Kapitel 17

Seine Eier würden ihm jeden Moment abfrieren, wenn sie nicht bald die verdammte Tür aufmachten. Er hämmerte noch einmal dagegen. Mit zitternden Fingern griff er nach seinem Handy, um sie anzurufen, falls sie mit Ohrstöpseln schliefen oder so.

Doch da ging das Licht im Flur an, und durch die Scheibe sah er zwei dunkle Gestalten näher kommen.

Er schob Hände und Telefon in die Jackentaschen und trat in der Kälte von einem Fuß auf den anderen, während er darauf wartete, dass Sid und Mel ihm endlich öffneten.

Beide Frauen sahen extrem verstimmt aus, als sie die Tür schließlich aufzogen, doch nur, bis sie erkannten, dass er es war und dass er kurz vor einem Nervenzusammenbruch stand.

Er hatte gewartet, bis Lauren in seinen Armen eingeschlafen war, dann hatte er sich vorsichtig von ihr gelöst und war aus dem Bett gestiegen. Er hatte sich angezogen, sich seine Tasche geschnappt, noch mal nach Ike gesehen und ihm einen Kuss auf die Stirn gedrückt, dann war er gegangen. Er musste mit jemandem reden, um Ordnung in seine wild durcheinanderschießenden Gedanken zu bringen. Es war unmöglich, zu leugnen, was er getan hatte, was passiert war, aber er musste das alles erst noch richtig begreifen. Einen Weg finden, wie er es ihr sagen konnte.

Mel knipste das Licht in der Küche an, während Sid sich schon daranmachte, den Wasserkocher zu füllen. Isaac ließ sich auf einen Barhocker an ihrer Kücheninsel sinken und vergrub das Gesicht in den Händen.

Er wusste, wie spät es war. Oder früh, je nachdem, wie man es betrachtete. Die Uhr am Herd zeigte elf Minuten nach zwei Uhr morgens. Aber er wusste auch, dass er Mel und Sid mehr vertraute als irgendjemandem sonst und dass sie ihm helfen würden, einen Ausweg zu finden. Wäre es andersherum, stünde den beiden seine Wohnung jederzeit offen, ganz egal, wie spät es war.

Dafür waren Freunde da.

»Hat sie Schluss gemacht?«, fragte Sid, während sie eine Teekanne aus dem Regal holte.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Hat sie dir gesagt, dass sie dich liebt, aber du bist noch nicht so weit?«, fragte Mel. Sie setzte sich auf den Hocker ihm gegenüber.

Wieder schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Ist jemand gestorben?«, fragte Sid, als sie sich mit einer geblümten Schachtel in der Hand umdrehte, auf der »Tee« stand.

Nicht nur jemand. Drei Menschen. Drei wichtige Menschen. Und seine Familie hatte mit allen drei Morden zu tun.

Mel stützte die Ellbogen auf den Tresen und sah ihn direkt an. An ihrem linken Nasenflügel funkelte der Diamantstecker, den sie für die Arbeit immer entfernen musste. »Es ist zu früh am Morgen, um dir zwanzig Fragen zu stellen, Isaac. Kannst du bitte einfach zum Punkt kommen und uns sagen, was passiert ist?«

»Sie glaubt, die Frauen in ihrer Familie sind verflucht, wenn sie Polizisten heiraten. Ihr Dad ist gestorben, ihr Großvater und ihr Onkel auch. Alle drei waren Cops.«

»Das ist doch nur bescheuerter Aberglaube«, schnaubte Mel und wedelte mit der Hand, als wollte sie eine Mücke verscheuchen. »Ja, unser Job ist nicht ungefährlich, aber wir sind auch keine Krabbenfischer in der Beringsee. Anscheinend ist das der gefährlichste Job der Welt.«

Sid warf ihrer Frau einen zweifelnden Blick zu.

Mel zuckte mit den Schultern. »Hab ich in einer Doku auf dem Discovery Channel gesehen.«

»Darum geht es aber nicht«, fuhr Isaac fort. »Ich habe heute Abend herausgefunden, dass sie in Nebraska geboren wurde.«

»Na und? Willst du ihr das zum Vorwurf machen?« Sid füllte losen Tee in ein Silikonteeei in Form eines Apfels. Hätte er nicht schon öfter mit den beiden Tee getrunken, hätte er keine Ahnung gehabt, was sie da tat.

»Ich wurde auch in Nebraska geboren.«

Mel holte tief Luft und warf genervt die Hände in die Luft. »Alter, wirklich, komm endlich zum Punkt. Was ist so schlimm daran, dass ihr im selben Staat geboren wurdet? Was hat das mit diesem Fluch zu tun? Und damit, dass du hier mitten in der Nacht auftauchst?«

»Ich habe ihren Vater getötet. Mein Vater hat ihren Onkel getötet und mein Großvater ihren Großvater!«

Die Tasse, die Sid gerade aus dem Schrank geholt hatte, glitt ihr aus den Fingern und zerbarst klirrend auf den Bodenfliesen. Mels Mund klappte auf, ohne dass ein Ton herauskam, und die Luft im Raum wurde plötzlich schwer.

»Spul mal ein Stück zurück«, sagte Mel schließlich mit erhobenen Händen. »Wie, du hast ihren Vater getötet?« Sie sprach langsam, vorsichtig, und ihr Blick verriet ihm, dass sie sich wünschte, sie oder Sid hätten eine Waffe in ihren identischen schwarzen Bademänteln versteckt.

Er stieß langsam die Luft aus. »Ich war acht. Wir haben in Quaint in Nebraska gelebt, außerhalb von Omaha. Mein Vater war Mitglied einer illegalen Motorradgang, genau wie sein Vater vor ihm. Sein Vater ist wegen Mordes ins Gefängnis gewandert, hat einen Polizisten getötet – Laurens Großvater, wie sich heute Abend herausgestellt hat. Das ist mir klar geworden, als sie mir vorhin genauer von diesem Fluch erzählt hat.«

»Ich verstehe immer noch nicht, wieso das bedeutet, dass du ihren Vater getötet hast«, sagte Sid. Ihr rotbraunes Haar hing in unordentlichen Wellen um ihr Gesicht, was ihre müden braunen Augen noch betonte.

»Nachdem mein Großvater ins Gefängnis gekommen ist, wurde mein Vater zum neuen Anführer der True Destroyers. Er war ein Idiot. Es gibt nicht eine einzige positive Erinnerung an die acht Jahre, die ich in seinem Haus verbracht habe. Er hat meine Mom geschlagen, und mich auch. Er wäre sogar auf meine kleine Schwester losgegangen, hätte ich die Schläge nicht selbst eingesteckt.«

»Du warst doch selbst noch ein Kind«, flüsterte Sid. Der Wasserkocher piepte, und sie goss dampfendes Wasser in die Teekanne.

»Eines Abends ist mein Vater sturzbetrunken von einem Treffen der Gang zurückgekommen. Er hat angefangen, sich an meiner Mom zu vergreifen. Jemand hat die Polizei gerufen, vermutlich Nachbarn, auch wenn die meisten von ihnen Angst vor meinem Vater hatten. Jedenfalls sind zwei Cops aufgetaucht. Ich kann euch nicht sagen, was als Nächstes passiert ist, weil ich mich nicht wirklich daran erinnere. Ich weiß nur noch, dass sie meiner Mom gesagt haben, dass sie meinen Dad endlich verlassen soll, dass sie sonst das Jugendamt alarmieren und ihr die Kinder wegnehmen lassen. Das hat mich wirklich wütend gemacht. Meine Mom war eine tolle Mutter. Sie hat das absolut Beste aus der Situation gemacht, in der wir nun mal steckten.«

»Hatte sie keine Familie, zu der sie sich flüchten konnte?«, fragte Mel und bedankte sich tonlos bei ihrer Frau für die Tasse Tee.

Isaac dankte Sid ebenfalls. »Die hatten alle viel zu viel Angst vor meinem Dad. Sie wusste, dass sie nicht zu ihrer Familie gehen konnte, weil er sie dort finden würde, uns finden würde. Seit Natalies Geburt hatte sie heimlich Geld zur Seite gelegt, hat geplant, abzuhauen. Aber er hat ihr Geld eines Abends gefunden und …« Er nippte an seinem Tee. Er war zu heiß, doch das Brennen auf seiner Zunge war eine willkommene Ablenkung von dem Schmerz in seiner Brust. »Er hat sie so schlimm verprügelt, dass sie unter einem Auge mit zehn Stichen genäht werden musste.«

Sid zog einen Hocker unter der Theke hervor und setzte sich neben ihre Frau. »War das die Nacht, in der du …«

»Nein. An dem Abend, als die Polizei auftauchte – auch wenn das nicht das erste Mal war –, ist er nur betrunken heimgekommen und hat gesehen, dass der Abwasch noch nicht erledigt war. Natalie und ich waren schon im Bett, aber als ich die Polizisten sagen hörte, dass wir in Pflegefamilien kommen könnten und dass Geschwister meistens nicht mal zusammen bleiben, bin ich ausgerastet. Mein Dad hatte mir mal gezeigt, wo er seine Waffe versteckt hat – eine von seinen Waffen, besser gesagt. Eine 9 mm Glock. Er hat mir gezeigt, wie man sie lädt. Für ihn war das bestimmt ein schöner Vater-Sohn-Moment. An dem Abend musste ich sie aber gar nicht laden, denn das war sie schon.«

»Bescheuerter Idiot«, murmelte Mel über den Rand ihrer Tasse.

Isaac hob beide Brauen. »Was dann kam, weiß ich nicht mehr. Ich erinnere mich nur noch daran, dass ich mir die Pistole geschnappt habe und raus in die Küche gegangen bin, wo die Erwachsenen waren. Das Nächste, woran ich mich erinnern kann, sind die Schreie meiner Mutter, als einer der Polizisten tot auf dem Boden lag, meine Schwester geweint hat und mein Vater festgenommen wurde.«

»Du hattest Angst«, sagte Sid, während sie von ihrem Hocker rutschte und sich hinter ihn stellte. Sie schlang beide Arme um seine Schultern, drückte ihn fest an sich und legte das Kinn auf seine Schulter. »Du warst nur ein Kind. Musstest viel zu schnell erwachsen werden. Der Mann im Haus sein, weil dein Vater ein gewalttätiger Alkoholiker war.«

»Aber ich habe jemanden getötet«, sagte er mit Tränen in den Augen. Seine Emotionen und die harte Realität seiner Tat schnürten ihm die Kehle zu. »Ich habe Laurens Dad umgebracht. Der Polizist war Laurens Dad. Ich habe den Vater der Frau getötet, die ich liebe.«

»Aber damals kanntest du sie ja nicht. Sie war damals was? Fünf? Sechs?«, sagte Mel mit sanfter Stimme. »Ihr wart beide Kinder. Du hättest niemals eine Waffe in die Finger bekommen dürfen. Du hättest niemals mit diesem Mann – diesem Monster – in einem Haus leben dürfen.« Wut trat in ihre Miene. »Du warst ein Kind.«

»Ein Kind mit einer Waffe«, sagte er kopfschüttelnd und fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. »Gott sei Dank hat Natalie die Pistole nie gefunden. Sie hätte sich umbringen können.«

»Okay, ich muss jetzt einfach die Frage stellen, die sich hier aufdrängt«, begann Mel mit ernstem Blick. »Wie kannst du dir sicher sein, dass es so passiert ist, wenn du dich doch gar nicht daran erinnerst?«

»Gute Frage«, murmelte Sid, die Isaac noch immer festhielt.

»Ich erinnere mich an genug, um zu wissen, dass ein Cop – Laurens Vater – gestorben ist, weil ich mit einer Waffe in die Küche stürmte. Ich bin im Kopf sämtliche Möglichkeiten immer wieder durchgegangen, aber nichts deutet darauf hin, dass jemand anderes geschossen hat. Er muss der Polizist gewesen sein, der gedroht hat, Natalie und mich meiner Mutter wegzunehmen. Vermutlich war ich so wütend, dass ich gewalttätig geworden bin.« Genau wie mein alter Herr.

»Trotzdem, du warst ein Kind«, wiederholte Mel mit Nachdruck. »Ein verängstigtes Kind, das niemals Zugang zu einer Waffe hätte haben dürfen. Du darfst dir daran nicht die Schuld geben.«

»Du hast gesagt, dein Großvater hat ihren Großvater ermordet, und dein Vater ihren Onkel?«, fragte Sid, die ihn nun losließ, um einen Schluck Tee zu trinken.

Das Lachen, das aus seiner Kehle brach, war voller Unglauben. »Ja. Ihr Großvater war auch Polizist. Er war dabei, als sie die Gang hochgenommen haben, und wurde vom Anführer erstochen.«

»Und das war dein Großvater?«, fragte Mel.

»Jap. Der gute alte Opi hat noch gern selbst Hand angelegt. Man hat ihm nicht umsonst den Spitznamen Das Chaos gegeben. Dafür hat er gesorgt, wo immer er aufgetaucht ist.«

»Und dein Vater?«, fragte Sid.

»Er ist für meine Tat ins Gefängnis gewandert und für tausend andere Sachen. Aber er war trotzdem noch Anführer der Destroyers, sie haben trotzdem noch Waffen und Drogen in Omaha und der Umgebung verkauft. Ein Cop wurde undercover eingeschleust, um herauszufinden, wie mein Dad aus dem Gefängnis die Geschäfte leiten konnte. Mein alter Herr war ein Psychopath, das steht außer Frage, aber er war nicht dumm. Er hat einen Cop schon auf eine Meile Entfernung gerochen. Ich habe absolut keinen Zweifel daran, dass er derjenige war, der Laurens Onkel erstochen oder zumindest seinen Mord in Auftrag gegeben hat.«

»Aber das weißt du nicht mit Sicherheit«, sagte Mel. Sie hielt ihre Tasse zwischen den Händen und tippte mit den Fingern dagegen.

Er hob die Schultern. »Mag sein, aber ich weiß mit Sicherheit, dass ich ihren Vater ermordet habe und mein Großvater ihren Großvater. Das Ganze ist jetzt schon so verworren, dass es mich fast umbringt.«

Er fühlte sich wie das größte Arschloch der Welt, weil er Lauren mitten in der Nacht allein gelassen hatte, aber er hatte einfach nicht bei ihr bleiben können, nachdem er nun wusste, was er getan hatte. Was sein Vater und Großvater getan hatten. Er war der Fluch. Seine Familie war das Übel, das Laurens Familie zerstört hatte. Ihnen ihre Männer genommen hatte. Geliebte Väter und Ehemänner.

Wie konnte er ihr jemals wieder in die Augen sehen? Ike in die Augen sehen? Konnte es so denn noch eine gemeinsame Zukunft für sie geben?

»Du musst es ihr sagen.« Sid drückte ihn noch einmal, bevor sie zurücktrat. »Sonst frisst dich das von innen heraus auf und vernichtet eure Beziehung.«

Ja, das war ihm klar.

Die Erinnerungen an das, was er getan hatte, nagten schon jetzt an ihm. Das Wissen, dass er einen Cop getötet hatte, war für immer in sein Gehirn tätowiert. Ob er damals ein verängstigtes Kind gewesen war oder nicht, Tatsache war, dass er einen Menschen getötet hatte. Er hatte nie darüber sprechen können, ohne danach Albträume zu bekommen. Was würde jetzt passieren, da er den Namen des Mannes kannte, den er ermordet hatte? Die Tochter kannte, der er den Vater genommen hatte – und sie liebte.

»Was können wir tun?«, fragte Mel. »Willst du uns dabeihaben, wenn du mit ihr redest? Das machen wir gern.«

Kopfschüttelnd vergrub er wieder das Gesicht in den Händen. Er wusste nicht, was er wollte. Außer einer Zeitmaschine, mit der er siebenundzwanzig Jahre in die Vergangenheit reisen und seinem achtjährigen Ich sagen konnte, dass es die Pistole in ihrem Versteck lassen sollte.

Doch wie viele Jahre hätte Steve ihn und seine Mutter dann noch versprügelt? So lange, bis einer von ihnen nicht mehr aufgewacht wäre? Bis er seine gesamte Familie im Rausch ermordet hätte?

Sein Handy in der Manteltasche piepte.

Er wusste sofort, dass es Lauren war.

Vermutlich war sie aufgewacht, um Ike zu stillen, und hatte sein Verschwinden bemerkt.

»Willst du nicht drangehen?«, fragte Mel mit sanftem, aber ernstem Blick.

Mit einem Schlucken zog er das Telefon aus der Tasche und drückte den grünen Hörer. »Hi«, krächzte er.

»Ich bin aufgewacht, weil Ike Hunger hatte, und du warst einfach weg. Ist alles in Ordnung?« Sie klang müde, doch die Sorge in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

»Ich habe nur …« Er konnte es ihr nicht am Telefon sagen. Das wäre unfair. »Ich habe nur wieder Albträume bekommen und wollte dich nicht wecken. Deswegen dachte ich, es wäre besser, wenn ich gehe. Tut mir leid, dass ich dir nicht Bescheid gesagt habe. Ich wollte dich schlafen lassen. Dein Schlaf ist so wichtig.«

»Mag sein, aber ich habe mir Sorgen gemacht.«

Mit Nicken und grimmigem Lächeln spornten ihn seine beiden Freundinnen an, weiterzureden. »Tut mir leid. Ich wollte dir keine Angst machen. Es geht mir gut.«

»Du kannst immer mit mir reden, weißt du? Ich bin ziemlich unvoreingenommen, und man hat mir schon öfter gesagt, dass ich eine gute Zuhörerin bin, wenn ich mal die Klappe halte.« Ihr kehliges Lachen klang genauso gezwungen wie sein eigenes.

»Ich weiß. Ich bin … einfach noch nicht so weit.«

»Okay.« Ihre Worte klangen weit weg. »Wann sehe ich dich denn wieder?«

Wenn ich es über mich bringe, dir wieder unter die Augen zu treten. »Ich arbeite morgen den ganzen Tag.«

»Und danach bin ich beim Weinabend. Sonntag?«

Das gab ihm etwas mehr als vierundzwanzig Stunden, um sich zu sammeln und einen Weg zu finden, wie er ihr, sagen konnte, dass er ihren Vater ermordet hatte.

»Bist du noch da?«

Er räusperte sich und trank schnell einen Schluck seines lauwarmen Tees. »Ja, sorry. Ähm, Sonntag klingt gut. Ich meld mich bei dir.«

»Oder komm einfach vorbei, wenn es dir passt. Du hast schließlich einen Schlüssel.«

»Richtig, der Schlüssel. Klar.«

»Penny kann bis Sonntag hierbleiben, wenn dir das hilft. Sabrina fragt sowieso ständig, wann sie mal wieder auf sie aufpassen darf.«

Oje, Penny. Was für ein miserabler Katzenvater er doch war. Er hatte vollkommen vergessen, dass er sie bei Lauren gelassen hatte. War sie dort vielleicht besser aufgehoben als bei ihm?

»Sie kann sich gern jederzeit um Penny kümmern«, sagte er.

Mel gab ihm ein Zeichen, und Sid formte mit den Lippen stumm die Worte »Komm zum Schluss«. Er musste auflegen, bevor er doch noch mit der grausamen Wahrheit herausplatzte und alles für immer ruinierte.

»Dann lasse ich dich jetzt mal schlafen«, sagte sie, wie von ganz weit weg. »Pass auf dich auf, ja? Ich mache mir Sorgen um dich.«

»Dafür gibt es keinen Grund, Babe«, sagte er und wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel, bevor sie über seine Wange laufen konnte. »Ich brauche nur ein bisschen Zeit, um meine Gedanken zu sortieren, das ist alles.«

»Okay.« Sie klang nicht überzeugt.

»Gib Ike und Penny einen Kuss von mir, wir sehen uns am Sonntag.«

»Okay, bis Sonntag.«

Er holte tief Luft. »Ich liebe dich.«

Sie seufzte. »Ich liebe dich auch, Isaac.«

Nachdem er aufgelegt hatte, sah er seine Freundinnen an. Ihre Mienen zeigten genau das, was in ihm vorging: absolute Ratlosigkeit.

Lauren und er waren noch nicht lange zusammen. War ihre Beziehung stark genug, um das zu überstehen? Konnte sie ihm vergeben und Verständnis dafür aufbringen, dass er damals ein Kind gewesen war, Angst davor gehabt hatte, seine Mutter und Schwester zu verlieren, wütend auf seinen Vater und die Polizisten gewesen war, die gedroht hatten, seine Familie auseinanderzureißen?

Würde sie verstehen, dass er jeden Tag an ihren Vater dachte, und das auch weiterhin tun würde, bis zu seinem eigenen Tod? Dass das sein Fluch war?

»Ich mache dir das Bett im Gästezimmer zurecht«, sagte Sid, ohne sich die Mühe zu machen, ihn vorher zu fragen, ob er bleiben wollte, und ging in Richtung Treppe.

Mel musterte ihn. »Du denkst über dein eigenes Schicksal nach. Was, wenn du ihren Vater nicht getötet hättest? Wie viel länger hätte deine Familie dann noch den Zorn deines Vaters ertragen müssen? Wer von euch hätte sterben müssen, bis er endlich zur Rechenschaft gezogen worden wäre?«

Eine Träne tropfte auf den Küchentresen, als er nickte. Er hob den Kopf. »Macht mich das zu einem schlechten Menschen?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Das macht dich einfach nur menschlich. Sogar Polizisten haben den Instinkt, sich selbst zuerst zu schützen. Zumindest bis man Kinder hat, wurde mir gesagt. Dann richtet sich dieser Instinkt auf die Kinder. Aber du hast dich selbst, deine Schwester und deine Mutter beschützt. Du hast sie davor schon jahrelang vor deinem Vater beschützt – der Person, deren Job es eigentlich war, euch zu beschützen.«

Ja, das stimmte. Er erinnerte sich noch an das erste Mal, als er sich vor seine Mutter gestellt hatte. Er war fünfeinhalb gewesen, aber schon groß für sein Alter. Äußerlich kam er ganz nach seinem Vater. Mit einem Jahr sah er aus wie ein Dreijähriger, mit drei wie ein Fünfjähriger, mit fünf wie ein Achtjähriger, und mit acht Jahren hätte er als elf durchgehen können.

Er hatte die schlaksige Teenagerphase einfach übersprungen, war von einem pickligen, etwas breiten Jungen gleich zu einem hochgewachsenen jungen Mann mit breiten Schultern und jeder Menge Muskeln geworden.

Natalie hingegen kam nach ihrer Mutter. Auch heute mit zweiunddreißig war sie noch zierlich und schmal. Sie hätte die Schläge und Tritte ihres Vaters nicht lange überlebt.

Hätte er seine kleine Schwester in einem Wutanfall ihres Vaters verloren, wenn Steve in jener Nacht nicht verhaftet worden wäre? Isaac hätte nicht immer da sein können. Wäre er eines Tages nach Hause gekommen und hätte seine Familie tot vorgefunden, weil seine Mutter vergessen hatte, die Küche zu putzen oder Steve sein Lieblingsbier zu besorgen?

Er schauderte beim Gedanken daran, was alles hätte passieren können.

»Es ist nicht deine Schuld, Isaac.« Mels Stimme riss ihn aus seinen Gedanken. Ihr neuer blonder Bob war auf einer Seite ganz platt gelegen, und eine Kissenfalte zog sich über ihre Wange. »Daran musst du dich immer wieder erinnern. Es. War. Nicht. Deine. Schuld.«

Sein Therapeut sagte das auch in jeder ihrer Sitzungen. Seine Mutter weigerte sich, über den Vorfall zu sprechen, aber mit Natalie redete er ab und zu darüber, auch wenn ihre Erinnerung noch bruchstückhafter war als seine. Auch sie sagte jedes Mal, dass es nicht seine Schuld war.

Und ganz tief drin wusste er das selbst.

Das hielt die Albträume jedoch nicht fern.

Es vertrieb die Schuldgefühle nicht, die ihm folgten wie ein Luftballon, der an seinen Gürtel gebunden war.

Es machte die Tatsache, dass er einen Polizisten – Laurens Vater – getötet hatte, nicht weniger wahr.

Sid kam die Treppe wieder herunter und strich ihrer Frau über den Kopf. »Das Gästezimmer ist fertig.«

Er schenkte ihr zum Dank ein schiefes Lächeln.

»Vielleicht solltest du einen Notfallanruf bei deinem Therapeuten machen«, schlug Mel vor. »Vielleicht kann er dich morgen reinschieben. Nimm dir den Tag frei. Ich glaube, du solltest ohnehin nicht arbeiten, solange dir das alles im Kopf rumgeht. Das lenkt dich nur ab.«

Damit hatte sie vermutlich recht.

Ein abgelenkter Cop war ein toter Cop.

Das wussten sie alle.

»Ich habe auch frische Handtücher ins Gästebad gelegt, falls du duschen willst«, sagte Sid. »Vielleicht hilft das, den Kopf ein bisschen frei zu bekommen.«

Er nickte, hörte ihr aber gar nicht wirklich zu.

»Lasst uns ins Bett gehen.« Mel erhob sich. »Gib Bescheid, wenn du irgendetwas brauchst. Wir haben morgen beide die Nachtschicht, sind also den ganzen Tag hier.«

Er nickte wieder, bedankte sich für den Tee und das Gästebett, hob dabei aber nicht den Kopf und blieb einfach sitzen.

»Mach das Licht aus, wenn du fertig bist«, sagte Sid sanft.

Er nickte wieder, stumm in seine leere Tasse starrend. Ein paar lose Teeblätter klebten noch am Boden.

Gab es nicht diese altasiatische Praxis, bei der aus Teeblättern geweissagt wurde?

Zeigten die Blätter die Zukunft? Oder erklärten sie die Vergangenheit?

Was verrieten die Blätter in seiner Tasse wohl über ihn?

War er verdammt? War seine Beziehung, seine Zukunft mit Lauren zum Scheitern verteilt? Alles wegen einer Nacht vor siebenundzwanzig Jahren? Würde seine Vergangenheit auf ewig seine Zukunft heimsuchen? Seine Hoffnungen und Träume auf ein Leben und eine Familie mit Lauren und Ike zerstören, bevor sie wahr werden konnten?

Mit einem Knurren schob er seine Tasse von sich und griff nach dem Telefon.

Mel und Sid hatten ihm wirklich geholfen. Sie waren zwei seiner besten Freunde, aber sie waren noch nicht so lange im Dienst wie er. Keine von beiden hatte einen Menschen sterben sehen – noch nicht –, und sie hatten keine Vorstellung, was in seinem Kopf vorging. Wo seine Gedanken hinführten und wie düster sie werden konnten.

Doch er kannte ein paar Jungs, die wussten, wie das war.

Er kannte ein paar Männer, die nicht nur beim Militär gewesen waren, sondern die wirklich harte Sachen getan hatten, unmögliche Sachen, zu denen nicht jeder Soldat in der Lage war.

Genau wie er wussten sie, wie man diese Dinge von allem anderen trennte. Wie sie ihr Leben führen konnten, mit ihren Frauen und Kindern zusammen sein konnten, ohne sich ständig von den Erinnerungen an das, was sie getan hatten, beeinflussen und erdrücken zu lassen.

Er tippte eine Nachricht an Aaron und Colton.

Die beiden hatten ihren Frauen viel von dem, was sie im Krieg getan und erlebt hatten, erzählt. Sie sagten, das machte es ihnen leichter, auf Abstand zu gehen, wenn es nötig war. Ihre Frauen wussten, wann sie ihnen Freiraum geben mussten, wann es besser war, sie an ihrem dunklen Ort in Ruhe zu lassen. Aber sie wussten auch, wann und wie sie ihre Männer wieder ins Licht holen konnten, bevor der Abgrund sie verschlang.

Vielleicht, nur vielleicht konnten sie Isaac dabei helfen, einen Weg zu finden, Lauren die Wahrheit zu sagen. Allerdings bezweifelte er, dass es eine wirklich gute Möglichkeit gab, der Frau, die man liebte, zu sagen, dass die eigene Familie im Alleingang für das Unglück ihrer Familie verantwortlich war.