3. Juli 1936

Die Worte Onkel Edgars wollten Brian nicht mehr aus dem Kopf. Seitdem verschlang er jede Zeile über das Leben Frederik von Uhlenbergs. Manche Dokumente und Artikel hatte er aus dem Londoner Zeitungsarchiv. Gerade saß er in der historischen Bibliothek in Oxford, neben ihm ein Stapel Bücher, manche mit Zeitungsartikeln. Brian suchte akribisch nach Hinweisen zu Frederik von Uhlenberg und seinen Nachkommen.

Das Schicksal der Familie berührte ihn wider Erwarten. Besonders interessierten ihn das Leben und der künstlerische Werdegang Leonora von Uhlenbergs, die es in den Wirren des Ersten Weltkriegs geschafft hatte, dem seit mehreren Generationen bestehenden Theater am Park zu neuem Glanz zu verhelfen. Gegenwärtig war sie die Intendantin des Theaters.

Seltsam, dass in Deutschland eine Frau das Theater am Park führen durfte, wo doch der Führer von allen deutschen Frauen erwartete, dass sie viele Nachkommen der arischen Rasse gebaren.

Das sprach für Leonora von Uhlenberg. Sie musste eine sehr starke Frau sein. Aber auch eine begabte. In dem gebundenen Buch mit Theaterkritiken und Artikeln über Künstler in Europa gab es Berichte über sie. Leonora von Uhlenberg gehörte zu den besten Koloratursopranistinnen des Jahrzehnts. Brian beugte sich über das vergilbte Papier und las einen Artikel, den ursprünglich ein gewisser Bruno von Edel verfasst hatte und der später für die Times ins Englische übersetzt worden war. Zwar bemängelte der Verfasser das schlichte Bühnenbild der Aufführung der Zauberflöte, lobte jedoch die Leichtigkeit der Stimme Leonora von Uhlenbergs. Neben dem Artikel war ein Foto von ihr zu sehen. Brian griff nach der Lupe, um das kleine Porträt näher in Augenschein zu nehmen. Die Sängerin auf dem Foto war bildhübsch. Ihr ausgeprägtes Kinn zeugte von Durchsetzungskraft. Schade, dass sie zu alt für mich ist. Diese Frau könnte mir gefallen.

Wie gern hätte er die Nachkommen des Komponisten persönlich kennengelernt. Dazu müsste er nach Deutschland reisen. Doch die Deutschen diskriminierten Juden und alle, die nicht ihrem arischen Bild entsprachen. Brian konnte das nicht verstehen. Früher war er hin und wieder nach Wien oder München gereist. Er hatte die Städte sehr gemocht. Jetzt brodelte es in ihnen wie in einem Vulkan. Es war nur eine Frage der Zeit, wann es zu einem Krieg käme. Sein Vater behauptete immer, dass die Deutschen darin ein Mittel sahen, um ihre Machtposition in Europa und der Welt auszubauen.

»Sie haben gemeinsam mit den Österreichern den verdammten Krieg begonnen! Und weil sie ihn verloren haben, dürsten sie nach Revanche.«

Brian trommelte gedankenverloren mit den Fingern auf das Pult und erntete mahnende Blicke der anderen Bibliotheksbesucher.

Er stand auf und klappte das Buch mit den Kritiken zu. Für heute hatte er genug gelesen.

Auf dem Heimweg nahm er sich vor, seinen Vater nach den Notenblättern von Frederik von Uhlenberg zu fragen.

Als er Wilcox Manor betrat, war der Five-o'clock-tea längst vorbei. Heute musste er nicht in den Club und wollte die Gelegenheit nutzen, seinen Vater beim Dinner darauf anzusprechen.

In der Eingangshalle traf er auf Butler Will.

»Ihre Eltern erwarten Sie bereits im Salon, Mylord.«

»Danke, Will.«

Der Butler verbeugte sich und wollte gewohnheitsmäßig Brian den Hut abnehmen. Er hielt in der Bewegung inne und starrte auf Brians bloßen Kopf.

»Aber ich trage doch nie einen Hut, Will. Bitte sag Geraldine, dass wir noch ein Gedeck brauchen. Mr Mandler wird heute unser Gast sein.«

»Sehr wohl, Mylord.« Mit diesen Worten wandte Will sich um und durchquerte die Halle, während Brian den Salon betrat.

Die Dinnertafel war bereits gedeckt. Neben seinen Eltern saß Rowena und lächelte ihn an.

»Na endlich beehrt uns unser Herr Sohn!« Der Tonfall seines Vaters ließ keinen Zweifel darüber offen, dass er wütend auf ihn war. Auch seine Mutter schaute ihn vorwurfsvoll an.

»Rowena wartet schon seit einer halben Stunde auf dich«, sagte sie und nickte der Tochter ihrer Freunde wohlwollend zu.

»Ich wusste ja nicht, dass ihr Rowena heute eingeladen habt.« Er wandte sich dem Gast höflich zu und verneigte sich. »Guten Abend, Rowena.«

Brian setzte sich auf den Stuhl neben sie. »Gideon Mandler wird ebenfalls mit uns speisen«, verkündete er seinen Eltern, woraufhin sich die Miene des Vaters verfinsterte. Brian wusste, dass sein Vater seinen besten Freund nicht leiden konnte. Aber das war ihm egal. Es war sein Freund.

Gideon Mandler unterstützte nach Meinung seines Vaters Brians musischen Spleen. Brian hatte ihn am Vortag in seiner Werkstatt aufgesucht, weil zwei Tasten auf seinem Klavier klemmten. Obwohl Gideon ausgelastet war, hatte er spontan versprochen, sich des Problems anzunehmen, und es im Handumdrehen gelöst. Das war Brian eine Einladung zum Dinner wert gewesen.

Will servierte ihnen in kunstvoll geschliffenen Kristallgläsern einen Portwein. Brian mochte das süße Getränk nicht. Aber er würde seine Eltern noch mehr verärgern, wenn er ihn ablehnte.

Sein Vater öffnete den Mund. Brian erwartete eine Stichelei. Bevor es dazu kam, hob seine Mutter ihr Glas und prostete ihnen zu. Anschließend betrat Hausmädchen Geraldine den Salon und legte ein fünftes Gedeck auf.

»Mandler? Ist das nicht der berühmte Instrumentenbauer aus London?«, warf Rowena ein, nachdem Geraldine den Salon wieder verlassen hatte. Erstaunt sah Brian sie an.

»Ja, das ist er. Es wundert mich, dass du ihn kennst, da du dich doch nicht für Musik und das ganze Drumherum interessierst, Rowena.«

Brian erntete einen strafenden Blick seiner Mutter. Rowena hingegen lächelte, während sie ihre Serviette auseinanderfaltete und sorgsam auf dem Schoß ausbreitete.

»Ich habe neulich in der Times zufällig einen Artikel über ihn gelesen. Er hat eine Geige aus dem Erbe von Queen Charlotte restauriert und dafür eine Auszeichnung erhalten.«

»Die Gattin von George III.?« Immer wenn es um die Royals ging, war seine Mutter interessiert.

Rowena nickte. »Ja. Queen Charlotte war eine große

Musikliebhaberin. Gemeinsam mit ihrem Musikmeister Johann Christian Bach hat sie damals viele Konzerte organisiert. Ihre Sammelleidenschaft galt Originalpartituren und war weit über die Grenzen hinaus bekannt. Nach ihrem Tod ist der gesamte Nachlass einschließlich ihrer Sammlung nach Hannover gebracht worden. In der Sammlung befinden sich viele Werke, auch welche deutscher Komponisten.«

Rowena hatte sich Brians Vorwurf von neulich offensichtlich zu Herzen genommen und wollte ihm mit ihrem Wissen imponieren.

»Kein Wunder. Sie ist ja selbst eine Deutsche! Als wenn wir nicht genügend gute Komponisten im eigenen Land unterstützen könnten!« Sein Vater schüttelte den Kopf. Er hatte nicht viel für die Deutschen übrig. Das resultierte aus seinen Erfahrungen im Ersten Weltkrieg, in dem er erbittert gegen die Deutschen gekämpft hatte. Die Abdankung des Kaisers hatte eine Friedenszeit eingeläutet, aber seit Hitler Staatsoberhaupt war, kamen wieder martialische Töne aus Deutschland. Sein Vater sah in dem Führer einen machtgierigen Proleten.

Die Küchenmädchen servierten als ersten Gang Suppe. Während Brian löffelte, dachte er unwillkürlich an Frederik von Uhlenbergs Liebesreigen.

»Unsere Familie hat die Gunst des Königshauses immer genossen.« Seine Mutter war stolz darauf, dass eine ihrer Vorfahrinnen die Kinder des Königs erzogen hatte. Bei jeder Gelegenheit musste sie sich damit brüsten.

Es war allgemein bekannt, dass Queen Charlotte eine glühende Verehrerin Frederik von Uhlenbergs gewesen war. Vielleicht hatte sie den berühmten Komponisten auch persönlich kennengelernt. Von seinen Recherchen wusste er, dass Frederik von Uhlenberg den Liebesreigen wenige Jahre vor Queen Charlottes Tod in London komponiert hatte. Gab es einen Zusammenhang mit dem Königshaus? Waren die Notenblätter in den Besitz der Queen gelangt? Wie waren die ersten Blätter zu seiner Familie gekommen? Was geschah mit dem Rest? Fragen über Fragen, auf die er die Antworten kennen wollte.

»Musik wird viel zu wichtig genommen«, unterbrach der Vater Brians Gedanken.

»Lewis, Edgar und ich lieben Musik, seit wir denken können«, bremste seine Mutter ihren Gatten und legte eine Hand auf seinen Arm. Das schien ihn versöhnlicher zu stimmen.

Brian ergriff die Gelegenheit, seinen Vater nach dem Liebesreigen zu fragen, als Will ihnen erneut eingeschenkt hatte.

»Du erinnerst dich noch an die Notenblätter, die ich als Kind auf dem Dachboden von Grandpas Sommersitz gefunden habe?«

»Die von diesem deutschen Komponisten?«

»Ja. Ich habe mich immer gefragt, wo die restlichen Seiten verblieben sind.«

»Verbrannt vermutlich.«

Sein Vater dachte sicher an das Feuer, das vor über siebzig Jahren im oberen Dachstuhl ausgebrochen war und vieles in der Familienbibliothek vernichtet hatte. Brian hielt das für unwahrscheinlich. Warum war dann nicht alles den Flammen zum Opfer gefallen?

Bevor er weiter darüber nachgrübeln konnte, meldete Will seinen Freund Gideon Mandler an. Brians Vater murmelte etwas Unverständliches und sah nur kurz zur Begrüßung auf, als Gideon den Salon betrat.

Gideon setzte sich auf den freien Stuhl neben Brian.

»Vielen Dank, dass ich mit Ihnen dinieren darf.« Brian mochte die bescheidene Art seines Freundes, der schwere Zeiten durchgemacht hatte. Gideon stammte aus einer angesehenen jüdischen Juwelierfamilie. Sein Vater hatte immer vor der Judenfeindlichkeit Hitlers und dessen Anhängern gewarnt. Bereits 1934 hatte seine Familie Deutschland verlassen. Seine Eltern wohnten in Cambridge. Eine weise Entscheidung, denn Brian hörte immer mehr von Diskriminierungen der jüdischen Bevölkerung.

»Hm.« Brians Vater schwieg.

Die Atmosphäre bei Tisch war angespannt. Rowena und ihren humorvollen Bemerkungen war es zu verdanken, dass der Abend in keinem Desaster endete.

Brian war froh, als er sich nach dem Essen mit Gideon zurückziehen konnte, damit der Freund noch einmal seine Klaviertasten überprüfte. Einziger Wermutstropfen war, dass Rowena ihnen folgte. So konnten sie nicht ungezwungen miteinander reden. Es drängte Brian, dem Freund von seinen Vermutungen über den Liebesreigen zu erzählen.

Gideon saß auf dem Klavierhocker und schlug immer wieder verschiedene Tasten an.

Rowena stand neben Brian und trat von einem Fuß auf den anderen. Sie seufzte leise, was zeigte, wie sehr sie sich langweilte.

Nach einer Weile stand Gideon auf.

»Über kurz oder lang brauchen einige Tasten neuen Filz und vielleicht neue Hämmerchen«, erklärte Gideon. »Hör selbst.«

Auf dem Klavier standen noch die Noten von Frederik von Uhlenbergs Liebesreigen. Nachdem Gideon die ersten Takte angespielt hatte, nickte er.

»Bis auf die beiden schrägklingenden Töne muss ich sagen, dass mich dieses Stück sehr berührt.«

»Also ich fand, dass es irgendwie deprimierend klang«, meldete sich nun auch Rowena zu Wort, die die ganze Zeit über geschwiegen hatte.

»Deprimierend würde ich es nicht nennen, sondern eher melancholisch«, warf Gideon ein.

»Ist doch das Gleiche«, antwortete sie spitz.

»Nein, ist es nicht«, korrigierte Brian sie, der die melancholische Weise Frederik von Uhlenbergs sehr mochte.

»Doch«, beharrte sie und streckte ihr Kinn in die Höhe.

Brian gab es auf, sie zu überzeugen.

»Wer hat das denn geschrieben?« Rowena blickte ihn und Gideon fragend an.

»Frederik von Uhlenberg«, antwortete Gideon ehrfürchtig.

»Den Namen habe ich ja noch nie gehört!«

Ihre Art ärgerte Brian.

»Stimmt. Er hat ja auch nie einen Schlager geschrieben«, entfuhr es ihm. Rowenas Einstellung zur Musik ging ihm auf die Nerven.

Sie schnappte nach Luft und kniff die Lippen zusammen.

»Ich finde dieses Stück hier grandios. Die Melodie klingt wie ein Refrain, als wäre sie für Gesang geschrieben. Es scheint sich aber hierbei nur um den Klavierauszug zu handeln. Hast du auch die Gesamtpartitur?«

»Leider nein.«

»Sagtest du Frederik von Uhlenberg?« In Gideons Augen lag ein Glitzern, wie immer, wenn er sich für etwas begeisterte.

»Ja.«

»Weißt du eigentlich, welchen Schatz du hier besitzt?«

»Aber das ist kein Original, sondern nur eine Kopie von mir. Und die letzten Takte fehlten. Ich habe sie komplettiert, weil es mich störte, dass es abrupt endete.«

»Mit Verlaub, meine Herren, aber könnten wir vielleicht zu den Eltern zurückkehren?«, drängelte Rowena.

»Geh ruhig. Wir wollen hier noch ein wenig fachsimpeln.«

Mit einer Mischung aus Ärger und Enttäuschung sah Rowena Brian an. Würde sie jetzt endlich begreifen, dass sie nicht zusammenpassten?

»Bitte, Rowena«, sagte er sanfter.

Sie machte auf dem Absatz kehrt und eilte aus dem Raum. Brian seufzte erleichtert.

»Meinst du nicht, dass du zu Rowena manchmal ein wenig zu hart bist?« Der gutmütige Gideon hätte sich sicher mehr um Rowena bemüht als er.

»Ich mag Rowena. Wirklich. Aber sie will nicht begreifen, dass wir nicht zusammenpassen, obwohl wir schon tausend Mal darüber gesprochen haben. Sie macht alles, was ihre Eltern verlangen. Als wenn sie keine eigenständige Persönlichkeit wäre.«

Rowena und er waren sich einig gewesen, dass nicht mehr als Freundschaft zwischen ihnen bestehen konnte. Kaum hatte sie mit ihren Eltern gesprochen, schien das nicht mehr zu gelten.

»Mir scheint, dass du sie magst«, warf Brian grinsend ein. »Aber ich muss dich warnen, ihre Eltern sind konservativ denkende Aristokraten. Ich glaube nicht, dass du bei ihnen eine Chance hättest. Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass du mit Rowenas Temperament auf Dauer glücklich wärst.«

Gideon zog eine enttäuschte Miene. Doch dann nickte er. »Ich befürchte, du hast recht, mein Freund. Und anspruchsvolle Musik scheint sie auch nicht besonders zu schätzen.«

»Ich wusste doch, dass wir uns verstehen.« Brian zwinkerte ihm zu, bevor er seinem Freund in wenigen Sätzen alles über die gefundenen Notenblätter berichtete.

»Die Originalnoten sind sicher ein Vermögen wert. Du könntest damit vielleicht sogar Hitlers Gunst erringen. Noch dazu, wenn Frederik von Uhlenberg ein echter Arier gewesen ist. Die Partitur zu finden wäre auch ein Gewinn für die Musikwelt. In den letzten Jahren seines Schaffens hat von Uhlenberg nur wenig komponiert. Bist du eigentlich einmal in seinem Theater gewesen?«

Brian sah seinen Freund erstaunt an.

»Nein. Ich wusste ja nicht einmal, dass es eines gab. Existiert es noch?«

»Soweit ich weiß, schon. Es ist das Theater am Park in Hannover.«

Er hatte Hannover als Kind mit seinen Eltern besucht, aber das war ihm entgangen. Es bestärkte ihn nur in seiner Vermutung, dass Queen Charlotte den Komponisten gekannt haben könnte, und ließ es wahrscheinlicher werden, die fehlenden Noten könnten sich in der deutschen Stadt befinden. Vielleicht sogar bei der Familie des Komponisten. Schade, dass Onkel Edgar das damals bei Leonora von Uhlenberg nie hinterfragt hatte. Es hatte Brian schon immer geärgert, dass das Ende der Ouvertüre fehlte. Zu gern würde er nach Hannover reisen. Und am liebsten hätte er Gideon an seiner Seite gewusst, aber das war leider vollkommen unmöglich.

»Ich habe übrigens noch irgendwo ein Buch mit Fotografien des Theaters und der von Uhlenbergs, falls es dich interessiert. Ich habe es damals mitgebracht.«

Brian war brennend daran interessiert, mehr über den genialen Komponisten herauszufinden.

»Es würde mich sehr freuen, wenn du es mir ausleihen könntest.«