Aufgebracht stürmte Violetta aus dem Eingang des Konservatoriums. Auf dem Trottoir blieb sie mit geballten Fäusten stehen. Sie konnte unmöglich die Arie der Cenerentola singen. Das konnte der Professor nicht von ihr verlangen. Alles, aber nicht das.
»Ich bin kein Koloratursopran«, sprach sie laut zu sich selbst. Zu ihrem Bedauern fehlte ihr die Leichtigkeit in der Stimme, wie sie ihre Mutter besaß. Auch war ihre Stimme dunkler gefärbt und sehr voluminös. Ihre Traumrolle war die Carmen. Es war so sicher wie das Amen in der Kirche, dass der Professor ihre Widersetzlichkeit den Eltern stecken würde. Aber es lag ihr nicht, sich zu verstellen. Lieber sagte sie ihre Meinung offen.
»Guten Tag, Fräulein Schwarz.«
Violetta zuckte beim Klang von Hans Brünns Stimme zusammen und wirbelte erschrocken herum.
»Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte Sie gewiss nicht erschrecken.«
Wie feinfühlig er war. Violetta freute sich, ihn wiederzusehen. In seinen Augen lag ein Leuchten, das ihr das Gefühl vermittelte, er würde sich ebenso über die Begegnung freuen wie sie. Seit dem Zusammentreffen bei ihrem Sturz hatte sie immer vergeblich nach ihm Ausschau gehalten.
»Nicht schlimm. Ich habe Sie schon lange nicht mehr im Konservatorium gesehen.« Violetta schluckte. Jetzt weiß er bestimmt, dass du dich für ihn interessierst! Was war nur in sie gefahren, dass sie so losschwatzte? Ihre Mutter hätte über diese Unverblümtheit missbilligend den Kopf geschüttelt. Sein Lächeln war ansteckend.
»Meine Studienzeit am Konservatorium ist beendet. Wussten Sie das nicht?«
Wie dumm sie sich vorkam. Violetta schüttelte den Kopf.
»Ich widme mich intensiv meiner Operette. Den glücklichen Umstand unseres Wiedersehens verdanke ich meinem Mentor Professor Walden, der mich hergebeten hat.«
Sein begehrlicher Blick ließ Hitze in ihre Wangen steigen.
»Sind Sie denn mit Ihrem Werk bald fertig?« Durch die Frage hoffte sie, von ihrer Verlegenheit abzulenken.
»Noch nicht ganz ...« Er winkte ab. »Aber ich bin guter Dinge, dass ich meine Operette Ihren Eltern bald vorstellen kann.«
Violetta senkte den Blick.
»Das würde uns eine Freude sein.«
»Das ehrt mich. Ich ...«
Hans Brünn brach ab, drehte den Kopf und lauschte.
Durch die Akazienstraße hallten schwere Tritte Marschierender. Nur zu gut kannte Violetta das Geräusch, das furchtbare Erinnerungen in ihr aufsteigen ließ. Als Kind war sie per Zufall Zeugin eines Zusammenstoßes zwischen einer Gruppe Sozialdemokraten und einem SA-Trupp geworden, der blutig geendet hatte. Fast glaubte sie die dumpfen Knüppelschläge auf den Körpern zu hören. Das Bild der am Boden Liegenden und die Blutspuren auf dem Pflaster hatten sich in ihr Gedächtnis gebrannt. Sie fröstelte. Auch jetzt beschlich sie ein ungutes Gefühl. Die Mitglieder der NSDAP und die Hitlerjugend trafen sich oft in ihren Versammlungsräumen am Maschsee. Anschließend marschierten sie durch die Stadt zur Zentrale des Gauleiters in der Dincklagestraße. Nicht selten kam es dabei zu handgreiflichen Auseinandersetzungen. Sie dachte wieder an die Worte ihres Vaters, dass Hans ins Visier der Nazis geraten sein könnte.
»Kommen Sie, Herr Brünn. Wir gehen lieber hinein.« Violetta fasste ihn am Arm.
»Ich lasse mich nicht von denen einschüchtern.«
»Lassen Sie uns ins Gebäude gehen. Bitte.«
Flehend sah sie ihn an.
»Sie zittern ja.«
»Ja«, gab sie zu.
Die Tritte der Lederstiefel näherten sich. Hans Brünn zögerte immer noch, ihr zu folgen. Violetta packte seinen Arm und zerrte ihn mit sich.
Auf der obersten Stufe vor dem Eingang blieb er stehen und wandte sich zur Straße um. Violetta folgte seinem Beispiel. Im selben Augenblick marschierten mehrere Dutzend SA-Leute an ihnen vorbei. Die Entschlossenheit in ihren Blicken und die angespannten Muskeln flößten Violetta Angst ein. Sie wirkten wie Marionetten. Marius Fromm, der Sohn ihrer Patentante, war zum Eintritt in die Hitlerjugend gezwungen worden. Anfänglich hatte er sich geweigert mitzumachen und war Hänseleien und Schikanen ausgesetzt gewesen.
Nie würde sie diesen Tag vor dem neuen Rathaus vergessen, einen Tag vor dem Geburtstag des Führers. Bei Marschmusik und Fackellicht hatten Marius und die anderen Jungen feierlich ihre Treue gelobt, flink wie die Windhunde, zäh wie Leder und hart wie Kruppstahl zu sein.
Anschließend waren sie unter den Hakenkreuzflaggen wie gedrillte Äffchen entlangmarschiert.
Jegliche Form von Zwang war ihr zuwider. Zwang tötete Kreativität.
Im Abstand zu den Uniformierten folgte eine Handvoll Männer. Violetta erkannte Dr. Armin Mahler unter ihnen sofort. Er war bei allen wichtigen Anlässen dabei, spielte sich dabei auf und war vor drei Tagen zum stellvertretenden Gauleiter berufen worden. Dabei war er erst seit Kurzem Parteimitglied. Ganz Hannover hatte darüber geredet, wie es Mahler gelungen war, eine solche Blitzkarriere hinzulegen.
Sie hoffte, dass er sie nicht bemerken würde, und wandte sich schnell zur Eingangstür um. Sie hatte nicht vergessen, was ihr die Eltern über ihn erzählt hatten. Als er ihren Namen rief, stöhnte sie innerlich auf.
»Kennen Sie den Mann?«, flüsterte Hans Brünn ihr zu.
»Der neue Stellvertreter des Gauleiters«, flüsterte sie hastig zurück. Es kursierten Gerüchte, dass Mahler diesen Posten durch eine Intrige erhalten hatte. Aber sie wusste nichts Genaues. Sie spürte, wie sich Hans Brünn anspannte.
Am liebsten hätte sie Mahler ignoriert. Aber dazu galt sein Wort in der Kunstwelt zu viel. Violetta drehte sich wieder um und zwang sich zu lächeln.
»Guten Tag, Dr. Mahler!«, rief sie ihm zu.
In den grauen Augen des Mäzens blitzte es erfreut auf. Anstatt den anderen zu folgen, scherte er aus der Gruppe aus und kam direkt auf sie zu. Verdammt! Sie hatten viel zu lange gezögert. Jetzt musste sie mit ihm reden. Reiß dich zusammen und bleib freundlich!
»Fräulein Violetta, wie ich sehe, sind Sie bereits eifrig auf dem Weg zu Ihren Studien.« Er reichte ihr die Hand, die sie zögernd ergriff. Viel zu lange hielt er ihre fest, während er sie gleichzeitig mit Blicken verschlang. Ärgerlich entzog Violetta ihm ihre Hand. Sie hörte, wie Hans Brünn neben ihr die Luft einsog. Die Lage war unangenehm. Doch irgendwie musste sie sich da hinausmanövrieren.
»Ihre Begleiter werden Sie vermissen.« Violetta hoffte, dass er ging.
Mahlers Lächeln wurde breiter. »Die Herren werden verstehen, dass ich die Gesellschaft einer hinreißenden Frau vorziehe.«
Es blitzte lüstern in seinen Augen auf. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Hans Brünn die Kiefer zusammenpresste. Nichts wünschte sie sich mehr, als dass er eifersüchtig war.
Bei jedem anderen hätte sie sich über das Kompliment gefreut. Nicht jedoch bei Mahler.
»Wer ist denn Ihr Begleiter, Fräulein Schwarz?«
»Ein vielversprechender junger Komponist.«
Mahler wandte sich Hans Brünn zu und musterte ihn, ohne ihm die Hand hinzustrecken.
Die Spannung zwischen den beiden Männern war spürbar.
»Wie war doch gleich Ihr ...?«
Es klang herablassend. Sie spürte die aufkeimende Wut in Brünn.
»Fräulein Schwarz, Dr. Mahler, wenn Sie mich bitte entschuldigen würden, aber ich hätte schon längst bei meinem Mentor sein müssen.«
Der unerwartete Rückzug des Komponisten war geschickt.
»Aber natürlich.« Mahlers Miene ließ keinen Zweifel darüber aus, dass er froh war, wenn Hans Brünn ging.
»Ihr Begleiter hat Sie unhöflicherweise allein gelassen, Fräulein Schwarz.«
»Wir sind nur Kommilitonen«, log sie.
Wie unbeabsichtigt berührte Mahler ihren Arm. Violetta zuckte zusammen. Sie dachte erneut an die warnenden Worte ihres Vaters.
»Wir haben uns hier nur zufällig getroffen.«
»Rein zufällig, sicher.« Ihr gefiel Mahlers sarkastischer Tonfall nicht. Hatte er vielleicht genauso wie ihr Vater ihre Blicke richtig gedeutet?
»Ja, zufällig. Als ich das Konservatorium verlassen habe, sind wir uns über den Weg gelaufen.« Sie hasste es, sich Mahler gegenüber rechtfertigen zu müssen. Doch sie musste vorsichtig sein.
Mahler lächelte erneut.
»Dann sind Sie also auf dem Nachhauseweg? Das trifft sich gut.«
Violetta schluckte gegen den Kloß in ihrem Hals.
»Darf ich Sie nach Hause begleiten?« Mahlers Frage war höflich gestellt, aber in seinen Augen lag ein Ausdruck, der ihr einen Schauer über den Rücken jagte. Es ärgerte sie, dass sie seine Gegenwart dulden musste, um Ärger von ihrer Familie abzuwenden. Sie dachte an den Choreografen Hanno, der Männer liebte, und an den Sänger Gyula, dessen Vorfahren Roma waren. Sie alle könnten durch eine Unbedachtheit von ihr in Gefahr geraten.
»Ja, gern.« Erneut rang sie sich ein Lächeln ab. Ihr schauspielerisches Talent half ihr dabei, überzeugend zu klingen. Herrgott, wie verlogen sie war!
Dr. Mahler fasste ihren Ellbogen. Sein Daumen strich anzüglich über die Spitze ihres Ärmels. Violetta verkrampfte sich. Als seine Finger sich fester um ihren Arm schlossen, befürchtete sie schon, er könnte sie mit einem Ruck an sich ziehen. Zu ihrer Erleichterung tat er es nicht.
Eine Weile schritten sie schweigend nebeneinanderher.
»Sie wohnen noch in Linden?«
»Ja.« Die Stimmung zwischen ihnen war angespannt. Viel lieber hätte sie sich von Hans Brünn nach Hause begleiten lassen. Normalerweise blieb Violetta immer am Nordufer des Maschsees stehen und ließ ihren Blick über das Wasser schweifen. In Begleitung Mahlers verspürte sie heute jedoch keine Lust darauf. Sie wollte so schnell wie möglich nach Hause und sich von ihm verabschieden.
»Ich bin neulich an der Villa Uhlenberg vorbeigefahren.«
»Ach wissen Sie, Herr Dr. Mahler, ich habe nie dort gewohnt. Mein Zuhause ist das ehemalige Pfarrhaus in Linden.«
»Bedauern Sie es denn nicht, dass eine solch prächtige Villa, die sich seit Generationen im Besitz Ihrer Familie befand, in fremder Hand ist?«
Was bezweckte er mit seiner Frage?
Er will mich provozieren!
Sie erinnerte sich noch daran, wie sehr ihre Großmutter darunter gelitten hatte, dass sie einst die Familienvilla hatten verkaufen müssen, um das Theater zu retten. Doch weder ihre Mutter noch sie oder Florentina hingen sehr an der Villa.
Abrupt blieb Violetta stehen. Auch Mahler verhielt den Schritt.
»Was wollen Sie damit andeuten, Herr Dr. Mahler?« Sie sah ihm forschend ins Gesicht. Mahler war kein sensibler Mann, sie schätzte ihn eher so ein, dass er sich rücksichtslos nahm, was er begehrte. Sein Alter war schwer zu schätzen. Auf jeden Fall war er älter als ihre Eltern. Seine Blicke verrieten Violetta, dass er mehr in ihr sah als eine mögliche Tochter. Allein bei dem Gedanken, er könnte sie als Frau begehren, schüttelte es sie.
Niemals würde sie einen Mann heiraten, der ihr Vater sein könnte.
»Sie haben mich durchschaut. Ich mag Ihre Direktheit, wertes Fräulein Schwarz. Sie ist so herzerfrischend. Die Familienvilla steht erneut zum Verkauf. Der Gauleiter sucht ein kleineres, einfacheres Haus für unsere Versammlungen.«
»Dann wird sich sicher ein Käufer dafür finden.«
»Der Gauleiter selbst trägt sich mit dem Gedanken, in der Villa zu wohnen.«
»Aber er hat doch schon das Dincklagehaus.« Das war ihr so herausgerutscht.
»Die Villa ist viel repräsentabler.«
Was würde ihre Mutter dazu sagen, wenn der Gauleiter unter dem Dach der Villa Uhlenberg Empfänge geben würde? Womöglich könnte sich unter den Gästen der Führer oder einer seiner Gefolgschaft befinden. Violetta wusste, dass ihre Mutter Göbbels nicht ausstehen konnte und ihr Vater gegen Göring und die führende Riege der NSDAP war. Ihrer Mutter schien das Schicksal der Familienvilla bisher gleichgültig gewesen zu sein. Wahrscheinlich wäre es ihr einerlei, wenn die Villa in die Hände des Gauleiters fiele.
»Hm, hm.« Violetta sparte sich eine Antwort. Stattdessen schritt sie zügig voran. Je eher sie zu Hause war, desto schneller wäre sie Mahler los.
Endlich erreichten sie ihr Elternhaus, das ihr in diesem Moment wie ein Rettungsanker erschien.
»Ach, da sind wir ja schon!«
Mahler schien weniger begeistert zu sein.
»Wie schade, Fräulein Schwarz. In Ihrer charmanten Gesellschaft ist die Zeit wie im Flug vergangen.«
Mir kam es wie eine Ewigkeit vor!
Höflich lächelte Violetta Dr. Mahler an. »Einen schönen Tag noch, Dr. Mahler.« Sie nickte ihm zu und wollte sich gerade abwenden, als er ihre Hand ergriff und an seine Lippen zog.
»Ich würde einen solchen Spaziergang mit Ihnen gern wiederholen«, säuselte er. »Wie wäre es denn am kommenden Sonntagnachmittag? Das Wetter soll gut werden.«
Violetta stöhnte innerlich auf.
»Ach, das tut mir aber leid, Herr Dr. Mahler, aber unser Ensemble probt den ganzen Sonntag lang.«
Er zog ein enttäuschtes Gesicht.
»Am Sonnabend bin ich leider beim Gauleiter eingeladen. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben.« Er zwinkerte ihr zu, bevor er sich von ihr verabschiedete.
Erleichtert stieg Violetta die beiden Stufen zur Eingangstür hinauf. Sie drehte sich nicht mehr um, auch wenn sie Mahlers Blick im Rücken spürte. Erst als sie im schmalen Hausflur stand und die Tür hinter ihr zugeschlagen war, fühlte sie sich sicher vor ihm.
Aus der guten Stube waren die Stimmen ihrer Eltern zu hören, die lautstark über ein Stück stritten.
»Da bist du ja endlich!«, rief Florentina freudig und tastete sich mit ihrem Langstock durch den Flur, bevor sie Violetta umarmte. Auch Florentina besaß wie sie das schwarze Haar, das sie vom Vater geerbt hatten. Aber ihr Gesicht war schmaler geschnitten. Sie hätte eine Kopie der Mutter sein können, wären da nicht die silbernen Schleier über den Augen gewesen.
»Du bist in Begleitung nach Hause gekommen?«
Sie durfte nie den Scharfsinn ihrer blinden Schwester unterschätzen, die mehr bemerkte als jeder andere, der sehen konnte.
»Wie kommst du denn darauf?«
»Ein wenig Zigarrengeruch haftet an dir.« Florentina schnüffelte an ihrer Kleidung. »Und noch ein anderer Duft, den ich nicht benennen kann. Aber manche Männer riechen so. War es denn eine nette Begleitung?«
Wie konnte ihre Schwester so etwas riechen?
Violetta wusste, dass sie Florentina nichts verheimlichen konnte.
»Unter einer netten Begleitung hätte ich mir etwas anderes vorgestellt. Eine unumgängliche wäre treffender.«
»Nun sag schon, wer es war.«
Ihre Eltern stritten noch immer in der guten Stube. In dieser Stimmung wäre es sicher nicht angebracht, Dr. Mahler zu erwähnen, und schon gar nicht, dass Gauleiter Rust erwog, die Familienvilla zu erwerben.
Violetta atmete tief aus. »Dr. Mahler«, raunte sie und linste über die Schulter der Schwester hinweg, ob sich ihre Eltern in der Nähe befanden.
»Keine Sorge, sie haben es sicher nicht gehört. Ich sage kein Wort zu ihnen.«
»Danke, du bist ein Schatz.« Violetta küsste ihre Schwester auf die Wange.
»Heute ist die Stimmung in unserem Hause leider etwas getrübt. Mutti und Vati streiten schon die ganze Zeit.«
»Worüber denn?«
»Mutti hat Vatis Wunsch entsprochen und Die lustige Witwe von Franz Lehár in den neuen Spielplan aufgenommen.«
Vor vielen Jahren hatte ihr Vater den Komponisten in der Schweiz kennengelernt und sich später hin und wieder mit ihm getroffen.
»Darf die Operette denn aufgeführt werden?«, fragte Violetta erstaunt. Vor einiger Zeit hatte ihre Mutter das Werk vom Spielplan nehmen müssen, weil das Libretto von dem österreichischen Juden Löhner-Beda geschrieben worden war.
»Der Führer ist inzwischen ganz vernarrt in Lehárs Musik und hat ihm eine Sondergenehmigung als Komponisten erteilt. Jetzt dürfen seine Werke wieder aufgeführt werden. Hat Vati gesagt«, erklärte Florentina.
Immer wieder gab es Probleme mit jüdischen Künstlern. Violetta konnte das nicht verstehen. In der Kunst ging es doch weder um Religion noch um politische Gesinnung. Hauptsache, sie erfreute das Publikum. Auch ihre Eltern hatten für die gesamte Familie einen Nachweis erbringen müssen, dass sie keine jüdischen Vorfahren hatten, um das Theater weiter führen zu dürfen.
»Vati soll die Hauptrolle singen. Mutti ist mit seiner Interpretation nicht ganz einverstanden«, fuhr Florentina fort. »Sie haben nicht einmal bemerkt, dass ich vom Klavier aufgestanden bin, weil ich ihre Streitereien nicht mehr ausgehalten habe.«
Ihre Schwester war sehr sensibel, besonders wenn es laut wurde. Ihr Gehör war fein und laute Geräusche für sie unerträglich. Manchmal hatte Violetta gefrotzelt, dass sie das Gras wachsen hören könne.
Sie konnte die Stimmung des Pianisten erfühlen, allein durch seinen Tastenanschlag.
»Komm, lass uns nach oben gehen, bis sich die Wogen etwas geglättet haben.« Florentina fasste sie am Arm und zog sie zur Treppe.
Ihre Schwester hatte recht. Heute war sicher kein geeigneter Tag, um den Eltern von Mahler zu erzählen.