Um 16:58 Uhr parkte Isaac seinen Truck in Laurens Einfahrt. Er hatte sich noch eine zweite Runde mit dem Boxsack in Aarons Garage geliefert, bevor er nach Hause gefahren war. Seine Freunde hatten ihm noch ein paar gute Ratschläge mitgegeben, wie er Lauren alles erklären konnte, die Jungs sprachen immerhin aus Erfahrung. Danach war er heimgefahren, hatte geduscht, seinen ganzen Mut zusammengekratzt und sich dann direkt auf den Weg zu Lauren gemacht.
Das Licht im Wohnzimmer brannte, und auch wenn er einen Schlüssel hatte, fühlte es sich nicht richtig an, einfach einzutreten, ohne zu klopfen, bevor sie nicht die ganze Wahrheit kannte.
Er wusste nicht, ob Ike wach war oder nicht, also klopfte er leise und wartete. Er klopfte wieder, etwas kräftiger diesmal, und Augenblicke später erschien ihre Gestalt hinter der Scheibe in der Tür.
Als sie die Tür öffnete, las er in ihrem Gesicht gleich mehrere Emotionen zugleich: Überraschung, Entschlossenheit und fast so etwas wie Ärger. »Du hast doch einen Schlüssel. Wieso benutzt du ihn nicht?«
»Ich, ähm …« Er trat ins Haus. »Tut mir leid.«
»Ich habe Ike gerade wieder hingelegt. Vorhin hat er nicht lange geschlafen. Seit ich vom Arzt zurück bin, ist er ziemlich unruhig.«
Richtig, der Arzttermin. Sie hatte sich heute eine Spirale einsetzen lassen.
Weil sie ihn liebte, ihm vertraute und zu hundert Prozent hinter ihrer Beziehung stand.
Als er seinen Mantel aufhängte, kam Penny in den Flur getapst und strich ihm maunzend um die Beine. Er hob sie hoch. »Hey, Penelope. Wie geht’s meinem Mädchen? Hast du mich vermisst?«
»Ich glaube schon«, sagte Lauren, die schon in Richtung Wohnzimmer ging.
Er folgte ihr mit dem Katzenbaby auf dem Arm.
»Sie hat sich heute immer in der Nähe der Haustür aufgehalten. Ich glaube, sie hat auf dich gewartet.«
Sein Blick hing an Lauren, als sie sich aufs Sofa setzte und die Hände im Schoß verschränkte. Sie hielt den Kopf gesenkt, die Unterlippe zwischen den Zähnen.
Nachdem er Penny wieder auf den Boden gesetzt hatte, setzte er sich Lauren gegenüber und nahm ihre Hände.
»Ich muss dir etwas sagen«, begann er.
»Ich muss dir auch etwas sagen.« Sie hob den Kopf. Das Blau ihrer Augen schien dunkler denn je, doch es waren die winzigen geplatzten Äderchen darin und die verquollene Haut unter ihren Augen, die ihm verrieten, dass sie geweint hatte.
Wieso hatte sie geweint?
Seinetwegen?
Er drückte ihre Hand. »Du zuerst.« Sie hatte ihn hergebeten, um ihm etwas zu sagen. Also sollte er ihr den Vortritt lassen. Seine Bombe noch ein wenig hinauszögern.
Sie schüttelte den Kopf. »Nein, du. Ich kann warten.«
Das konnte er auch.
»Ich mache mir Sorgen um dich, Isaac. Sorgen um uns. Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber meine Gefühle für dich sind echt. Sag mir, dass zwischen uns alles in Ordnung ist. Dass wir funktionieren und du mich nicht wieder mitten in der Nacht allein lässt. Uns allein lässt.«
Ihr Kinn bebte. »Sag es mir einfach.«
»Ich weiß, wer deinen Vater erschossen hat.« Die Worte brachen aus ihm hervor.
Mist. So hatte er das nicht geplant.
Sie zog ihre Hände aus seinen, wich zurück, brachte Abstand zwischen sich und ihn. »Was? Woher?«
Er stieß langsam die Luft aus. »Es war ein achtjähriger Junge.«
Sie schüttelte den Kopf. »Was? Nein. Das stimmt nicht. Das ergibt keinen Sinn.«
»Dein Dad wurde zu einem Fall von häuslicher Gewalt gerufen, richtig?«
Sie nickte mit wildem Blick.
»Es gab dort einen kleinen Jungen. Er hatte Angst. Angst um seine Mutter. Um seine Schwester. Er wusste, wo sein Dad seine Pistole versteckt hatte …«
Sie schüttelte immer noch den Kopf. »Woher weißt du das? Woher, Isaac? Wieso erzählst du mir das?«
»Weil … weil ich in Quaint gelebt habe. Am zwölften Oktober hätte mein Vater beinahe meine Mutter umgebracht. Er war betrunken, wütend und gewalttätig.«
Lauren begann am ganzen Körper zu zittern. Sie stand auf, trat um den Couchtisch herum und lief im Wohnzimmer auf und ab, schüttelte immer wieder den Kopf, rang die Hände.
»Gegen zehn Uhr hat einer unserer Nachbarn die Polizei gerufen. Ich war nicht in der Küche, als sie gekommen sind, aber ich war noch wach und habe im Flur gelauscht.«
»Aber …«
»Mein Vater war der Anführer der True Destroyers. Genau wie sein Vater vor ihm.«
Ihre Augen wurden riesig. Sie blieb stehen und starrte ihn an, sämtliche Farbe war aus ihrem Gesicht gewichen.
»Mein Vater hatte eine Waffe – mehrere, um genau zu sein. Die True Destroyers haben mit Waffen gehandelt. Haben die ganze rechtsextreme Szene der Gegend versorgt. Ich war durcheinander. Ich hatte Angst. Ich war wütend. Wütend auf die Polizisten, weil sie nicht schon früher etwas gegen meinen Vater unternommen haben. Wütend auf meinen Vater, weil er meiner Mom wehgetan hat. Mir wehgetan hat. Weil er versucht hat, unsere Familie zu zerstören. Ich habe seine Pistole genommen und …«
»Hast meinen Dad erschossen.« Sie sank in den Sessel, das Gesicht völlig ausdruckslos, die Hände schlaff an ihren Seiten.
»Ich war acht. Ich hatte Angst. Ich war wütend. Ich kann mich nicht daran erinnern, was genau passiert ist. Ich weiß nur noch, dass ich seine Pistole aus dem Nachttisch geholt habe und damit in die Küche gelaufen bin, aber danach erinnere ich mich erst wieder an das Schreien und Weinen meiner Mom und meiner Schwester. Einer der Polizisten lag auf unserem Küchenboden, mit einer großen Blutlache unter dem Kopf. Mein Vater war in Handschellen und wurde von dem anderen Cop festgehalten. Ein paar Nachbarn waren auch in der Küche und haben versucht, den Mann auf dem Boden wiederzubeleben.«
»Du meinst meinen Vater. Sie haben versucht, meinen Vater wiederzubeleben. Weil du ihn erschossen hast.«
Er schluckte schwer und senkte den Blick auf seine Hände. »Ja. Ich glaube schon.«
»Wann ist dir das alles klar geworden?« Aus dem Augenwinkel sah er, wie sie wieder aufstand und auf und ab zu gehen begann.
»Gestern Abend. Als wir uns unterhalten haben und du die True Destroyers und Quaint erwähnt hast. Dann hast du auch noch gesagt, dass dein Vater am zwölften Oktober gestorben ist. Du hast mir erzählt, wie dein Vater, Großvater und Onkel gestorben sind, und ich habe die einzige mögliche Schlussfolgerung gezogen.«
»Du willst mir also sagen, dass du meinen Dad getötet hast. Dein Großvater hat meinen Großvater ermordet? Und … wer hat den Mann meiner Cousine umgebracht? Hast du einen Onkel, der auch gern Cops erledigt?«
Ihr Zorn war gerechtfertigt. Ihr Schmerz spürbar. Er konnte ihn in der Luft um sie herum wahrnehmen wie einen erdrückenden Nebel. Sie war verletzt und verwirrt, am Boden zerstört. Doch das änderte nichts daran, wie sehr ihre Worte schmerzten. Es verhinderte die tiefen Risse in seinem Herzen nicht, als er ihren Blick sah.
»Ich weiß nicht mit Sicherheit, wer den Mann deiner Cousine getötet hat, aber zeitlich würde es passen. Mein Dad war zu dem Zeitpunkt im Gefängnis, und die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass er einen Undercover-Cop schnell aufgespürt und aus dem Weg geräumt hätte – oder jemanden beauftragt hätte, das für ihn zu tun. Er hatte immer schon einen sechsten Sinn dafür, Polizisten zu erkennen.«
Sie schnaubte. »Und dann hast du beschlossen, selbst Polizist zu werden, um zu beweisen, dass du besser bist als er?«
Er hob den Kopf und wählte seine nächsten Worte mit Bedacht. »Ich bin besser als er. Ich habe nichts mit meinem Vater gemein.«
Ihr Kinn war angespannt, unter ihrem Ohr zuckte immer wieder ein kleiner Muskel. Der Blick, mit dem sie ihn anstarrte, hätte Stahl schmelzen können. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen, Isaac.«
Er hatte damit gerechnet, dass sie ihn rausschmeißen würde, trotzdem brach es ihm das Herz, als sie es nun tatsächlich tat. Trotz allem überraschte es ihn.
Vielleicht hatte er unterbewusst darauf gehofft, dass sie ihn nicht als Mörder sehen würde. Als den Mann, der ihren Vater getötet hatte, sondern als den Mann, der ihr geholfen hatte, ihren Sohn zur Welt zu bringen, der sie und ihren kleinen Jungen liebte wie noch niemanden zuvor.
Tränen brannten in seinen Augen, als er nickte und sich erhob. »Es tut mir so leid, Lauren. Ich konnte das nicht vor dir verbergen, aber es war nie meine Absicht, irgendjemandem wehzutun. Ich war ein Kind. Bitte versteh das. Ich hatte Angst.«
Beim Anblick ihrer tränennassen Wangen und ihrer geröteten Augen stieg Hitze in seinem Magen auf, und seine Innereien verknoteten sich, als hätte ihm jemand einen glühenden Eisenstab in den Bauch gerammt und würde damit seine Gedärme aufwickelt.
»Ich war auch ein Kind. Du hast so vielen Leuten wehgetan, Isaac, hast viele Familien zerstört.« Sie stieß ein gezwungenes Lachen aus. »Aber was soll man auch anderes von einem Sohn der True Destroyers erwarten? Es liegt dir eben im Blut.«
Das war nicht fair. Wut kochte in ihm hoch. »Ja, Steves Blut fließt durch meine Adern, aber ich habe trotzdem nichts mit diesem Mann gemeinsam.«
Sie schwieg, doch der brennende Schmerz in ihren Augen sagte genug.
Er konnte das nicht einfach so hinnehmen. Er konnte nicht gehen, solange sie glaubte, er sei wie sein Vater, sein Großvater – ein Mörder.
»Würde es dir gefallen, wenn Ike sein Leben lang mit seinem Vater verglichen würde? Es geht nicht nur ums Blut. Meine Mutter hat einen guten Mann großgezogen. Ich bin nicht perfekt, aber ich bin kein schlechter Mensch.«
»Lass meinen Sohn da raus«, flüsterte sie, kochend vor Wut.
Sein Kinn bebte, und er musste die Zähne zusammenbeißen, um sich unter Kontrolle zu halten. Mit einem knappen Nicken ging er zur Tür, sammelte auf dem Weg noch Penny ein. »Ich hole nur noch ihre Sachen, dann lasse ich dich allein.«
Sie stand im Wohnzimmer, die Hände in die Hüfte gestemmt, und beobachtete jede seiner Bewegungen, während er Pennys Spielsachen, ihren Napf und ihr Körbchen zusammensuchte und in ihre Tasche packte.
Sie hatte sich immer noch nicht gerührt, als er in der Tür zum Flur stehen blieb und zu ihr zurücksah. »Ich liebe dich, Lauren. Dich und Ike. Ich weiß, das zwischen uns hat sich alles sehr schnell entwickelt. Ich weiß, ich habe auf mehr als Freundschaft gedrängt. Aber du bist nicht verflucht, so wie du dachtest.«
»Nein, deine Familie bringt einfach nur gern meine Familie um.« Sie schloss die Augen und ließ den Kopf hängen, sodass er nur noch ihren Scheitel sehen konnte – blonde Strähnen in einem unordentlichen Dutt, der sich schon halb aufgelöst hatte. Sie war die schönste Frau, die er jemals gesehen hatte, und er hatte sie mehr verletzt als irgendjemand sonst.
Er straffte die Schultern und atmete tief durch. Sie legte es darauf an, ihn zu verletzen. Versuchte, ihn zu vertreiben, damit es einfacher war, Schluss zu machen.
Doch das würde er nicht zulassen. Er wollte um sie und Ike kämpfen. Um das, was sie hatten. Um das, was sie sein konnten.
»Wir waren gut zusammen. Nein. Großartig. Wir waren großartig zusammen. Ich bin ein guter Mensch, ein guter Polizist, und ich muss jeden Tag mit dem leben, was ich getan habe, für immer und ewig. Das ist meine Strafe.« Er war an jenem Tag kein Monster gewesen. Er war nur in eine schlimme Situation geraten. Zumindest versicherte sein Therapeut ihm das bei jeder Gelegenheit. Er war nicht böse, er konnte nichts für die Umstände. Sein Vater war böse. Aber Isaac war kein böses Kind gewesen, und jetzt war er kein schlechter Mann.
Ihr höhnisches Lachen brachte ihn dazu, sich mit einer Hand an der Wand abzustützen, sich für einen erneuten Angriff zu wappnen. Doch als sie den Kopf hob, stand nichts als Schmerz in ihrem Blick. Sie weinte wieder. Ihre Mundwinkel waren weit heruntergezogen, ihre Augen voller Tränen. »Und herauszufinden, dass du meinen Vater ermordet hast, ist meine Strafe dafür, dass ich mich in einen Cop verliebt habe, obwohl ich das Gegenteil versprochen hatte.«
Sein Herz brach wie eine Porzellanvase unter einem Vorschlaghammer. Scharfe Bruchstücke bohrten sich in seine Lunge und verhinderten, dass er Luft bekam. Er musste sich schwer gegen die Wand lehnen, als der Schmerz beinahe unerträglich wurde.
Er musste hier weg, bevor sie ihn umbrachte. Bevor ihre Worte und der Schmerz in ihren Augen ihm die letzten Reste seines schlagenden Herzens aus der Brust rissen.
Er griff Pennys Tasche fester, bevor er Lauren ein letztes Mal ansah. »Wir sind noch nicht fertig. Wir sind füreinander bestimmt, Lauren. Ich werde dir Zeit geben, aber ich verlasse dich nicht. Ich würde niemals jemanden verlassen, der mein Schicksal ist. Ich werde um dich kämpfen, um uns kämpfen.«
Er ging um die Ecke, nahm seinen Mantel von der Garderobe und öffnete die Haustür, dann drehte er sich noch einmal um, in der Hoffnung, sie im Flur stehen zu sehen.
Doch sie war nicht da.
»Ich liebe dich«, rief er ins Haus hinein, bevor er die Tür hinter sich zuzog.
Er setzte Penny in seinen Pick-up und kletterte hinters Lenkrad, die Augen starr aufs Wohnzimmerfenster gerichtet. Dort stand sie, den Vorhang in der Hand, und beobachtete ihn.
Da wurde es ihm plötzlich bewusst – sie hatte ihm ihre Neuigkeit nicht erzählt, das, weswegen sie ihn überhaupt hergebeten hatte.
Sollte er wieder reingehen und darauf bestehen, dass sie es ihm sagte?
Der Vorhang fiel zurück vors Fenster, und er hielt den Atem an. Lief sie jetzt durchs Haus und würde gleich die Tür aufreißen, um ihn davon abzuhalten, zu gehen?
Nein, das tat sie nicht.
Er startete den Motor, ließ den Truck kurz warm laufen, bevor er aus ihrer Einfahrt auf die Straße bog, mit jeder Zelle seines Körpers darauf hoffend, dass dies nicht das Ende war. Dass er Lauren heute nicht zum letzten Mal gesehen hatte. Dass sie über diese ganze Sache hinwegkommen und noch eine gemeinsame Zukunft haben konnten.
Wunschträume?
Möglich.
Aber im Moment waren diese Träume alles, was er hatte.
Auf dem Beifahrersitz maunzte Penny leise, und er kraulte ihr den Kopf.
Wunschträume und ein Katzenbaby. Das war alles, was ihm geblieben war.
Wenigstens etwas.
Später am Abend saß Lauren mit dem Gesicht in den Händen auf Biancas Couch und weinte immer noch. Sie hatte kaum aufgehört zu weinen, seit sie vom Arzt zurückgekommen war, hatte den Wasserhahn einfach nicht mehr abstellen können. Und nachdem der Mann, den sie liebte, diese Atombombe gezündet hatte, war es nur noch schlimmer geworden.
Sie dachte, dass sie eigentlich längst sämtliche Flüssigkeit in ihrem Körper aufgebraucht haben müsste und nur noch Staub weinen sollte.
Doch die Tränen fielen noch immer in großen, heißen Tropfen.
Ihre Freundinnen saßen links und rechts neben ihr, hatten die Arme um sie gelegt, streichelten ihr den Rücken und murmelten leise Worte des Trosts, von denen sie jedoch nicht viel mitbekam.
Sie spürte, wie ihr jemand ein Taschentuch in die Hand drückte, und als sie den Kopf hob, sah sie in Biancas Gesicht, das voller Mitgefühl stand.
»Danke«, sagte sie schniefend, tupfte sich die Augen ab und putzte ihre Nase.
Bianca nickte nur und rieb ihr weiter den Rücken. »Was hat er denn gesagt, als du ihm von der Schwangerschaft erzählt hast?«
Kopfschüttelnd knüllte Lauren das feuchte Taschentuch in ihrer Hand zusammen, grub die Finger in den Saum ihres langen Cardigans.
»Du hast es ihm nicht gesagt?«, fragte Celeste, die Ike auf dem Arm hatte. Er war schon vor zehn Minuten an ihrer Schulter eingeschlafen, doch sie wollte ihn noch nicht wieder hergeben.
»Ich war zu geschockt. Zu verletzt. Zu …«
»Gebrochen«, beendete Bianca den Satz.
Lauren nickte.
»Aber dir ist klar, dass er noch ein Kind war, als das passiert ist?« Celeste nahm vorsichtig einen Schluck Wein.
Ja, das war ihr bewusst. Sie wusste, dass er nur ein paar Jahre älter gewesen war als sie, als es passiert war – fast noch ein Baby.
Aber es war trotzdem passiert.
Ihr Vater war trotzdem tot, und es war Isaac, der ihn getötet hatte.
Bianca nahm Laurens Glas Mineralwasser vom Tisch und reichte es ihr, bevor sie nach ihrem eigenen Weinglas griff. »Seine Familie ist in dieser Nacht auch zerstört worden, weißt du? Sein Dad ist ins Gefängnis gewandert. Seine Mutter war plötzlich alleinerziehend, so wie deine. Sie sind ans andere Ende des Landes gezogen, um neu anzufangen. Ich weiß, dass du das nachvollziehen kannst, weil ihr selbst nach Utah gezogen seid, nachdem dein Dad starb. Es war ein Unfall, Lauren. Ein Unfall, der nie passiert wäre, hätte Isaac einen verantwortungsvolleren Vater gehabt – aber trotzdem ein Unfall.«
Das wusste sie alles.
Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass Isaac ein guter Mann war. Dass sie perfekt zusammenpassten und er damals nur ein verängstigtes Kind gewesen war, das Angst davor hatte, dass seine Familie auseinandergerissen wurde. Aber sie konnte einfach nicht über die Tatsache hinwegsehen, dass ihr Vater wegen ihm tot war. Dass ihre Familie wegen ihm zerrissen worden war.
Schon mit fünf Jahren hatte sie gewusst, dass sie die Dienstwaffen ihres Vaters nicht anfassen durfte. Sie hatte gewusst, dass Waffen gefährlich waren, wenn sie nicht von einem erfahrenen Erwachsenen bedient wurden.
Mit acht Jahren hätte Isaac es besser wissen müssen.
Andererseits war sie von einem guten Mann großgezogen worden. Das konnte Isaac nicht von sich behaupten. Und trotzdem hatte er sich gut entwickelt. Er war zu einem wundervollen Mann geworden, der sie und ihren Sohn liebte, als wäre Ike sein eigen Fleisch und Blut.
»Er muss von der Schwangerschaft erfahren«, sagte Bianca sanft. »Nicht sofort. Ein bisschen kannst du noch warten. Kannst abwarten, ob alles gut geht, aber er hat trotz allem das Recht, von seinem Kind zu erfahren.«
Das wusste sie.
Sie wusste ohne jeden Zweifel, dass Isaac ein unglaublicher Vater sein würde, dass er für sein Kind da sein würde. Und für Ike und sie. Er war für sie da gewesen, als sie ihn – irgendjemanden – am meisten gebraucht hatte, und er war bei ihr geblieben. Hatte darauf gedrängt, mehr zu sein, weil er wusste, dass sie zusammen perfekt waren.
Und das waren sie tatsächlich gewesen.
Für kurze Zeit.
»Ein Teil von mir wünscht sich, er hätte es mir nie erzählt«, sagte sie und nippte an ihrem Wasser. »Dass ich im herrlichen Unwissen leben, sein Kind bekommen und für immer und ewig glücklich mit ihm zusammenleben könnte.«
»Aber das hätte ihn von innen heraus aufgefressen«, sagte Celeste. »Und auf Dauer hätte das eure Beziehung beeinflusst, selbst, wenn er es dir niemals erzählt hätte.«
Lauren nickte. Wären die Rollen vertauscht, hätte sie genauso wenig schweigen können. Ihre Eltern hatten ihr beigebracht, immer ehrlich zu sein, vor allem den Menschen gegenüber, die sie liebte.
Und sie liebte Isaac.
So sehr.
Deswegen tat es ja so schrecklich weh. Als hätte er seine Faust in ihre Brust gerammt und ihr das Herz herausgerissen. Ihre Lunge abgequetscht, sodass jeder Atemzug flach und gequält war.
Sie fühlte sich betrogen, auch wenn er sie nicht betrogen hatte.
Es fühlte sich an, als wäre ihre Familie heute zum zweiten Mal zerstört worden. Doch sie waren keine Familie – noch nicht. Dazu hatten sie noch nicht die Chance bekommen.
»Nimm dir ein paar Tage«, sagte Celeste. »Du musst nicht sofort reagieren, solange alles noch so frisch ist. Ich meine, heute war wirklich der Tag aller Tage in Sachen unerwartete Neuigkeiten. Erst die Schwangerschaft und dann noch die Geschichte mit Isaac.«
»Was für ein absurder Zufall das ist«, sagte Bianca kopfschüttelnd. »Im Ernst. Ich versuche immer noch, das zu begreifen. Dass du und der Cop, der dich im Stau gerettet hat, so eine groteske Verbindung habt. Ich meine, jeder hätte da im Stau neben dir stehen können, aber es war ausgerechnet er.«
»Wenn du mich fragst, wollte das Schicksal, dass ihr euch begegnet«, sagte Celeste leise. »Es war seine Bestimmung, dir mit Ike zu helfen. Nein, nicht nur dir zu helfen, es war ihm bestimmt, dich zu finden, um die Fehler der Vergangenheit wieder gutzumachen. Er hat dir den Vater genommen, aber dafür hat er dir geholfen, deinen Sohn auf die Welt zu bringen. Ein Leben für ein Leben.«
Ein Leben für ein Leben.
Verdammt.
Lauren war sich nicht sicher, ob sie an Schicksal glaubte, aber es war wirklich unfassbar, dass ausgerechnet Isaac ihr in diesem Stau zur Hilfe gekommen war.
»Liebst du ihn denn?«, fragte Celeste. Ike schlief tief und fest an ihrer Schulter, und die leisen Geräusche, die er beim Schnullernuckeln von sich gab, zupften an den letzten Überresten von Laurens gebrochenem Herzen.
Sie holte tief Luft, während sie mit den Fingern gegen ihr Glas trommelte. »Ja, ich liebe ihn. Mehr als ich bisher irgendjemanden geliebt habe. Ich weiß, wie verrückt das ist, weil wir uns erst so kurz kennen, aber …«
»Aber eure Beziehung hat schon intensiv angefangen, als er dir bei der Geburt geholfen hat, dann hat sich eine Freundschaft entwickelt, und dann Liebe«, sagte Bianca. »Das verstehe ich.«
»Das Herz will, was es will«, sagte Celeste. »Ich bin der beste Beweis dafür. Ich habe mich in den Lehrer meiner Tochter verliebt. Nicht ideal, aber wir haben das Beste daraus gemacht.«
Lauren stellte ihr Glas auf den Tisch, um Celeste ihren Sohn abzunehmen. Sie brauchte seine Wärme, wollte seinen Atem an ihrem Nacken spüren, seinen Geruch in der Nase haben und sein Herz an ihrem schlagen fühlen. Ike erdete sie. Nur die Dosis Oxytocin, die ihr Gehirn ausstieß, wann immer sie ihr Baby im Arm hielt, konnte ihr dabei helfen, diesen Tag zu überstehen. Als sie die Nase an seinen Kopf drückte und seinen Duft einatmete, beruhigten sich ihre Nerven, ihr Herz heilte, und ihr Atem ging wieder ruhig und entspannt. Ike war eine Droge wie keine andere.
»Fühlst du dich jetzt besser?«, fragte Bianca mit einem wissenden Lächeln.
Lauren nickte und lehnte die Wange an den Kopf ihres Sohnes, schloss die Augen. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich Isaac momentan gegenübertreten kann. Würde er morgen früh an meine Tür klopfen, würde ich vermutlich schreien und Sachen nach ihm werfen.«
»Und du hast ein Recht auf diese Gefühle«, sagte Celeste. »Für den Moment zumindest. Aber dein Dad ist schon eine ganze Weile tot – seit siebenundzwanzig Jahren. Du bist inzwischen ein anderer Mensch. Isaac ist ein anderer Mensch. Ihr seid einfach zwei Menschen, die gut zusammen sind.«
»Und ihr bekommt ein Baby zusammen«, fügte Bianca hinzu. »Zumindest, wenn du das möchtest, du weißt schon …«
Ja, sie wusste, was ihre Freundin meinte.
Es wäre gelogen, würde sie behaupten, der Gedanke, dieses Baby nicht zu bekommen, wäre ihr nicht schon durch den Kopf gegangen. Vor allem, nachdem Isaac gegangen war. Konnte sie mit dem Mann, der ihren Vater ermordet hatte, ein Kind großziehen – wenn auch nur platonisch? Wollte sie alleinerziehende Mutter gleich zweier Babys sein?
»Nimm dir die nächste Woche Zeit«, sagte Celeste und schenkte sich und Bianca Wein nach, was neue Tränen in Laurens Augen trieb. »Nimm dir eine Woche, um über alles nachzudenken, dich zu beruhigen und die ganze Sache zu verarbeiten. Nächste Woche um diese Zeit sieht vielleicht alles schon ganz anders aus. Vielleicht könntest du auch mit deiner Mom reden?«
Sie schüttelte den Kopf.
Ihre Mutter war ihr keine Hilfe.
Das Thema würde sie nur traurig machen.
Bruce Cameron war Emily Russos große Liebe gewesen. Sein Tod hatte sie beinahe umgebracht, und es hatte viele Jahre gedauert, bis sie die Scherben ihres zerstörten Herzens aufgesammelt und weitergelebt hatte. Mit ihrer Mutter über dieses Thema zu sprechen war selbst nach all den Jahren noch so, als würde man eine Wunde aufreißen. Außerdem war sie nicht sicher, ob ihre Mutter ihr die Worte der Weisheit und den Rat geben konnte, die sie brauchte. Denn sie wollte mit Isaac zusammen sein. Sie wollte ihm vergeben und ein glückliches Leben mit ihm führen.
Doch wenn sie ihrer Mutter die Wahrheit erzählte, würde die Isaac niemals ohne Hass in die Augen sehen können. Und das weckte in Lauren die Sorge, dass dieser Hass sich auf ihr Kind übertragen könnte.
Nein, Emily durfte die Wahrheit niemals erfahren, ganz egal, wie diese Geschichte ausging. Nicht nur, um ihr Herz zu schützen, sondern auch Laurens, Ikes, Isaacs und das des neuen Babys.
Denn auch wenn sie sich sicher war, Isaac im Moment nicht in die Augen sehen zu können, ohne ihn zu schlagen, so wusste Lauren auch, dass sie ihn liebte und sich eine Zukunft mit ihm wünschte.
Sie musste nur herausfinden, ob das überhaupt möglich war, wenn sie gleichzeitig seinen Kopf auf einem Spieß sehen wollte.