Das hier war genau das, was sie brauchte.
Freundinnen. Babys. Schokolade. Ablenkung.
Sie hatte geglaubt zu wissen, was sie brauchte – mit ihrem Sohn und ihren Gedanken allein zu sein –, doch dann waren ihre Freundinnen mit ihren Kindern, Snacks und Verständnis vor ihrer Tür aufgetaucht.
In ihrem stetig wachsenden Freundeskreis verbreiteten sich Neuigkeiten immer schnell. Als Aurora mit Dawson und Lowenna mit Wyatt, Warren und einer Schachtel Pralinen vor ihrer Tür standen, war Lauren also klar gewesen, dass sie Bescheid wussten.
Bianca und Celeste waren ihr gute Freundinnen, allerdings neigten sie dazu, Rat bei ihrer »Familie« zu suchen, und hatten dabei wohl die Katze aus dem Sack gelassen.
Damit hätte sie rechnen sollen.
Sie war nicht sauer, weil die beiden Frauen unangekündigt bei ihr aufgetaucht waren, sie war einfach nur müde.
Sie war es müde, sich so betrogen zu fühlen. So verletzt. So verwirrt.
Denn etwas in ihrem Inneren war zerbrochen. Ihr Herz war in eine Million Teile gesplittert. Es fühlte sich an, als würde ihre Seele in sämtliche Richtungen gezerrt werden, nur nicht zurück in ihren Körper. Und auch wenn die Schwangerschaft noch ganz frisch war, hatte sie schon mit Übelkeit zu kämpfen, fühlte sich erschöpft und so verdammt verloren.
Sie liebte Isaac. Sie liebte es, wie gut er sie behandelte. Wie sehr er ihren Sohn liebte. Dass er den weißen Lattenzaun wollte, das Haus in der Vorstadt und zwei Schaukelstühle auf der Veranda.
Doch die Schlinge um ihren Hals, die dunkle Wolke über ihrem Kopf, dieses schmerzhafte Pochen hinter ihrer Stirn rief ihr immer wieder in Erinnerung, dass ihre Beziehung verflucht war.
Und zwar nicht auf die Art und Weise, von der sie ausgegangen war.
Nicht, weil er ein Cop war und Russo-Frauen die Cops, die sie heirateten, zum Tode verdammten. Nein, es war eine andere Art Fluch. Und sie war sich nicht sicher, ob sie diesen Fluch brechen konnte, erst recht, weil sie nun auch noch mit Isaacs Baby schwanger war.
Sie hatten alle vier Babys im Kreis auf eine Decke in Laurens Wohnzimmer auf den Bauch gelegt. Vier kleine Köpfe wackelten hin und her, acht Beine und acht Arme wedelten durch die Luft.
Warren, einer von Lowennas Zwillingen, wurde als Erster unruhig, und Lowenna nahm ihn hoch, um ihn zu beruhigen. »Wie schläft Ike denn inzwischen?«, fragte sie, während sie Warren auf ihren Knien hüpfen ließ und dabei Grimassen schnitt.
Um Ikes Schlaf machte Lauren sich keine Sorgen. Eher um ihren eigenen. Er wachte dreimal die Nacht auf, weil er Hunger hatte. Immer um dieselbe Zeit, fast auf die Minute genau. Manchmal wachte sie auch auf, weil ihre Brüste schon überliefen, bevor Ike sich regte.
Aber das passierte nur, wenn sie es überhaupt schaffte, einzuschlafen. Denn obwohl sie ständig müde war, schlief sie dieser Tage kaum.
Lauren nippte an ihrem Tee und zwang sich zu einem Lächeln. »Er schläft besser als früher. Er hatte noch einen kurzen Rückfall und dann öfter Blähungen, aber jetzt scheint er seinen Rhythmus gefunden zu haben.«
Aurora überkreuzte die Finger und biss in eine von Lowennas Pralinen, ihre braunen Augen ernst und doch voller Humor. »Bis zur nächsten Phase, richtig? Endlich läuft alles gut, wir haben den Dreh raus und dann – bämm! Sie kommen in eine neue Entwicklungsphase, und wir müssen wieder von vorn anfangen. Ich habe das Gefühl, jedes Mal, wenn ich Dawson endlich verstanden habe, ändert sich alles wieder. So wird’s zumindest nie langweilig.«
Lauren nickte.
Aurora stupste ihrem Baby auf die Nase und lächelte zu ihm hinunter. »Er kann von Glück reden, dass er so süß ist. Und dass seine großen Geschwister eine so große Hilfe sind.«
»Sind Aiden und Tia immer noch verrückt nach ihm?«, fragte Lowenna.
Zak hatte zwei Kinder aus seiner ersten Ehe. Tia war zehn und Aiden zwölf.
Aurora nickte. »Sie lieben ihn abgöttisch. Sie regen sich jedes Mal auf, wenn sie zu ihrer Mutter sollen, und betteln dann, dass sie schon früher wieder zurück zu uns dürfen. Und Dawson liebt sie auch. Die beiden helfen mir wirklich sehr. Sie fehlen mir definitiv, wenn sie bei ihrer Mutter sind.«
»Deine Eltern wohnen aber doch in dem Apartment über eurer Garage, oder?«, fragte Lowenna. »Helfen die nicht auch viel?«
Auroras Miene verriet, dass sie nicht sonderlich begeistert davon war, wie nah ihre Eltern bei ihr wohnten. »Vielleicht sogar ein bisschen zu viel. Meine Mutter ist völlig besessen von Dawson, das kann manchmal etwas erdrückend sein. Einer der Gründe, dass ich jetzt hier bin. Ich brauche dringend mal eine Pause von meiner Mutter, die übrigens auch ihre ganz eigenen Ideen hat. Aber ich will mich nicht beschweren. Ich liebe meine Eltern, und dass sie einmal quer durchs Land gezogen sind, um näher bei mir und meiner Familie zu sein, und wie sehr sie meine Kinder lieben und mir helfen. Aber …« Sie seufzte. »Im Moment ist das alles zu viel. Ich klinge wie eine blöde Ziege, wenn ich das sage, oder?«
Lowenna schüttelte den Kopf. »Überhaupt nicht. Es ist anstrengend, Mutter zu sein, und wenn zu viele unterschiedliche Meinungen auf einen einprasseln, kann das die eigenen Instinkte übertönen, und das ist nicht gut. Er ist dein Baby, also musst du auch nur auf deinen Bauch hören.«
Lauren musste gegen eine plötzliche Welle der Eifersucht ankämpfen, als sie hörte, wie viel Hilfe und Unterstützung Aurora zu Hause hatte. Stiefkinder, Eltern, einen liebevollen Ehemann.
Ihr war klar, dass auch Aurora ihre Probleme hatte und manchmal überwältigt davon war, Mutter eines Neugeborenen zu sein, doch Lauren konnte nichts gegen den Neid tun, der sich wie eine giftige Ranke um ihre Eingeweide schlang. Sie hätte so gern solche Menschen um sich. Menschen, die sie und Ike liebten und ihr helfen wollten.
Menschen wie Isaac.
Ja, sie hatte Celeste und Bianca, aber die hatten ihre eigenen Kinder, um die sie sich kümmern mussten. Sie hatten Jobs und Celeste eine neue Beziehung mit Max. Bianca hatte ihre Eltern und Brüder hier in der Stadt. Sie hatte Familie, auf die sie sich stützen und mit der sie Zeit verbringen konnte.
Doch Lauren hatte niemanden.
Ihre Freundinnen waren zwar für sie da, aber das war nicht dasselbe.
Sie konnten nicht so für sie da sein, wie Isaac es war.
Ein scharfer Schmerz zuckte durch ihren Körper, als sie an ihn dachte, daran, wie schnell und intensiv sich ihre Beziehung entwickelt hatte, nachdem sie der Versuchung einmal nachgegeben hatte – oder, um genau zu sein, nachdem sie sich seiner Entscheidung, dass sie jetzt ein Paar waren, gebeugt hatte.
Ein Lächeln hellte ihre düstere Miene auf, als sie sich daran erinnerte, wie Isaac ihr dabei geholfen hatte, Ike zu baden. Lachend hatten sie zusammen den winzigen Po des Babys abgespült. Isaac hatte sich der Herausforderung ohne zu zögern gestellt. Genau so, wie ein guter, tatkräftiger Vater es tun würde.
Er fehlte ihr so sehr, und obwohl Ike noch ein Baby war, konnte sie sehen, dass auch er Isaac vermisste.
»Alles okay?«, fragte Lowenna. Sie ließ sich mit Warren auf den Boden sinken und legte ihn neben seinem Bruder auf den Rücken. Es waren zweieiige Zwillinge, also war es leicht, sie auseinanderzuhalten. Lowenna richtete ihren Blick besorgt auf Lauren.
Die holte tief durch die Nase Luft und stieß sie wieder aus, bevor sie nickte. »Ich bin nur müde.«
»Und traurig«, fügte Aurora hinzu. »Du vermisst ihn.«
So sehr.
»Hör zu«, begann Lowenna, »wir wissen nicht, was zwischen euch beiden vorgefallen ist. Wir wissen nur, dass du …« Sie warf einen Blick auf Laurens Bauch. »Und dass ihr euch getrennt habt. Wir sind für dich da, wenn du darüber reden willst. Wenn du irgendetwas brauchst.«
Lauren zwang ein Lächeln auf ihr Gesicht und schluckte gegen den harten Klumpen in ihrer Kehle an. Unvergossene Tränen brannten in ihren Augen. »Ich weiß. Und ja, ich vermisse ihn. Aber ich weiß einfach nicht, ob wir …«
KLOPF! KLOPF! KLOPF!
»Lauren, ich weiß, dass du zu Hause bist. Bitte mach auf.«
Bevor Lauren reagieren konnte, begann Lowennas Telefon auf dem Couchtisch zu vibrieren.
»Oh, verdammt«, sagte sie, als sie auf das Display sah. »Das ist eine Nachricht von Mason. Er sagt, Colton hat sich verplappert, und Isaac weiß von der Schwangerschaft.«
Mist.
»Mann, Mercedes ist wirklich so eine Tratschtante«, murmelte Aurora.
Waren sie das nicht alle?
»Ich weiß von dem Baby, Lauren. Wir müssen reden.«
Doppelter Mist.
Sie stemmte sich vom Sofa hoch und warf ihren Freundinnen noch einen Blick zu, bevor sie um die Ecke und in den Flur ging.
»Du kannst das«, rief Aurora ihr nach. »Wir geben dir Rückendeckung.«
Um ihren Rücken machte sie sich keine Sorgen. Sondern um ihr Herz. Denn der Mann auf der anderen Seite der Tür hielt dessen Bruchstücke in seiner Hand.
Der kleine Rest, der noch in ihrer Brust verblieben war, begann heftig zu pochen, ihr Atem wurde flach. Gleich würde sie Isaac nach zwei Wochen das erste Mal wiedersehen. Nachdem sie ihn rausgeworfen hatte. Nachdem sie all diese Dinge zu ihm gesagt hatte.
Und ihre Worte hatten ihn wirklich verletzt. Das war ihr bewusst. Sie war wütend gewesen. Hatte unter Schock gestanden. Und diese Emotionen waren in Form scharfer Worte und Beschuldigungen aus ihr hervorgebrochen.
Sie holte tief Luft und hielt den Atem an, dann öffnete sie die Tür. Mit einem hörbaren Wusch stieß sie die Luft wieder aus, als sie ihn vor sich stehen sah, auf den ersten Blick erkannte, wie mitgenommen er war.
Sein Gesicht spiegelte ihre eigenen Gefühle wider. Ihre eigene unglückliche, melancholische, gebrochene Seele.
Ohne ihn war sie verloren, und doch fand sie keinen Weg zurück zu ihm, obwohl er direkt vor ihr stand.
Es regnete und stürmte. Wie passend. Düster und trist, wie in ihrem Inneren.
Trotzdem freute sie sich, ihn zu sehen. Da war ein Kribbeln in ihrer Brust, als er den Blick hob und sie ansah, eine Wärme, die Hoffnung in ihr weckte, dass sie diese Sache vielleicht doch überstehen und den weißen Lattenzaun in der Vorstadt doch noch haben konnten.
»Ist jemand bei dir?«, fragte er mit einem kurzen Blick zu den zwei zusätzlichen Fahrzeugen in ihrer Auffahrt.
»Aurora mit Dawson und Lowenna mit den Zwillingen.« Sie war dankbar, dass die Eingangstür vom Wohnzimmer aus nicht einsehbar war, so konnten die beiden Frauen sie möglicherweise hören, aber nicht beobachten.
Sie brauchten mehr Privatsphäre.
Entschlossen trat Lauren nach draußen und zog die Tür hinter sich zu, sodass sie allein auf der Veranda waren.
»Ich weiß von der Schwangerschaft«, sagte er, gegen den Regen anblinzelnd. Das schmale Dach über ihrer Tür half nicht viel, denn der Wind trieb die Tropfen einfach darunter.
Langsam nickte sie. »Das war es, was ich dir an diesem Tag sagen wollte, aber …«
»Ich habe meine Bombe zuerst platzen lassen.«
»Und die hat mich meine Bombe vergessen lassen.« Eine heftige Böe brachte sie dazu, die Arme um ihren Oberkörper zu schlingen.
Ohne zu zögern, schlüpfte Isaac aus seinem Wintermantel und legte ihn ihr um die Schultern. Dann trat er wieder zurück und schob die Hände in seine Hosentaschen. Seine Lippen waren zu einer schmalen Linie zusammengepresst. »Wie weit bist du schon?«
Mit einem Schlucken zog sie den Reißverschluss seiner Jacke hoch und bedankte sich bei ihm, genoss die Wärme und seinen Duft.
»Wie weit, Lauren?«, bohrte er nach, ließ nicht zu, dass sie seiner Frage auswich.
»Ungefähr fünf Wochen.«
Seine saphirblauen Augen wurden groß. Er stieß die Luft aus und fuhr sich mit seinen langen Fingern durchs feuchte Haar. »Fünf Wochen. Also …«
»In der Dusche.«
Das war das einzige Mal gewesen, dass sie kein Kondom benutzt hatten. Es war die einzige Möglichkeit, die sie sich vorstellen konnte.
Anscheinend hatte dieser Mann extrem entschlossene Schwimmer, und sie musste mit Eiern um sich werfen wie der Osterhase mit einem zu vollen Körbchen. Tolle Kombi.
Er verstand, und seine Miene wurde ernst. »Scheiße.«
Mit einem Kopfschütteln sah sie zu ihm auf, während ein Wirbelsturm der Angst in ihr tobte. »Ich schaffe das allein. Ich brauche nichts …«
»Ich verlasse dich nicht.« Ärger trat in seine Stimme. Er deutete auf ihren Bauch. »Das ist mein Kind. Ich verlasse euch nicht. Auch wenn du nichts mehr mit mir zu tun haben willst, mein Kind verlasse ich nicht. Weder das eine noch das andere. Und dich auch nicht.«
Weder das eine noch das andere.
Er meinte Ike.
Ich verlasse dich nicht.
Genau deswegen liebte sie diesen Mann so sehr, dass es wehtat. Weil er ein guter Mann war. Ein ehrlicher Mann. Ein Mann, der um sie kämpfte, um ihre Beziehung und ihr Kind. Um ein Kind, das sie von einem anderen Mann bekommen hatte, ein Kind, das er liebte wie sein eigen Fleisch und Blut.
»Ich würde dich nie von deinem Baby fernhalten«, sagte sie leise.
»Und was ist mit Ike? Würdest du mich von ihm fernhalten?« Seine Kiefermuskulatur war angespannt, die Nasenflügel gebläht.
Sie schloss die Augen. »Nein.«
»Und was ist mit dir? Wirst du mich von dir fernhalten?«
»Isaac …«
»Ich habe dir Zeit gegeben, Lauren. Zeit, um dich zu beruhigen. Um zu verarbeiten, was ich dir erzählt habe. Aber ich habe dir auch jeden Tag geschrieben, damit du weißt, dass ich nicht einfach verschwinde. Ich werde für unsere Beziehung kämpfen, bis du mir sagst, dass ich damit aufhören soll.«
Sie öffnete die Augen und hob den Kopf.
»Sagst du mir, dass ich aufhören soll?«
Eine heiße Träne lief über ihre Wange.
Er trat auf sie zu und legte eine Hand an ihren Hinterkopf, sodass sie gezwungen war, zu ihm aufzusehen. Mit seinem großen, warmen Daumen wischte er die Träne fort. »Sagst du mir, dass ich aufhören soll?«
Sie schloss die Augen wieder. Es war zu schwer, ihn anzusehen. Sie fühlte ihre Entschlossenheit bröckeln. Sie wollte nichts mehr, als sich an ihn zu schmiegen, ihm zu erlauben, ihr den Schmerz zu nehmen, die Vergangenheit, die sie verband, zu begraben und ihr eine wunderschöne Zukunft zu versprechen.
»Lauren?«
»Nein«, flüsterte sie. »Hör nicht auf.«
Sie spürte, wie er sich entspannte, der Atem, den er angehalten hatte, traf als warme Wolke auf ihre Lippen.
»Ich habe damals nicht auf deinen Vater gezielt«, sagte er, seine Lippen nur Zentimeter von ihren entfernt, seine Stirn an ihrer.
Blinzelnd löste sich aus seinen Armen und trat sie einen Schritt zurück. »Was?«
»Ich habe meine Mom angerufen und verlangt, dass sie mir die ganze Wahrheit sagt.«
»Und?«
»Ich bin mit der Waffe in die Küche gekommen, habe aber auf meinen Vater gezielt, nicht auf deinen. Ich war wütend auf ihn, weil er uns immer wieder wehgetan hat, immer wieder auf meine Mom und meine Schwester losgegangen ist. Ich wollte, dass er endlich verschwindet. Die Polizei war schon so oft bei uns gewesen, doch nie ist etwas passiert. Die Destroyers haben Quaint regiert, die Chancen standen also gut, dass er mindestens einen der beiden Cops in der Tasche hatte.«
»Nicht meinen Vater«, sagte sie abwehrend.
Er schüttelte den Kopf. »Nein. Nicht deinen Vater. Es war mir damals egal, was aus mir wird. Ich wollte einfach nur, dass meine Mom und meine Schwester in Sicherheit sind. Ich wollte Steve aus unserem Leben schaffen, und selbst mit acht wusste ich schon, dass das nur passieren würde, wenn er tot war.«
»Aber mein Dad …«
»Meine Mutter hat sich auf mich gestürzt, als ich abgedrückt habe, deswegen hat die Kugel deinen Vater getroffen. Sie wollte nicht, dass ich mein Leben lang der Junge bin, der seinen eigenen Vater ermordet hat. Es war ein Unfall. Ein Unfall, der niemals hätte passieren dürfen, aber trotzdem ein Unfall.«
»Ein Unfall«, hauchte sie. Sie war sich nicht sicher, warum, aber irgendwie machte es das erträglicher.
»Ich wollte deinem Vater niemals wehtun. Ich bin damals nicht in diese Küche gekommen, um einen Polizisten zu töten.« Schmerz trat in seinen Blick. »Das würde ich nie tun.«
Aber er war mit der Absicht in diese Küche gegangen, jemanden zu töten. Was bedeutete, dass er trotz allem ein Mörder war, oder?
»Am Tag davor ist er auf Natalie losgegangen. Sie war zu laut, und Steve hatte einen Kater, deswegen hat ihn der Lärm gestört. Ich bin zwischen ihn und meine Schwester getreten. Das war auch das erste Mal, dass ich zurückgeschlagen habe. Hab meinem alten Herrn ein blaues Auge verpasst. Natürlich musste ich sofort dafür büßen. Danach hatte ich eine aufgeplatzte Lippe und ein paar angeknackste Rippen.«
Lauren schlug sich die Hand vor den Mund.
»Ich war acht, Lauren. Natalie war fünf. Mir war klar, dass ich nicht immer da sein konnte, um sie und meine Mom zu beschützen, und ich hatte Angst, dass er sie eines Tages umbringen würde.«
»Deswegen wolltest du ihn vor den Augen der Polizisten erschießen?«
Er hob eine Schulter. »Vielleicht habe ich unterbewusst gehofft, dass ich es nicht wirklich tun müsste, dass die Cops endlich begreifen würden, wie schlimm es wirklich war, und entweder Steve für länger als einen Tag ins Gefängnis steckten oder uns aus dem Haus schafften.«
»Aber du hast wirklich abgedrückt.« Es war keine Frage.
Denn sie beide kannten die Antwort.
Ihr Vater kannte die Antwort.
»Meine Erinnerungen sind noch immer unklar. Laut meiner Mom habe ich es getan.« Er schüttelte den Kopf. »Ich meine, offensichtlich habe ich es getan. Aber es war nie meine Absicht, deinen Vater zu verletzen …« Er räusperte sich. »Deinen Vater umzubringen. Sehr zum Missfallen meines Vaters habe ich Cops schon immer bewundert. Ich wollte damals schon Polizist werden. Einer der Guten. Steve wollte, dass ich in seine Fußstapfen trete, aber daran hatte ich kein Interesse. Ich wollte Menschen helfen, anstatt ihnen zu schaden.«
Und genau das tat er nun. Sein Traum, die blaue Uniform und Marke zu tragen, war Wirklichkeit geworden. Er half. Er diente. Er beschützte.
»Ich liebe dich, Lauren. Mehr als ich jemals jemanden geliebt habe. Und ich liebe Ike, und dieses Baby liebe ich auch schon, obwohl es im Moment nicht größer als ein Pfefferkorn ist.«
Sie zog die Nase kraus und hob eine Braue.
Ein Pfefferkorn?
Sein jungenhaftes, schiefes Grinsen raubte ihr den Atem. »Ich habe ein bisschen gegoogelt, bevor ich hergekommen bin.«
Dafür liebte sie ihn nur noch mehr.
»Ich weiß, wir haben einen langen Weg vor uns, ich weiß, dass du Zeit brauchen wirst, um in mir nicht mehr nur den Mann zu sehen, der …«
Sie legte einen Finger an seine Lippen. »Wir haben es jetzt oft genug gesagt. Wir wissen, was passiert ist. Wir müssen es nicht noch mal wiederholen.«
Er schluckte und nickte. »Okay.«
Tränen liefen über ihre Wangen. »Es tut mir leid, was ich dir alles an den Kopf geworfen habe. Wie grauenhaft ich reagiert habe, als du es mir erzählt hast. Ich war nur …«
»Wütend. Traurig. Verwirrt. Du standest unter Schock.«
Nickend wischte sie sich über die Augen. »Genau das.« Und mehr.
Er streckte wieder die Arme nach ihr aus, schlang einen um ihre Hüfte und legte die andere Hand erneut an ihren Hinterkopf, sodass sie ihn ansehen musste – nicht, dass sie etwas dagegen hatte. »Wir schaffen das. Ich lasse dich nicht mehr los. Ich lasse nicht zu, dass die Vergangenheit unsere Gegenwart und Zukunft kontrolliert, denn wir können eine absolut fantastische Zukunft haben, Baby. Ein wundervolles Leben zusammen, das weiß ich einfach.«
Mit dem Daumen wischte er mehr Tränen fort, bevor er ihn auf ihre Lippen legte. Sie ließ ihre Zunge dazwischen hervorschießen und fuhr über die raue Kuppe seines Fingers, schmeckte ihre salzigen Tränen.
»So leicht wirst du mich nicht mehr los, Lauren.« Das raue Brummen seiner Stimme verwandelte ihren Körper in glühende Lava. »Wenn du unsere Beziehung beenden willst, musst du mich schon wegschicken und mir die Tür vor der Nase zuschlagen, sonst bleibe ich hier.«
Ein rasselndes Schluchzen ließ ihren Brustkorb erbeben, doch sie lächelte durch die Tränen und biss spielerisch in seinen Daumen.
Sein Lächeln löste die letzten Reste ihrer Unentschlossenheit auf, und sie schlang die Arme um seine Taille, vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter und drückte ihn fest an sich, ließ sich von seiner Liebe, seiner Wärme und seiner Hingabe für ihre Familie einhüllen.
Ihr gebrochenes Herz heilte, ihre verlorene Seele kehrte zurück. Dieser Mann war für sie da gewesen, als sie so dringend Hilfe gebraucht hatte wie nie zuvor. Und er hatte die Verantwortung nicht einfach an die Hebamme abgegeben und sich wieder in seinen Truck gesetzt. Er war geblieben, hatte sie während der Geburt unterstützt. Und dann war er wieder aufgetaucht, als sie sich besonders allein gefühlt hatte, und hatte sie noch einmal gerettet. Vor ihren Gedanken, ihrer Einsamkeit und der ewig gleichen Routine einer alleinerziehenden Mutter. Ihre Beziehung hatte sich nur dank Isaac so entwickelt. Dank seiner Beharrlichkeit, seinem Verlangen, sie kennenzulernen, ihren Sohn kennenzulernen und Teil ihres Lebens zu sein. Sie hatte sich schon lange vor seiner Entscheidung, dass sie mehr als Freunde waren, in ihn verliebt. Sie hatte nur zu viel Angst gehabt, es zuzugeben.
Es war unmöglich, diesen Mann nicht zu lieben.
Es war unmöglich, ihm nicht zu vergeben.
Es war unmöglich, sich keine Zukunft mit ihm zu wünschen, trotz der schmerzhaften Vergangenheit, die sie verband.
Sie drückte ihn noch fester an sich, schob die Hände unter seinen Pulli, um sie im weichen Stoff seines Shirts zu vergraben. Die harten, warmen Muskeln an seinem Rücken spannten sich unter ihren Fingern an, als sie sich noch enger an ihn schmiegte.
Sie würde diesen Mann nie wieder gehen lassen. Um nichts in der Welt.
»Es tut mir leid, Baby. Das alles tut mir so leid«, murmelte er mit den Lippen an ihrem Scheitel, bevor er ihr einen Kuss aufs Haar drückte. »Und wenn es das ist, was du brauchst, werde ich mich für den Rest meines Lebens jeden Tag bei dir entschuldigen. Ich tue, was immer nötig ist, um bei dir zu sein. Mehr Therapiestunden, eine Paartherapie. Ganz egal, was, ich tue alles, was du willst.«
Ohne sich auch nur einen Zentimeter von ihm zu lösen, sah sie zu ihm auf und schüttelte den Kopf. »Ich weiß, dass es dir leidtut. Ich vergebe dir. Liebe mich einfach, liebe unsere Kinder jeden Tag. Du bist ein unglaublicher Mann, Isaac Fox, und ich liebe dich aus ganzem Herzen.«
Er neigte den Kopf, bis seine Lippen direkt über ihren schwebten, und flüsterte: »Und ich liebe dich und unsere Kinder mit allem, was ich bin.«