Kapitel 9

Auch wenn er sie erst vor einer Woche richtig kennengelernt hatte, kannte er Lauren schon besser, als sie vermutete. Es war kurz vor elf, und ihr häufiges Gähnen während der Runde Scharade vorhin verriet ihm, dass ihr inzwischen die Augen zufallen mussten, wo auch immer sie war.

Schließlich fand er sie und Ike umgeben von einer Gruppe Frauen im Wohnzimmer. Sie schienen irgendeine ernsthafte Diskussion zu führen und musterten ihn alle misstrauisch, als er sich in ihre Runde drängte.

»Entschuldigt bitte, Ladys«, sagte er, als er vortrat, um Ike von Richelles Schoß zu nehmen. Er hatte ihn ihr jetzt fast eine Stunde lang überlassen, höchste Zeit, sich den kleinen Kerl zurückzuholen.

Richelle sah ihn durchdringend an, nicht böse, eher neugierig, fast schon argwöhnisch. »Wie kommst du darauf, dass ich schon bereit bin, mich von ihm zu verabschieden?«, fragte sie und weigerte sich, das Baby loszulassen, lehnte sich sogar ein Stück von Isaac weg.

Er warf einen kurzen Blick zu Lauren, doch die schien sich über Richelles Weigerung nur zu amüsieren. »Wie fühlst du dich?«, fragte er sie, ohne auf Richelle einzugehen.

»Ehrlich gesagt fällt es mir immer schwerer, die Augen offen zu halten«, sagte sie.

»Willst du gehen?«

Sie ließ ihren Blick über die Gesichter ihrer Freundinnen schweifen, bis sie ihm schließlich wieder in die Augen sah und nickte. »Ja. Lass uns gehen.«

Ein paar der Frauen nörgelten und baten sie, noch zu bleiben, aber die meisten waren selbst Mütter, einige sogar frischgebackene Mütter, und hatten Verständnis für ihre Müdigkeit. Lauren war nicht die einzige Anwesende, die sich im Laufe des Abends mehrfach zurückgezogen hatte, um zu stillen oder eine Windel zu wechseln, und sie war ganz sicher nicht die Einzige, die gähnte.

»Tut mir leid, dass ich so eine Langweilerin bin«, sagte sie, als sie aufstand und sich den Frauen zuwandte. »Aber ich glaube, selbst wenn ich bleibe, schlafe ich ein, bevor es zwölf schlägt. Vermutlich direkt hier auf Zaks teurem Sofa, während mir ein bisschen Sabber aus dem Mund läuft.«

Isaac schnaubte, fixierte Richelle mit einem »Leg dich nicht mit mir an«-Blick und nahm ihr Ike aus den Armen.

»Er gehört dir nicht, ist dir das klar?«, fragte sie spitz.

»Dir auch nicht«, gab er zurück. »Aber ohne mich kommt er heute nicht mehr nach Hause.«

Richelles Lippen zuckten. »Er gefällt mir«, sagte sie an Lauren gewandt.

Die gähnte schon wieder und schlängelte sich durch die Frauen, um zu Isaac und Ike zu gelangen, die inzwischen am Rand der Gruppe standen. »Ja, er ist ganz okay. Ein bisschen großspurig, aber das sind wohl die meisten Polizisten. Einen kleinen Gott-Komplex hat er auch.« Sie warf Isaac ein freches Grinsen zu, das er ihr am liebsten sofort von den Lippen geküsst hätte. »Aber er kommt gut mit meinem Kleinen zurecht und ist gerade nüchtern, also behalte ich ihn vorläufig. Er hat seinen Nutzen.«

Sie hatte ja keine Ahnung, wie viel »Nutzen« er haben konnte. Wenn sie ihm nur die Chance geben würde, es ihr zu beweisen.

Sie verabschiedeten sich von allen, was weitere zwanzig Minuten dauerte, und wurden schließlich von ihren Gastgebern zur Tür gebracht.

»Das müssen wir bald wiederholen«, sagte Aurora mit Dawson im Arm.

»Auf jeden Fall«, sagte Isaac, der Ike sachte im Autositz hin- und herwiegte. Der Kleine hatte sich kaum geregt, als er ihn Richelle abgenommen und in den Sitz verfrachtet hatte. Er hatte sich nur kurz gestreckt, eine Grimasse geschnitten, einmal gequakt und dann weitergeschlummert.

Wäre Isaac doch bloß auch mit so einem tiefen Schlaf gesegnet.

Auf dem Weg zu seinem Truck winkten sie noch einmal zurück zum Haus. Isaac konnte seinen Wagen per Fernbedienung starten, als sie einstiegen, war er also schon aufgewärmt. Der Himmel war klar und voller Sterne. Heute Nacht würde es sicher ordentlich frieren. Er hoffte, dass alle Gäste einen nüchternen Fahrer hatten, der sie sicher nach Hause bringen würde.

Aber die Leute auf der Party hatten alle einen vernünftigen Eindruck gemacht, und er erinnerte sich daran, dass Atlas erwähnt hatte, die Tochter einer Kollegin und ein paar ihrer Highschoolfreunde würden sich als Chauffeure ein nettes Taschengeld bei dieser Party verdienen.

Als sie durch die dunklen, stillen Straßen von Seattle fuhren, warf er einen Blick zu Lauren. Sie hatte den Kopf zurückgelehnt und die Augen geschlossen. Auf der Party hatten sie nicht viel Zeit miteinander verbracht, was er sehr schade fand. Er hatte sich hauptsächlich mit den anderen Männern unterhalten, und sie war immer von mindestens drei Frauen umgeben gewesen. Außer wenn sie mal kurz verschwunden war, um Ike zu stillen.

Das waren die einzigen Moment gewesen, in denen er sie mal allein erwischt hatte.

Er dachte daran zurück, wie er sie in Zaks Büro gefunden hatte. Sie hatte mit geschlossenen Augen eine Melodie für ihren Sohn gesummt.

Natürlich hätte es niemanden gestört, wenn die Frauen vor allen anderen gestillt hätten, aber anscheinend ließen sich Babys von der ganzen Aufregung so sehr ablenken, dass sie vergaßen zu trinken. Deswegen zogen sich die meisten Mütter lieber zurück.

Der Blick, mit dem sie zu ihm aufgesehen hatte, als er mit ihrer Weinschorle und einem Teller voller Essen in Zaks Büro getreten war, hätte sein Herz beinahe zum Platzen gebracht.

»Woher wusstest du das?«, fragte sie mit einem Lächeln und feucht schimmernden Augen. »Ich bin am Verhungern.«

Er stellte den Teller auf dem Tischchen neben ihrem Sessel ab und reichte ihr das Weinglas.

Sie nahm einen Schluck und schloss wieder die Augen. »Mhhh, diese Leute verstehen wirklich was von Wein.«

»Von gutem Essen verstehen sie auch was. Ich habe gehört, Paige hat das Buffet beigesteuert. Alle stürzen sich auf die Krabbentarts, deswegen habe ich dir gleich vier mitgebracht, falls keine mehr da sind, bis du zurückkommst. Liam, der alte Gierschlund, hat sich damit die Backen vollgestopft wie ein Hamster.«

Sie sah auf den Teller hinab, dann wieder hoch zu Isaac. Mehr Tränen traten in ihre Augen.

Oh, verdammt, hatte er etwas falsch gemacht?

»Bist du allergisch gegen Krabben?«, fragte er und wollte schon nach dem Teller greifen. »Das wusste ich nicht. Tut mir leid. Ich kann die entsorgen.«

Sie schüttelte lachend den Kopf und legte ihre Hand auf seine. »Nein, nein. Ich bin gegen gar nichts allergisch. Es ist nur …« Sie schluckte, bevor sie mit glänzenden Augen und rosa Wangen zu ihm aufsah. »Es ist nur wie an Heiligabend. Du bringst mir genau das, was ich brauche, bevor mir überhaupt klar ist, dass ich es brauche. Ich weiß wirklich nicht, womit ich dich verdient habe … unsere Freundschaft verdient habe, aber … danke.«

Eine fette Träne rollte an ihrer Nase entlang und blieb an ihrer Oberlippe hängen. Er streckte die Hand aus und wischte sie mit dem Daumen fort. »So selbstlos bin ich gar nicht«, sagte er. »Ich habe schließlich auch was davon. Ich verbringe wirklich gern Zeit mit dir und Ike.«

Es rasselte in ihrer Brust, als sie tief Luft holte, ihr Lächeln war klein, beinahe grimmig.

»Du machst es mir wirklich sehr schwer, es bei einer Freundschaft zu belassen.«

Ja, das war der Plan. Vielleicht war es egoistisch von ihm, aber er würde alles tun, um Lauren zu beweisen, dass das zwischen ihnen es wert war, ein Risiko einzugehen. Er meinte es ernst mit ihr. Ob nun als Freund oder als Partner, er wollte zu ihr und Ike gehören.

In der kurzen Zeit hatten die beiden sein Leben schon so sehr bereichert.

Mit einem leisen Lachen zog er sich einen Schemel heran und setzte sich zu ihr. »Hast du Spaß auf der Party?«

Sie nickte. »Ja. Ich bin froh, dass du mich überredet hast, hierherzukommen. Ich habe mich so in meinen Kokon zurückgezogen, dass ich ganz vergessen habe, wie schön es ist, sich mit Erwachsenen zu unterhalten. Vor allem mit anderen Müttern. Zu hören, dass ich nicht die Einzige bin, die jede Nacht fünfmal geweckt und vollgespuckt wird, ist tröstlich, wenn auch ein bisschen deprimierend.«

»Aber das wird ja nicht ewig so sein.« Er legte ihr eine Hand aufs Knie. Eine Geste, die ihr natürlich nicht entging.

Er ließ die Hand dort liegen, und das leichte Zucken ihrer Mundwinkel, als sie sich ein Krabbentörtchen in den Mund schob, sagte ihm, dass es in Ordnung war. Er zog ihren Fuß auf seinen Schoß und begann, ihn zu massieren, bearbeitete mit den Daumen ihren Ballen und jeden einzelnen Zeh.

Ein genießerisches Seufzen stieg aus ihrer Kehle auf. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. »Gott, das fühlt sich gut an. Und du hast recht, es wird nicht ewig so sein. Ich weiß, dass diese Zeit schnell vorbeigeht. Ich meine, er ist schon drei Wochen alt. Und allein in der Zeit hat er sich schon so sehr verändert.« Als sie die Augen wieder öffnete, sah sie ihn mit einem Blick an, den er tief in seiner Seele spürte. Ihre Einsamkeit war mit einem Mal so greifbar, dass die Luft um sie herum sich veränderte. »Aber in den schlimmsten Momenten, wenn ich allein wach bin, voll Babykotze, fix und fertig, und es einfach nicht schaffe, ihn zu beruhigen, fühle ich mich so allein. Dann habe ich das Gefühl, als Mutter komplett zu versagen. Im Leben komplett zu versagen. So war das nicht geplant.«

»Wie war es denn geplant?«

Sie hob die Schultern und wandte den Blick ab, das Blau ihrer Augen dunkel und tief. Mehr Tränen. »Keine Ahnung. Es war geplant, dass ich das nicht alles allein schaffen muss. Dass ich mit dem Vater meines Kindes verheiratet bin. Oder meinen Sohn zumindest gemeinsam mit ihm großziehe. Mit jemand anderem. Ich wurde eine Zeit lang von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen, und ich weiß, wie schwer das sein kann.«

»Ich wurde auch von einer alleinerziehenden Mutter großgezogen. Und es ist schwer. Aber weißt du was?«

Sie schielte ihn nur aus dem Augenwinkel an.

Er musste ein Lachen zurückhalten und zupfte stattdessen an ihrem kleinen Zeh. »Meine Mutter ist die stärkste Frau, die ich kenne. Sie war wirklich gestraft mit meinem Vater, aber sie hat einen Ausweg gefunden. Für uns alle. Sie ist mit uns in einen anderen Staat gezogen und hat einen Neustart gewagt. Das war schwer für sie, das weiß ich. Sie hatte zwei Jobs, hat allein zwei Kinder großgezogen, und manchmal musste sie sich zwischen Essen und Strom entscheiden, weil sie sich nicht beides leisten konnte. Wir haben eine Woche lang nur Brot mit Erdnussbutter und Marmelade gegessen, bis wir den Kühlschrank, den Herd und die Mikrowelle wieder benutzen konnten. Aber so schwer das alles auch war, ich bin mir absolut sicher, dass es besser war, als bei ihm zu bleiben.«

Sie streckte die Hand nach ihm aus. Er ließ ihren Fuß los, um sie zu ergreifen. »Tut mir leid. Jetzt fühle ich mich wie eine Idiotin. Im Vergleich dazu ist mein Leben der reinste Ponyhof. Da beklage ich mich darüber, allein zu sein, wenn …«

Er schüttelte mit schmalen Lippen den Kopf und drückte kurz ihre Hand, bevor er die Fußmassage fortsetzte. »Hey, nein. Sag das nicht. Du musst dich für nichts entschuldigen. Jeder hat sein eigenes Kreuz zu tragen, okay? Und ich bin mir sicher, wärst du mit so einer Situation konfrontiert worden, wie meine Mutter sie erlebt hat, hättest du sie mit der gleichen Anmut, der gleichen Stärke gemeistert wie sie. Denn du bist eine starke Frau, Lauren.«

»Und du bist ein unglaublicher Mann, Isaac.«

Einen Moment lang saßen sie schweigend beisammen. Sahen einander in die Augen. Er massierte weiter ihre Füße, während sie ihren Sohn stillte. Es war unfassbar, dass er diese Frau erst seit einer Woche kannte und trotzdem schon so tiefe Gefühle für sie hatte. Für ihren Sohn. Für diese Freundschaft, dieses Leben, diese Beziehung, die sie sich aufbauten. Und wie vollkommen richtig und natürlich es sich anfühlte. Ike war nicht sein Sohn, und doch fühlte es so natürlich an, hier mit ihr zu sitzen, während sie ihn stillte, ihre Füße zu massieren, ihr Essen zu bringen – hier fühlte er sich vollständiger, als er es seit Langem getan hatte, wenn überhaupt schon jemals.

»Klopf, klopf.« Eine weibliche Stimme an der Tür brach den Bann zwischen ihnen. Isaac setzte sich auf, stellte Laurens Füße zurück auf den Boden und zog die Hände zurück. Lowenna trat ein, mit einem der Babys im Arm. »Stört es euch, wenn ich mich dazugeselle? Mason wickelt gerade Wyatt, deswegen dachte ich, ich nutze den Moment, um Warren zu stillen.«

Lauren räusperte sich und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. Nach einem Schluck aus ihrem Glas lächelte sie Lowenna strahlend an. »Natürlich. Je mehr, desto besser.«

Isaac stand auf und legte Laurens Füße auf den Hocker, auf dem er eben noch gesessen hatte. »Dann lass ich die Damen mal in Ruhe ihren Nachwuchs füttern.« Er klopfte sich auf die Tasche, in der sein Handy steckte. »Wenn du mehr zu essen willst, schick mir einfach eine Nachricht.«

Sie hatte ihm noch ein weiteres ihrer unglaublichen Lächeln geschenkt, bevor er das Zimmer verlassen hatte und zur Party zurückgekehrt war.

Als er schließlich in Laurens Einfahrt bog, war es Viertel vor zwölf. Sie war auf dem Beifahrersitz eingeschlafen, und als er aus dem Truck sprang, um Ike von der Rückbank zu holen, schnarchte der ebenfalls vor sich hin. Wie die Mutter, so der Sohn.

Sie hatte ihm schon vor der Abfahrt ihren Hausschlüssel gegeben, also ließ er sie in seinem Wagen, während er Ike hineintrug, aus dem Autositz befreite und in die Wiege neben Laurens Bett legte. Dann ging er zurück, um auch Lauren zu holen.

Es faszinierte ihn immer wieder, wie tief manche Leute schliefen. Seine Schwester gehörte auch dazu. Wenn sie im Auto einschlief, konnte Isaac sie selbst jetzt noch abschnallen und ins Haus tragen, ohne dass sie auch nur mit der Wimper zuckte oder ihr lautes Schnarchen einen Moment lang unterbrach.

Lauren schien ihr da sehr ähnlich zu sein. Sie schlang die Arme um seinen Hals, jedoch ohne die Augen zu öffnen. Ihr Kopf rollte gegen seine Schulter, ihr Atem kitzelte ihn am Kinn, als er sie über die Schwelle trug und die Tür hinter ihnen schloss.

Mit ihrer Vermutung, nicht bis Mitternacht durchzuhalten, hatte sie definitiv richtiggelegen.

Es war stockdunkel im Haus, trotzdem fand er sich mühelos zurecht. Er hatte schon ganz andere Sachen bewältigt, ohne sich einen Zeh anzustoßen.

Im Schlafzimmer legte er sie auf ihr Bett, dann breitete er die Decke, die am Fußende lag, über sie. Vermutlich würde sie irgendwann schweißgebadet aufwachen, weil sie sogar noch ihren Wintermantel trug, aber er wagte es nicht, ihn ihr auszuziehen, weil er sie nicht wecken wollte.

Er wandte sich gerade zum Gehen, als sie eine Hand ausstreckte und die Finger um seine schloss, ihn zurückzog. Sein Herz hämmerte wild in seiner Brust, als er sich wieder zu ihr umdrehte.

Verschlafen und wunderschön blinzelte sie zu ihm auf. »Danke für heute Abend, für alles.«

Ein harter Klumpen, wie ein Stück altes Brot, steckte in seiner Kehle, und er musste mehrmals schlucken, um das Gefühl loszuwerden. Mit einem Lächeln drückte er ihre Finger. »Es war ein wirklich schöner Abend.«

Sie stützte sich auf die Ellbogen und sah sich überrascht in ihrem Schlafzimmer um. »Hast du mich ins Haus getragen?«

»Nein, du warst den ganzen Abend hier. Dachtest du etwa, wir wären auf einer Party gewesen?«

Ihr Lächeln wurde so breit, dass sich ihre Nase kräuselte. »Quatschkopf.«

»Ich gehe dann mal. Meinst du, die Mädels sind noch wach, damit ich Penny abholen kann?«

Sie schwang die Beine über den Bettrand, um aufzustehen, ließ seine Hand aber immer noch nicht los. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie noch wach sind. Ich schreibe Sabrina kurz und frage sie.« Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche und begann zu tippen. Mit der anderen Hand hielt sie ihn noch immer fest. »Sie sagt, sie sind noch wach.«

Er nickte. »Okay. Dann lasse ich dich jetzt mal schlafen.«

»Ich bring dich noch zur Tür«, sagte sie und folgte ihm aus dem Schlafzimmer.

Er führte sie durch den Flur zur Haustür, genoss das Gefühl ihrer Hand in seiner, wie warm, wie weich sie war. Er wünschte, er würde sie nicht aus ihrem Schlafzimmer hinaus-, sondern hineinführen, wo er sie ausziehen und ihr zeigen würde, wie viel sie ihm bedeutete.

Viel zu schnell hatte er die Tür erreicht und öffnete sie, die eisige Luft der sternklaren Nacht ließ seine Wangen prickeln. Erst jetzt ließ sie seine Hand los.

»Wann arbeitest du wieder?«, fragte sie, verschränkte ihre Finger ineinander. »Wann soll ich das nächste Mal auf Penny aufpassen?«

»Die nächsten zwei Tage habe ich die Nachtschicht, danach vier Tage frei. Ist es okay, wenn Penny über Nacht bei dir bleibt?«

Sie nickte, bevor sie den Kopf senkte und eine Haarsträhne hinter ihr Ohr schob. »Natürlich. Was immer du brauchst.«

Was immer du brauchst.

Das war eine vieldeutige Aussage.

Er atmete tief durch die Nase ein, erlaubte der eiskalten Luft, seine Lungen zu füllen und ihn abzukühlen.

Er trat einen Schritt zurück, hinaus in die Nacht, weg von ihrem Duft, ihrer Hitze, ihr selbst. Je mehr Zeit er mit Lauren verbrachte, desto schwerer wurde es, nicht bei ihr zu sein, auf Distanz zu bleiben. Dieser Moment zwischen ihnen in Zaks Büro war ihm mehr unter die Haut gegangen, als er sich eingestehen wollte.

Sie hatte ihn einen unglaublichen Mann genannt.

Dabei war das gar nicht sein Ziel, er versuchte nur, ein guter Mann zu sein. Versuchte, sich selbst und der Welt zu beweisen, dass er einer der Guten war.

Er rettete Menschen.

Er half Menschen.

Lauren hielt ihn für unglaublich. Was würde sie über ihn denken, wenn sie jemals die Wahrheit erfuhr? Dass er unglaublich abscheulich war? Würde sie ihn nie wiedersehen wollen? Vermutlich.

»Es freut mich, dass du den Abend mit deinen Freundinnen genossen hast«, sagte er nach einem Räuspern, mit dem er die düsteren Gedanken vertrieb.

»Ich hatte wirklich Spaß. Du auch?«

Er nickte. Er hatte Spaß gehabt. Aber er hätte genauso viel Spaß gehabt, wenn er mit Lauren zu Hause geblieben wäre, einen Film angeschaut und auf dem Sofa Nachos gegessen hätte, nur sie beide.

Er warf einen Blick auf die Uhr. Es war Punkt Mitternacht.

Ein neues Jahr.

»Es ist zwölf Uhr.«

Ihre Augen wurden groß, und sie lehnte sich gegen den Türrahmen, die Arme vor der Brust verschränkt, ein kleines Lächeln auf den Lippen. Lippen, die er küssen wollte. Lippen, die er um seinen Schwanz gelegt sehen wollte. Lippen, die er zu einem perfekten O geformt sehen wollte, wenn sie die Augen schloss und kam.

»Frohes neues Jahr, Isaac.«

Mit einem erneuten Räuspern nickte er. »Frohes Neues, Lauren.«

»Dann sehen wir uns morgen?«

»Meine Schicht fängt um sechs an, ich komme also gegen halb vorbei, um Penny abzuliefern.«

»Wir sind hier. Außer du willst früher kommen und mit uns zu Abend essen?«

Aber hallo.

Er dämpfte seine Begeisterung und beschränkte sich auf ein weiteres Nicken. »Das klingt super, danke.« Gott, wieso fühlte sich das alles so gezwungen an, so gestelzt?

Weil du sie begehrst.

Richtig.

Die seltsame Stimmung zwischen ihnen war seine Schuld. Sie wirkte völlig normal. Entspannt. Lieb und nett wie immer. Sie wollte mit ihm befreundet sein und nicht mehr, das hatte sie deutlich gemacht. Also musste er jetzt seine Gefühle beiseiteschieben und ihr der Freund sein, den sie brauchte, der Freund, den sie wollte. Ihre Verbindung fühlte sich so natürlich an. Es fühlte sich so natürlich an, Teil von ihrem und Ikes Leben zu sein. Er musste aufhören zu versuchen, ihre Beziehung in eine Richtung zu drängen, die nun mal nicht möglich war.

Das konnte er schaffen. Er hatte schon Schwereres geschafft. Viel Schwereres.

Er brummte und schenkte ihr ein schiefes Grinsen. »Okay, dann bis morgen Abend.«

»Schlaf gut.«

»Du auch.«

Er wandte sich zum Gehen, hielt dann jedoch inne.

Es war ja nicht so, dass sie ihn nicht wollte.

Das tat sie.

Sie hatte es ihm selbst gesagt.

Sie hatte nur Angst.

Angst davor, dass er sterben könnte, wegen irgendeines bescheuerten Familienfluchs und eines Versprechens, das sie ihrer Mutter gegeben hatte.

Es war ein neues Jahr, ein neuer Tag, und er musste ihr zumindest zeigen, was sie sein könnten, wenn sie es nur zuließ.

Entschlossen wirbelte er herum, trat dicht an sie heran, nahm ihr Gesicht zwischen beide Hände und küsste sie. Besser gesagt: Er fiel über ihren Mund her. Nahm ihn vollkommen in Besitz. Fing ihr Keuchen ein und labte sich an ihrem Stöhnen. Sie schob ihn nicht von sich. Gott sei Dank, sie schob ihn nicht von sich. Sie schlang die Arme um seinen Nacken, zog ihn zu sich hinunter, öffnete ihren Mund und hieß ihn willkommen. Gab ihm, wonach er sich sehnte, und noch so viel mehr. Sie schob ihre Zunge in seinen Mund, fuhr damit über seine, kostete ihn, neckte ihn. Sein Schwanz drückte gegen den Reißverschluss seiner Jeans, bis er heftig pulsierte.

Er war weder ihr Vater noch ihr Großvater. Ja, sein Job war gefährlich, aber heutzutage lebte selbst ein Busfahrer oder ein Lehrer gefährlich. Gefahr lauerte überall, nicht nur für Rettungskräfte, und man konnte sein Leben nicht in Angst verbringen. Er musste ihr zeigen, was aus ihnen werden konnte, wenn sie sich nicht von ihrer Angst leiten ließ. Wenn sie nicht zuließ, dass die Tragödien der Vergangenheit ihre Zukunft beeinflussten.

Denn sie waren gut zusammen. Sie kannten sich erst eine Woche, aber es war eine intensive Woche gewesen, und er wusste einfach, dass sie zusammengehörten.

Ein schriller Schrei vom anderen Ende des Flurs ließ sie auseinanderfahren, als hätten ihre Zungen plötzlich Feuer gefangen. Sie legte die Finger an ihre geschwollenen Lippen und blinzelte aus großen Augen zu ihm auf. »Ich, ähm … ich muss gehen.«

Schwer atmend trat er einen Schritt hinaus in die Einfahrt. »Jap.«

»Ich …« Sie stolperte zurück, fing sich aber an der Wand ab. »Ich … ich …«

Lächelnd schob er die Hände in die Hosentaschen, um seine enge Jeans zurechtzuziehen. »Gute Nacht, Lauren.«

Sie nickte. »Ja. Nacht, Isaac.«

Das Weinen aus ihrem Schlafzimmer nahm zu, und ein gehetzter Ausdruck trat in ihr Gesicht.

»Geh dich um deinen Sohn kümmern. Wir sehen uns morgen.«

Sie nickte immer noch. »Richtig. Morgen. Okay.«

Er wandte sich zum Gehen. »Frohes neues Jahr, Lauren.«

»Richtig. Neues Jahr.«

»Geh schon.«

Sie folgte seinem Befehl und schloss die Tür, noch bevor er um die Ecke gebogen war. Doch ihm entging nicht, dass sie einen Moment später den Vorhang im Wohnzimmer zurückzog und ihm mit großen runden Augen hinterhersah.

Der morgige Abend würde auf jeden Fall interessant werden.