehin schon unfassbare Wäscheberge. Mit den ganzen Spucktüchern, Babyklamotten und -decken kam mindestens eine Ladung am Tag zusammen, wenn nicht sogar zwei. Als sie noch allein gewesen war, hatte sie nur ein-, zweimal die Woche gewaschen. Noch eine Sache, mit der sie nicht gerechnet hatte.

Ohne Isaac eine Erklärung zu liefern, eilte sie den Flur hinunter in Richtung Kinderzimmer.

Bis sie ihn endlich aus dem Tuch gewickelt hatte und in ihren Armen hielt, heulte Ike lautstark und ruderte mit den kleinen Ärmchen. Die Erleichterung, als er ihre Brustwarze fand und zu saugen begann, war so groß, dass ihr beinahe wieder die Tränen kamen.

Mit geschlossenen Augen und leise vor sich hin summend wippte sie in dem Schaukelstuhl in einer Ecke des Kinderzimmers. Es war eine Melodie, zu der sie den Text nicht kannte, doch sie summte es schon, seit sie Ike das erste Mal in ihrem Bauch gespürt hatte, und es beruhigte ihn jedes Mal.

Im Gegensatz zu Biancas und Celestes Häusern, die zwei Stockwerke hatten und dazu noch einen Keller, hatte Laurens Haus nur ein Stockwerk, das sich aber über eine große Grundfläche erstreckte. Ihre Garage war vor dem Haus, die Schlafzimmer lagen hinter Küche und Wohnzimmer. Sie bevorzugte diesen Grundriss. Wenn sie Ike in der Wiege in seinem Zimmer schlafen legte, war er trotzdem immer auf demselben Stockwerk wie sie. Sie war sich nicht sicher, ob sie ihn im Obergeschoss hinlegen und dann nach unten gehen könnte, trotz des erstklassigen Babyphons, das sie sich zugelegt hatte. Zumindest jetzt noch nicht.

»Soll ich schon mal den Truthahn anschneiden?« Isaacs Stimme klang ganz nah, sodass Lauren überrascht die Augen öffnete.

Er stand in der Tür zum Kinderzimmer, Jacke und Mütze hatte er ausgezogen, trug aber immer noch die kleine, flauschige Penny auf dem Arm. Er erinnerte sie an einen dieser australischen Feuerwehrmänner aus dem Kalender, den sie hatte. Nur dass Isaac nicht oben ohne war – leider.

»Sorry, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich wusste nur nicht, wie lange du brauchst, und kann gern in der Küche übernehmen, wenn du willst. Du hast schließlich wegen mir schon das Abendessen verschoben, und auch wenn ich nicht gerade ein Experte in diesen Sachen bin, weiß ich, dass man schwangere oder stillende Frauen nie aufs Essen warten lassen sollte.« Dieses Lächeln würde noch ihr Untergang sein. Es war süß und sexy, und auch wenn Isaac offensichtlich selbstbewusst war, hatte er trotzdem diesen Hauch von Schüchternheit. Die Art, wie er den Kopf neigte und dadurch zu ihr aufsah, entlockte ihrem Körper eine sehr animalische Reaktion.

Sie räusperte sich und nickte. »Das wäre sehr nett von dir, danke. Neugeborene brauchen noch etwas länger, um den Tank zu leeren.«

Seine Wangen liefen rosa an, als er leise lachte. »Soll ich mit den Kartoffeln noch irgendwas machen, bevor ich sie stampfe?«

»Neben dem Herd steht eine kleine Dose mit geröstetem Knoblauch. Den kannst du zusammen mit Salz, Pfeffer und natürlich Butter und Sahne zu den Kartoffeln tun.« Sie konnte sich nicht erinnern, wann ihr das letzte Mal ein Mann in der Küche geholfen hatte.

Vermutlich lag es daran, dass sie seit einer Weile keine ernste Beziehung mehr gehabt hatte – nur eine Reihe von Affären und One-Night-Stands mit Männern, bei denen sie von vornherein wusste, dass es keine Zukunft hätte. Aber nein, selbst ihre Ex-Freunde, mit denen sie mehrere Monate, teilweise sogar Jahre zusammen gewesen war, hatten nie viel Interesse daran gezeigt, in der Küche zu werkeln. Ihr letzter fester Freund, Ken, war sogar ohne Essen ins Bett gegangen, wenn sie ihm keine fertig angerichtete Mahlzeit vor die Nase gestellt hatte. Der Mann konnte nicht mal Wasser kochen. Das war einer der Gründe gewesen – neben seiner schlicht und ergreifend inadäquaten Zungentechnik –, weswegen sie sich nach vier Monaten von ihm getrennt hatte.

Doch Isaac bot ihr freiwillig seine Hilfe an. Das würde sie ausnutzen.

»Die Soße steht noch auf dem Herd. Probier mal und sag Bescheid, wenn du findest, es fehlt noch was. Irgendwie würze ich meine Bratensoße immer zu wenig und muss dann am Tisch noch nachsalzen.«

Er nickte kurz, bevor er die Hacken zusammenstieß und salutierte. »Sehr wohl, Frau Köchin. Sonst noch was?«

Damit brachte er sie zum Grinsen wie eine Idiotin, und dann grinste auch er wie ein Idiot.

»Der Truthahn kann noch ein bisschen liegen, bevor du ihn schneidest, du kannst dich also zuerst um die Kartoffeln kümmern. Die Füllung kann auch einfach abgedeckt werden. Alufolie ist in der zweiten Schublade neben dem Kühlschrank.«

Er nickte wieder, schenkte ihr noch ein breites Grinsen, das ihren Körper von oben bis unten prickeln ließ, und verschwand dann den Flur hinunter.

Er war nicht sehr leise in der Küche, jede Menge Poltern, Klappern und Krachen. Doch solange er dabei weder das Haus noch ihr Essen ruinierte, war ihr das herzlich egal. Es war schön, außer ihr noch jemanden im Haus zu hören. Es war schön, mit jemandem zu essen, mit jemandem Weihnachten zu verbringen.

Sie drehte Ike um, und er saugte sich sofort gierig wie ein Blutegel an ihrer anderen Brustwarze fest. Nebenbei tastete sie seine und ihre Klamotten ab, die wie erwartet große nasse Milchflecken aufwiesen.

Nach ungefähr zwanzig Minuten, die sie damit verbracht hatte, verliebt das Gesicht ihres Babys zu betrachten, ließ er schließlich von ihrer Brust ab, zog eine Grimasse, bei der sein ganzer Kopf rot wie eine Tomate wurde, und machte geräuschvoll in die Windel.

Was auch sonst? Oben rein, unten wieder raus.

In der Hoffnung, dass ihr Essen noch warm gehalten wurde, wickelte sie Ike, zog ihm einen neuen Strampler an und sich selbst einen frischen BH und ein neues Oberteil.

Als sie endlich in die Küche zurückkehrte, roch es noch köstlicher als zuvor, und bei dem Anblick, der sich ihr bot, klappte ihr die Kinnlade runter.

Er probierte gerade die Soße und trug eine ihrer Schürzen – die gelbe mit den pinken Flamingos drauf –, Penny schlief in der Tasche vorne, nur ihr Kopf schaute heraus und die Vorderpfoten, mit denen sie am Saum der Tasche hing.

»Verdammt«, murmelte sie. »Das ist die absolute Folter.«

Mit einem lauten Plopp zog Isaac den Finger aus dem Mund und sah sie fragend an. »Folter? Habe ich was falsch gemacht?«

Sie nickte. »Jap, du hast dein Oberteil angelassen. Großer Gott.« Kopfschüttelnd und mit Ike auf der Schulter öffnete sie den Schrank neben dem Herd, holte ein Glas heraus und füllte es randvoll mit Wasser. Sie brauchte jetzt sofort etwas, um sich ein wenig abzukühlen. Sonst würde sie Sergeant Sexy hier und jetzt die Hose ausziehen.

Er lachte. »Du willst, dass ich mein Shirt ausziehe?«

Mit dem Rücken zu ihm murmelte sie in ihr Wasserglas: »Und deine Hose und Unterwäsche …«

Langsam drehte sie sich um und betrachtete sein Gesicht über den Rand ihres Glases hinweg. »Dir ist schon klar, wie attraktiv du bist, oder? Ich meine, sind wir doch mal ehrlich, du bist quasi Sex am Stiel.«

Seine Lippen zuckten, als er offensichtlich versuchte, nicht zu grinsen. Doch er scheiterte kläglich und strahlte sie mit einem Lächeln an, das ihr Höschen noch feuchter werden ließ. »Mir wurde hin und wieder schon gesagt, dass ich ganz nett anzuschauen bin. Aber ich kann nicht behaupten, dass ich schon mal als Sex am Stiel bezeichnet worden wäre.«

Sie verdrehte die Augen. »Falsche Bescheidenheit steht dir nicht.«

Lachend wandte er sich ab, um sich die Hände zu waschen. »Ich weiß nicht, was du von mir hören willst. Ja, ich weiß, dass ich kein Troll bin. Ich mache Sport. Ich achte auf meinen Körper, aber …« Als er sie wieder ansah, mit dem gleichen Blick wie vorhin, den Kopf gesenkt, sodass er von unten zu ihr aufsah, meinte sie für einen Moment, ihre Eierstöcke seufzen zu hören. Die waren zwar immer noch dabei, sich von der Explosion zu erholen, aber das hieß noch lange nicht, dass sie nichts mitbekamen.

»Aber was?«, bohrte sie nach, nicht bereit, das Thema zu wechseln. Sie hatte noch nie ein Blatt vor den Mund genommen. Wenn man nicht sofort sagte, wie man sich fühlte, bekam man vielleicht keine Gelegenheit mehr dazu. Es verging kein Tag, an dem sie sich nicht wünschte, sie hätte ihrem Vater vor seinem Tod noch einmal gesagt, dass sie ihn liebte oder wie viel er ihr bedeutete. Ja, sie war damals erst fünf gewesen, aber sie wusste trotzdem, was es hieß, seine Eltern zu lieben, und ihren Vater hatte sie mehr als alle anderen geliebt.

Isaacs Lachen klag gezwungen und unbehaglich. »Aber bisher hat mir das noch nie jemand so ins Gesicht gesagt wie du.«

»Du machst Scherze, oder?«

Als ob sich ihm die Frauen nicht täglich zu Füßen werfen würden.

Er schüttelte den Kopf. »Ich hatte natürlich Freundinnen und Bettgeschichten, aber davon war keine so …«

»Direkt?«

Er nickte. »Genau.«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ich finde, seine Worte zu filtern wird überbewertet. Und es ist auch nicht so, dass ich gar keinen Filter habe, er ist nur sehr dünn. Das Leben ist zu kurz, um nicht offen seine Meinung zu sagen.«

»Und du sagst immer offen deine Meinung?«

Sie stellte ihr Glas ab und drehte Ike in ihren Armen herum, sodass er Isaac zugewandt war. »Ich sage nur, dass du sehr attraktiv bist. Und dich so in meiner Küche zu sehen, mit einer Schürze und einem Kätzchen in der Tasche, ist ziemlich orgasmisch.«

Beinahe wären seine Brauen in seinem Haaransatz verschwunden. »Bist du …?«

»Nicht ganz. Ich will damit nur sagen, dass das ein echt guter Anblick ist.«

»Okaaay …«

Schnaubend griff sie wieder nach ihrem Glas.

»Hast du denn Interesse daran, etwas anzufangen? Ist es das, worüber wir hier gerade reden?« Er griff in ihre Besteckschublade und zog das große Fleischbesteck hervor.

Sie lehnte sich gegen den Tresen und schüttelte den Kopf. Diese Unterhaltung verlief definitiv nicht wie erwartet.

Was genau hast du denn erwartet, wie so ein Gespräch läuft?

Sie ignorierte ihre innere Stimme und starrte in ihr Wasserglas, weil sie es plötzlich nicht mehr schaffte, Isaac anzusehen. »Ich habe vor zwei Wochen entbunden. Ich … ich bin nicht auf der Suche … Ich bin jetzt eine alleinerziehende Mutter. Ich bin beschädigte Ware. Es ist nur … Mein Sexualtrieb war immer schon sehr ausgeprägt, und seit dieser kleine Wurm hier gezeugt wurde, habe ich keinen Sex mehr bekommen. Meine Libido ist hyperaktiv. Und du bist wie ein Schaufensterbummel.«

Er hielt kurz inne, bevor er begann, die Truthahnbrust zu schneiden. »Dann willst du etwas Lockeres? Was rein Körperliches?«

JA!

Sein Gesicht verriet nichts über seine eigenen Gedanken. Absolut gar nichts.

Verdammt.

Ihr Gesicht stand in Flammen, was nicht nur der warmen Küche geschuldet war. Während sie noch einen Schluck trank, versuchte sie sich zu sammeln. »Ich sage nicht, dass ich irgendetwas willAußer deinem Schwanz in all meinen Löchern. »Ich denke nur laut, mehr nicht. Ich bewundere einfach nur, was ich sehe.«

Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder dem Truthahn zu. »Gib mir mal zwei Teller, bitte.«

Sie tat, wie ihr geheißen, während er fachmännisch den Truthahn zerlegte und auf die Teller verteilte.

»Magst du Cranberry-Sauce?«

»Nein, bei mir gibt’s nur Bratensoße.«

»Bei mir auch. Soll ich deinen Teller fertig machen, weil du ja den Kleinen auf dem Arm hast?«

Sie wurde wirklich nicht schlau aus diesem Mann. Er benahm sich völlig natürlich, als hätte sie ihm nicht gerade gesagt, er solle sich ausziehen und dass ihr Sexualtrieb gerade am Durchdrehen war.

»Ähm, gern. Aber ich setze ihn jetzt sowieso in die Wippe.« Aufgewühlt und verwirrt von seinem Verhalten ging sie hinüber ins Wohnzimmer und setzte Ike in die Wippe mit dem kleine Mobile, die auf Knopfdruck vibrierte.

Als sie in die Küche zurückkam, wartete Isaac schon mit einem vollen Teller auf sie. »Für dich.«

»Danke.« Natürlich berührten sich ihre Finger, als sie den Teller entgegennahm – alles andere konnte sie nicht zulassen –, und ein weiterer Blitz der Lust fuhr direkt zwischen ihre Beine. Sie schnappte sich ihr Glas, bevor sie an ihrem kleinen Bistrotisch Platz nahm. Von dort aus konnte sie Ike in seiner Wippe sehen. Momentan schien er völlig fasziniert von der Plüschsonne am Mobile, die einen kleinen Spiegel in der Mitte hatte.

Isaac setzte sich mit einer Flasche Bier zu ihr. Er hatte die Schürze ausgezogen und Penny in eines der plüschigen Katzennester gelegt, die in der Kiste gewesen waren.

Einen Moment lang aßen sie schweigend. Doch im Gegensatz zu gestern, als sie ebenfalls geschwiegen hatten und die Stille entspannt und angenehm gewesen war, fühlte sie sich jetzt einfach nur merkwürdig an.

Wieso konnte sie nicht ein Mal nachdenken, bevor sie den Mund aufmachte?

Plötzlich hob Isaac sein Bier in ihre Richtung. »Frohe Weihnachten, Lauren.«

Sie schluckte ihren Kartoffelbrei runter, bevor sie ebenfalls ihr Glas hob und mit ihm anstieß. »Frohe Weihnachten, Isaac.«

Sein Grinsen wirkte plötzlich durchtrieben, beinahe teuflisch, als er sagte: »Auf dass du alles bekommst, was du dir vom Weihnachtsmann gewünscht hast – und noch mehr.«