Am Freitagabend war besonders viel los im Club. Brian schritt durch die von Zigarrenrauch geschwängerte Luft. Die Herren saßen mit einem Glas Whisky in der Hand in den ledergepolsterten Clubsesseln und plauderten angeregt über die zurückliegende Woche. Oft beherrschte das Thema Hitler die Gespräche. Deutlich hörte Brian den Hass auf die Deutschen heraus, der mit jeder Woche zu wachsen schien. Am Flügel angekommen, legte er die Notenblätter darauf ab und setzte sich auf den Hocker.
Der Leiter des Clubs trat zu ihm und beugte sich zu ihm herunter. Brian bekam den Duke of Whitmore nur selten zu sehen.
»Auf ein Wort, Lord Wilcox«, flüsterte Whitmore und bedeutete Brian, ihm zu folgen. Der Clubleiter führte ihn in einen der hinteren Räume. Brian war gespannt, was er erfahren würde. Hatte sein Vater seinen Einfluss geltend gemacht, dass Brian jetzt nicht mehr spielen durfte? Den Duke und seinen Vater verband eine langjährige Freundschaft.
Kaum dass die Tür hinter ihnen ins Schloss gefallen war, wandte der beleibte Duke sich mit ernster Miene zu ihm um. Brian fühlte sich bei seiner Miene in seiner Befürchtung bestätigt. Die Glatze des Dukes glänzte im Lichtschein des Kronleuchters.
»Sie haben da neulich ein Stück gespielt, das für Aufruhr gesorgt hat. Sind Sie von Sinnen gewesen, das Werk eines deutschen Komponisten vorzutragen?«
Es konnte sich nur um den Liebesreigen von Frederik von Uhlenberg handeln.
»Aber Frederik von Uhlenberg gehört zu den ganz Großen. Wie Händel. Die meisten haben nach meinem Vortrag applaudiert. Das zeigt doch, dass es ihnen gefallen hat.«
»Ist mir egal. In diesem Club werden keine Werke deutscher Komponisten mehr gespielt. Haben wir uns verstanden, Lord Wilcox?«
Brian fehlten die Worte. Bei Wagner, den Hitler verehrte, konnte er das verstehen. Der Duke trat einen Schritt auf ihn zu. Seine buschigen Augenbrauen waren zusammengezogen.
»Haben wir uns verstanden? Oder Sie werden nicht mehr in diesem Club spielen. Ich habe es Ihnen sowieso bloß aus alter Freundschaft zu Ihrem Vater gestattet.«
Wut wallte in Brian auf. Wenn er nur endlich als Pianist auf eigenen Füßen stehen könnte.
Die entschlossene Miene des Dukes verriet Brian, dass er es ernst meinte. Auf keinen Fall konnte er auf das Spielen im Club verzichten, wenn er von seiner Familie unabhängig sein wollte.
»Ja«, antwortete Brian.
Musik trennte keine Völker. Sie war nur dazu da, alle Menschen auf beste Weise zu unterhalten. Da war es doch gleichgültig, welcher Nationalität ein Komponist war.
»Gut. Ich werde ein Auge darauf haben, dass Sie sich an meine Anweisung halten.«
Das Verbot des Dukes gefiel Brian nicht. Die Hälfte der Stücke seines Repertoires waren von deutschen Komponisten. Händel, Bach, Mahler, Schubert ...
Seine Finger glitten über die Tasten, jedoch fehlten Leidenschaft und Herzblut. Die Werke englischer Komponisten hatte er schon viel zu oft gespielt.
An diesem Abend verließ er den Club früher. Die Anweisung des Dukes ärgerte ihn. Er wollte selbst entscheiden können und spielen, was ihm gefiel. Vielleicht wäre es besser, sich ein neues Betätigungsfeld zu suchen. Das könnte sich schwierig gestalten. Vielleicht hatte sein Freund Gideon eine Idee.
Anstatt nach Hause zu gehen, winkte er eine Droschke herbei, die ihn zu Gideons Wohnung in der Nähe vom Piccadilly Circus bringen sollte.
Eine halbe Stunde später stieg Brian vor einem typisch viktorianischem Stadthaus, in dem Gideon bei einem wohlhabenden Bürgerpaar zur Untermiete wohnte, aus seiner Droschke. Gideons Werkstatt für den Instrumentenbau lag im ehemaligen Stall der Kutschpferde. Außerdem besaß er ein kleines Lagerhaus, etwas weiter entfernt, wo Brian ihn noch nicht besucht hatte.
Ein winziger, von einem schmiedeeisernen Zaun umgebener Vorgarten trennte Brian von der Haustür. Entschlossen öffnete er das Gartentor, schritt zur rotlackierten Tür und klopfte an.
Schnelle, leichte Schritte erklangen, bevor die Tür aufschwang und eine junge Frau mit maisblondem Haar und in Hausmädchentracht auf der Schwelle erschien. Brian hatte Gideon schon oft besucht, aber diese Bedienstete noch nie gesehen. Ihre Wangen färbten sich rot, als sie knickste. Er war es gewöhnt, dass Frauen bewundernd zu ihm aufblickten.
»Guten Tag. Was wünschen Sie, mein Herr?«
»Lord Wilcox«, stellte er sich lächelnd vor. Das Mädchen wurde flammend rot. Hastig senkte sie den Blick und knickste in der Verlegenheit noch ein weiteres Mal.
»Bitte entschuldigen Sie, Mylord ...«
»Schon gut. Sie kennen mich nicht. Ich bin ein Freund von Mr Gideon Mandler. Würden Sie mich bitte zu ihm führen?«
»Selbstverständlich, Mylord.«
Brian war erleichtert, dass Gideon offensichtlich zu Hause weilte.
Als sie erneut knicksen wollte, fasste er ihren Arm.
»Bitte nicht. Bringen Sie mich lieber zu meinem Freund.«
Das Hausmädchen nickte und bedeutete Brian mit einer Geste, ihr zu folgen, bevor sie sich umwandte und den langen, schmalen Flur voranschritt.
Gideons Zimmer lag im Anbau zum Garten hinaus. Brian musste ein paar Stufen hinabsteigen.
Zögernd blieb das Hausmädchen neben ihm stehen und sah zu ihm auf.
»Sie können ruhig gehen. Danke.«
Erleichtert atmete sie aus und eilte davon. Schmunzelnd sah Brian ihr nach. Dann klopfte er an.
»Herein!«
Brian trat ein und fand Gideon an seinem Schreibtisch vor, wo er eine Geige entwarf.
»Du kommst gerade richtig, Brian. Ich sitze seit heute Morgen an einer Geige mit besonderem Klang. Mir raucht schon der Kopf. Setz dich zu mir.«
Hastig räumte Gideon unzählige Maßzeichnungen von dem einzigen Stuhl seines Zimmers.
»Bist du hier wegen des Buches über die Uhlenbergs? Ich weiß, ich habe es versprochen. Aber momentan kann ich mich vor Aufträgen nicht retten.«
»Deshalb bin ich eigentlich nicht hier.«
»Sondern?«
Jetzt verschaffte Brian seinem Ärger Luft und berichtete Gideon von seinem Gespräch mit dem Duke.
»Ich fasse es nicht! Wie engstirnig. Die Werke sind lange vor den Nationalsozialisten entstanden.«
»Klar, aber der Duke sitzt am längeren Hebel. Viele sind wegen der politischen Lage auf die Deutschen nicht gut zu sprechen. Du kennst ja meine Meinung dazu.«
Brian nickte. Gideon war der Unterdrückung der Nazis entkommen. In Deutschland hätte man ihm beim Instrumentenbau nur Steine in den Weg gelegt und nichtjüdische Deutsche bevorzugt. Aber Gideon wollte zu den Besten seines Fachs gehören, und dazu musste er genügend Erfahrungen in der Praxis sammeln.
»Was baust du da?« Interessiert betrachtete Brian die Geigenskizze.
»Ich versuche, eine Geige zu bauen, die der Stradivari im Klang ähnelt. Um ehrlich zu sein, sie soll noch besser klingen. Ich weiß nicht, ob mir das gelingt.« Gideon griff nach einem Block Holz.
»Das ist Fichte. Aus Italien«, erklärte er. »Der beste Baustoff für Geigen. Wusstest du, dass Frederik von Uhlenberg nicht nur ein brillanter Komponist war, sondern auch die Geige und das Klavier beherrschte wie wenige seiner Zeit? Er hat seine Geige sogar selbst gebaut.«
Gideon stand vom Hocker auf und lief zu einem Regal, das von Büchern überquoll. Er zog eines heraus und kehrte damit zu Brian zurück.
Die Tradition von Uhlenberg und das Theater am Park lautete der Buchtitel. Der Band war schon ein paar Jahre alt. Gideon schlug ihn auf. Die erste Seite zierte eine Zeichnung, auf der unter anderen ein gutaussehender, junger Mann zu sehen war. Darunter stand der Name Frederik von Uhlenberg gedruckt. Der Komponist schaute den Betrachter selbstbewusst an.
»Hier.« Gideon legte ihm den Bildband auf den Schoß. Sofort begann Brian weiterzublättern.
Herausgeber des Buches war ein Brite.
»Auf Seite zwölf findest du eine Fotografie der ersten Seite der handschriftlichen Partitur des Liebesreigens.« Gideon tippte mit dem Finger auf das Papier. Brian konnte es gar nicht erwarten, einen Blick darauf zu werfen, denn er hoffte, die letzten Takte darauf zu finden.
Leider wurde er enttäuscht. Auf der Schwarz-Weiß-Fotografie war bis auf die Überschrift kaum etwas zu erkennen. Im Text darunter stand, dass Frederik von Uhlenberg den Liebesreigen für eine Frau namens Agnes komponiert hatte.
»Diese Agnes, war das seine Frau?«, fragte Brian seinen Freund, der wieder auf dem Hocker hinter dem Pult Platz genommen hatte und vertieft in seine Skizze war.
»Nein. Seine Frau hieß Luise. Eine Tochter des Hannover'schen Landadels. Sie brachte ein beträchtliches Vermögen in diese Ehe. Diese Agnes jedoch soll seine große Liebe gewesen sein.«
»Eine Vernunftehe und parallel eine Affäre also?«
»Nein, ganz so war es wohl nicht. Agnes war vor seiner Ehe. Warum er nicht seine große Liebe, sondern Luise geheiratet hat, weiß niemand.«
Wenn es nach seinen Eltern ginge, würde Brian das gleiche Schicksal teilen.
Seite für Seite blätterte er um. Das Buch war in verschiedene Abschnitte unterteilt und darunter in Kapitel. Er erfuhr, dass Frederik von Uhlenberg bereits mit vier Jahren auf der Geige, mit sechs auf dem Klavier spielen gelernt hatte. Mit zehn Jahren gab er bereits Konzerte. Als Elfjähriger spielte er vor großem Publikum eine selbst komponierte Klaviersonate und wurde dafür bejubelt.
Es war nicht nur sein musikalisches Schaffen, das ihn bekanntgemacht hatte, sondern auch sein Lebensstil. Frederik von Uhlenberg war Festen sehr zugeneigt, bei denen der Alkohol in Strömen floss. Manchen Gerüchten zufolge war er auch ein gern gesehener Gast in Opiumhöhlen und hatte zahlreiche Affären.
Ein Teil des Buches widmete sich seiner Karriere als Komponist. Zu seinen bedeutendsten Werken zählten das Requiem, ein Liederzyklus, Klaviersonaten und -sinfonien sowie ein Dutzend Opern. Im zweiten Teil wurde das Theater am Park und seine Familie vorgestellt. Jedes Wort, jedes Foto sog Brian auf wie ein Schwamm, bis er plötzlich auf das Farbfoto eines bildhübschen Mädchens stieß. Ihr schwarzes Haar war zu einem Zopf zusammengebunden. Der Blick aus ihren veilchenblauen Augen wirkte geheimnisvoll. Er schätzte sie auf zehn Jahre. Rechts über ihrer Oberlippe war ein kleiner Leberfleck. Neben ihr saß am Klavier ein Mädchen, das eine Brille trug. Brian blätterte vor und zurück, um zu erfahren, wer die beiden Mädchen waren. Weil er nirgends eine Erklärung fand, ging er zu Gideon hinüber und zeigte ihm das Foto.
»Weißt du, wer diese beiden Mädchen auf der Fotografie sind?«
Gideon beugte sich über das Buch und zuckte mit den Achseln.
»Steht denn da nichts drin? Ein Name? Jahreszahl?« Er tippte auf die Seite.
»Leider nein.«
»Vielleicht Urenkelinnen von Frederik.«
Es enttäuschte Brian, dass sein Freund auch nicht mehr dazu sagen konnte.
»Dieses Theater am Park ... du hast gesagt, wahrscheinlich existiert es noch?«
»Ja. In meiner Heimatstadt Hannover. Seit Frederik von Uhlenberg es gegründet hat, war es in Familienhand. Die Aufführungen erfreuten sich immer großer Beliebtheit. Bis zum Ersten Weltkrieg.«
»Und dann?« Seitdem Brian die Noten Frederik von Uhlenbergs gefunden hatte, war er brennend daran interessiert, mehr über ihn zu erfahren.
»Der Intendant, Frederiks Nachfahre, ist zu Beginn des Ersten Weltkriegs gestorben. Sein Tod und der Krieg hatten das Theater in eine schwere Krise gestürzt. Sein Sohn, der Nachfolger, ist im Krieg gefallen.«
»Dann ist es also in fremder Hand?« Brian mochte sich nicht vorstellen, dass das Erbe eines solch genialen Mannes verkauft worden war.
»Nein. Der verstorbene Intendant hatte eine Tochter, die die Leitung des Theaters übernommen hat.«
Eine Frau, die ein Theater leitete? Davon hörte Brian zum ersten Mal. Er konnte sich nicht vorstellen, dass das in England möglich war. Andererseits gedachte er dessen mit Hochachtung.
»Falls es dich interessiert ... die Frau leitet nicht nur das Theater, sie ist die bekannte Sopranistin Leonora Schwarz.«
Brian hatte diesen Namen schon oft gehört und gelesen. Im vergangenen Jahr hatte sie bei einem Konzert in London gesungen.
»Ja, ich weiß. Das hier könnten ihre Töchter sein«, sinnierte Brian und war ein wenig enttäuscht. Dieses Mädchengesicht mit dem ernsten und klugen Ausdruck faszinierte ihn.
»Schon möglich. Die von Uhlenbergs scheinen es dir angetan zu haben.«
»Ich bin vor allem von Frederiks Werken beeindruckt und wüsste gern mehr über ihn.« Das war nur die halbe Wahrheit. Je mehr Brian über die von Uhlenbergs erfuhr, desto mehr nahmen ihn deren Schicksale gefangen. Gideon lächelte.
Auf der Heimfahrt ging ihm das Gesicht des Mädchens nicht mehr aus dem Sinn. Wie sie als erwachsene Frau wohl aussehen mochte?