Vielen Dank noch mal, dass Sie mir die Partituren Frederik von Uhlenbergs zur Verfügung gestellt haben.« Brian reichte Konzertmeister Alois Weber vor seiner Hotelzimmertür die Hand.
»Danken Sie nicht mir, sondern Herrn Schwarz. Er wollte noch mit Ihnen persönlich sprechen. Eigentlich müsste er schon hier sein.« Weber schaute auf seine Armbanduhr.
Brian fühlte sich nicht wohl in seiner Haut. »Wissen Sie denn, was er von mir wollte?« Waren Roman Schwarz oder dessen Frau gegen seine Analysen der Kompositionstechniken von Frederik von Uhlenberg? Er verspürte ein schlechtes Gewissen, weil er ihnen nicht die ganze Wahrheit gesagt hatte.
»Wenn Sie mich nun entschuldigen würden, Mr Wilcox. Ich möchte nicht zu spät zur Probe kommen. Fräulein Violetta ist da sehr streng. Ich wünsche Ihnen alles Gute, und vielleicht sehen wir uns irgendwann einmal wieder.«
»Ja, ja, natürlich.« Sie verabschiedeten sich voneinander. Dann eilte Weber davon.
Brian warf sein Notizbüchlein mit den wichtigen Informationen über von Uhlenberg in den Koffer.
Seufzend legte er die Strickjacke obenauf. Für den heutigen Valentinstag hätte er sich etwas anderes erhofft. Zwar hatte er seine Recherchen über Frederik von Uhlenberg abgeschlossen, aber er verließ Hannover ungern.
Der Anblick des glücklichen Paares hatte ihn enttäuscht. Die Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt hatte, war diesem Komponisten zugeneigt.
Zum Teufel mit Violetta Schwarz! Seit dem Abend der La-Traviata-Aufführung hatte er sie nicht mehr gesehen. Er war ihr aus dem Weg gegangen. Es war besser so. Er wünschte ihr alles Glück dieser Welt, auch wenn ihm sein Bauchgefühl sagte, dass sie und der Komponist Brünn nicht zueinander passten.
Er wollte gerade die letzten Utensilien einpacken, als es an die Tür klopfte.
»Ja?«
»Herr Wilcox, auf Sie wartet ein Herr unten in der Rezeptionshalle«, sagte der Page durch die Tür.
»Danke. Richten Sie ihm bitte aus, dass ich gleich nach unten komme.«
Er hörte, wie sich der Page entfernte, legte die letzten Dinge in den Lederkoffer und schloss die Schnappverschlüsse. Dann begab er sich mit seinem Gepäck nach unten.
Roman Schwarz saß in einem der Ohrensessel, vor sich auf dem niedrigen Tisch eine Tasse Kaffee.
»Guten Tag, Herr Schwarz«, begrüßte Brian den berühmten Sänger auf Deutsch. Sein Gegenüber besaß das gleiche lackschwarze Haar wie seine Töchter. Nur an den Schläfen war er grau. »Ich bin überrascht, dass Sie mich noch einmal sprechen wollen.«
»Mr Wilcox, ich bin hier, weil ich Ihnen eine Frage stellen will, bevor Sie abreisen.«
Er mochte die direkte Art des Sängers.
»Ja, natürlich ... bitte ...«
»Wollen Sie sich nicht einen Moment zu mir setzen? Da spricht es sich leichter. Möchten Sie auch einen Kaffee? Oder lieber Tee?«
Nach einem kurzen Blick auf die Uhr nahm Brian im Sessel gegenüber Platz.
»Kaffee.«
Roman Schwarz winkte den Kellner herbei und orderte einen Kaffee.
»Sind Sie im Besitz des gesamten Liebesreigens?«
»Nein, ich habe leider nur die Ouvertüre«, korrigierte Brian.
»Wie dem auch sei. Darf ich fragen, wie Sie an die Noten gekommen sind?«
»Von einem Adligen, der Frederik von Uhlenberg sehr verehrt hat. Derselbe, der Ihrer Frau die Originalnoten ausgehändigt hat.« Brian war froh, dass er nicht lügen musste. Schließlich hatte Onkel Edgar die Noten an sich genommen.
»Besitzt ... dieser Adlige vielleicht noch mehr Seiten? Oder das Libretto?«
»Nein, sonst hätte er es Ihnen sicherlich übergeben.«
Roman Schwarz blickte ihn skeptisch an.
»Ich kenne ihn schon seit vielen Jahren. Er ist aufrichtig.« Dass er mit ihm verwandt war, verschwieg er. Er hatte Onkel Edgars Ehrlichkeit immer geschätzt.
»Leonora wird untröstlich sein. Für sie besitzt das unveröffentlichte Werk ihres Vorfahren einen hohen Wert. Sie möchte es natürlich vollständig haben. Seit Jahren sucht meine Frau vergeblich nach dem Verbleib dieser Komposition.«
»Kann ich verstehen. Sicher wäre das gesamte Werk ein Vermögen wert.«
Die Miene des Sängers war undurchdringlich. Dennoch verspürte Brian das Gefühl, dass Roman Schwarz nicht nur deshalb zu ihm gekommen war. Für einen Moment wurden sie durch die Bedienung abgelenkt, die Brian den Kaffee servierte.
»Gestatten Sie mir noch eine Frage. Haben Sie denn Werke von Frederik in Ihrer Heimat gespielt?«
»Offen gestanden sind deutsche Komponisten zurzeit in England nicht sehr gefragt.«
»Dabei ist doch die Musik eine Sprache, die alle verstehen und vereinen sollte.«
Das konnte Brian nur bestätigen.
Roman Schwarz trank seinen Kaffee aus. Seine ernste Miene verriet Brian, dass ihn noch mehr beschäftigte.
»Ich habe gehört, dass es den Juden in England besser geht als in Deutschland oder dem Osten Europas.«
Viele jüdische Bürger waren wegen der antisemitischen Gesetze emigriert. Manche nach Südafrika, andere nach Palästina oder Lateinamerika. Aber auch nach England waren einige geflohen, wie sein Freund Gideon. Als der Zustrom zu groß geworden war, hatte die britische Regierung beschlossen, nur noch eine beschränkte Anzahl jüdischer Emigranten aufzunehmen. Emigranten, die Verwandte in England hatten oder ein außergewöhnliches Handwerk beherrschten, das gebraucht wurde, waren bevorzugt worden.
»England ist meist nur eine Art Durchlaufstation für jüdische Emigranten, bevor es nach Palästina weitergeht. Sie sind übrigens der Zweite, der mich danach fragt, wie es jüdischen Emigranten in meinem Heimatland ergeht.«
»Der Zweite?«, fragte Schwarz erstaunt.
»Dieser Mahler hat mich das gefragt.«
»Dieser verfluchte Schurke!« Der Tenor schlug mit der Faust auf die Sessellehne. »Wenn er herausfindet, dass ...« Er stoppte und blickte sich um. »Dass Hans Brünn jüdische Wurzeln hat und meine Tochter ihn liebt. Nach dem Gesetz der Rassenschande macht sie sich damit strafbar.«
Das war es also, was Roman Schwarz auf der Seele lastete!
Brian schluckte. Jetzt, da er das wusste, fürchtete auch er um Violetta. Der Gauleiter würde nicht dulden, dass die Operette eines Nichtariers aufgeführt wurde. Und wenn er erst erfuhr, dass sie mit dem Komponisten ein Liebesverhältnis unterhielt, wäre ihr eine Strafe gewiss. Von Gideon wusste er, dass Leute, die Juden unterstützten, in Schwierigkeiten gerieten. Roman Schwarz beugte sich vor und packte seinen Arm.
»Sie müssen mir versprechen, niemandem etwas davon zu erzählen«, sagte er leise und eindringlich.
»Sie können sich auf mich verlassen, Herr Schwarz«, versprach Brian.
Sein Gegenüber nickte.
»Wenn ich irgendetwas für Sie und Ihre Familie tun kann, lassen Sie es mich wissen.« Brian zog seinen Koffer heran, nahm aus der Seitentasche Stift und Zettel und notierte darauf seine Adresse in London.
»Danke.« Roman Schwarz steckte den Zettel in die Innentasche seines Anzugs.
»Ich habe Ihnen zu danken, dass Sie mir die gewünschten Auskünfte über Frederik von Uhlenberg gegeben haben. Ich habe einen Freund, der Ihnen oder vielmehr Ihrer Tochter und Herrn Brünn helfen könnte. Er hat spezielle Kontakte. Sie verstehen, was ich meine?«
Roman Schwarz nickte.
»Wann brechen Sie auf?« Er deutete auf Brians Koffer.
»Mein Zug nach Dünkirchen fährt in einer guten halben Stunde. Anschließend geht es mit dem Schiff über den Kanal in meine Heimat.«
Die Tage seit seiner Ankunft in Hannover waren viel zu schnell verflogen.
Roman Schwarz stand auf und schien es mit einem Mal eilig zu haben. »Dann will ich Sie nicht aufhalten. Ich habe Ihre kostbare Zeit schon viel zu lange in Anspruch genommen, Mr Wilcox. Ich danke Ihnen und wünsche Ihnen eine gute Heimreise. Ich würde mich freuen, wenn wir uns einmal wiedersehen würden. Vielleicht ein Klavierkonzert in unserem Theater?«
Brian wollte gerade etwas erwidern, als er den SS-Offizier bemerkte, der am Rezeptionstresen stand und zu ihnen herüberschaute. Stand Roman Schwarz auch unter Beobachtung?
»Ja, sehr gern.« Dann beugte er sich vor. »Wir werden beobachtet.«
Roman Schwarz schaute zur Seite und nickte.
»Es ist wirklich sehr schade, dass Sie nicht mehr über den Verbleib des restlichen Liebesreigens wissen. Falls Sie irgendwann etwas darüber erfahren, wären wir Ihnen über eine Nachricht dankbar. Es ist das Familienerbe meiner Frau und Töchter.«
»Sie können versichert sein, dass Sie in diesem Fall von mir hören werden.«
»Danke.« Schwarz' Händedruck war kräftig.
»Passen Sie auf sich und Ihre Familie auf, Herr Schwarz. Vielleicht wäre es ratsamer, wenn Sie alle in der Schweiz Zuflucht finden könnten«, sagte Brian leise.
»Meine Frau würde das Theater niemals aufgeben.«
Dann drehte er sich um und verließ die Rezeptionshalle.
Der SS-Offizier sah Roman Schwarz hinterher. Es musste furchtbar sein, in solch einem Land zu leben, wo jeder Schritt beobachtet wurde.
Brian nahm seinen Koffer, orderte an der Rezeption ein Taxi und lief zum Ausgang.
Draußen war es bereits dunkel. Dicke Schneeflocken schwebten herab. Er musste nicht lange warten, bis das Taxi vorfuhr.
»Möge Gott mit dir sein, Violetta«, flüsterte er, als er am Theater am Park vorbeifuhr. Am liebsten wäre er zu ihr gefahren und hätte sie mitgenommen. Aber ihr Herz gehörte einem anderen.