Und du bist dir ganz sicher?« Überrascht sah Brian in das schmale Gesicht seines Freundes Gideon. Schweiß perlte auf seiner Stirn. Seit Tagen war es in London unerträglich heiß. Brian öffnete den obersten Knopf seines Hemdes.
»Wenn ich es dir doch sage. Die Premiere wurde im April von einem Tag auf den anderen abgesagt. Hat Onkel Eduard mir geschrieben. Er hatte Karten gekauft und konnte sie danach nicht eintauschen.«
Gideons Onkel besuchte regelmäßig das Theater am Park. Seine Frau hatte dort früher als Maskenbildnerin gearbeitet. Vor fünf Jahren war sie gestorben und Gideons Onkel nach Celle gezogen. Aus alter Verbundenheit war er dem Theater treu geblieben.
Mit einem Taschentuch wischte sich Gideon den Schweiß von der Stirn.
Die Premiere abgesagt! Die Worte hallten in Brians Kopf nach. Es musste ein schwerer Schlag für Violetta gewesen sein, der die Operette viel bedeutet hatte. Ein Premierenprojekt, in das sie viel Arbeit und Herzblut hineingesteckt hatte. Für Brian besaß das auch einen Beigeschmack. Violetta war die Premiere wichtig gewesen, weil ihr der Schöpfer dieses Werkes etwas bedeutete. Brian sah auf, als Gideon die Geigensaiten zupfte. »Immer noch zu hoch«, fluchte er und drehte den Wirbel erneut, bevor er ein zweites Mal die Saite zupfte.
Brian grübelte über den Grund der Absage.
»Weißt du auch, warum die Premiere abgesagt worden ist?«
Gideon legte seufzend die Geige beiseite.
»Bestimmt haben die Nazis von Brünns jüdischen Wurzeln erfahren. Wie bei Lehárs Librettisten Beda. Ich bin froh, dass ich Deutschland verlassen habe. Ich wäre sonst vielleicht auch in einem Lager gelandet.« Ein schmerzvoller Ausdruck lag für einen flüchtigen Moment in Gideons Blick.
»Zum Glück bist du in Sicherheit.« Brian klopfte dem Freund auf die Schulter. In Gedanken jedoch war er bei Violetta. Sein Herz klopfte schwer in der Brust, denn nach allem, was er erfahren hatte, wurden arische Frauen, die sich mit einem Juden eingelassen hatten, geächtet, den jüdischen Männern drohte Zuchthaus. Die Vorstellung, sie könnte in Hannover öffentlich angeprangert worden sein, war für ihn unerträglich.
»Nicht sie ...«, rutschte es Brian heraus.
Gideon sah ihn an.
»Sie geht dir nicht aus dem Kopf. Nicht wahr? Diese Violetta Schwarz hat dich ja schwer beeindruckt.« Gideon lächelte ihn an.
»Ja, schon, aber sie ist mit diesem Komponisten Brünn liiert.«
Das Lächeln auf den Lippen des Freundes gefror.
»Wenn das den Nazis bekannt wird, sollten sie und der Komponist Deutschland schnellstens verlassen, solange es noch möglich ist.«
Brian wusste, wie riskant das war. Im März war Österreich annektiert worden, und viele Juden hatten versucht, die Heimat zu verlassen. Doch das wurde immer schwieriger, weil die anderen europäischen Länder kaum noch Juden aufnahmen. Außerdem wurde seit diesem Jahr die Hälfte ihres Hab und Guts von den Nazis beschlagnahmt, wenn es ihnen gelang, alle Papiere zum Verlassen des Landes zusammenzubekommen. Die Verfolgung der Juden wurde immer schlimmer. Er dachte an das Gespräch mit Violettas Vater. Violetta und ihre Familie durften nicht ins Verderben laufen.
Brian sprang von seinem Platz auf.
»Was hast du vor?« Gideon sah ihn erstaunt an.
»Ich muss dringend was erledigen.« Brian stürmte aus der Werkstatt.
In der Pension angekommen, schrieb er einen Brief an Roman Schwarz. Er wählte die Worte mit Bedacht, denn er hielt es für möglich, dass, wenn die Familie Schwarz ins Visier der Nazis geraten war, Briefe aus dem Ausland vorher geöffnet wurden.
Geschätzter Herr Schwarz,
gern und voller Dankbarkeit denke ich an die angenehmen und bereichernden Stunden in Ihrem Theater zurück. Ich habe Ihre Familie schätzen gelernt.
Brian hielt beim Schreiben einen Moment inne und lächelte versonnen vor sich hin. Violetta! Er würde nie ihr liebliches Gesicht vergessen und die eigenwillige Art, wie sie ihr Haar zurückstrich. Das Schicksal hat einen anderen für sie ausgesucht. Seufzend nahm er den Stift wieder zur Hand und beendete den Brief.
Wie Sie wissen, verbindet uns die Musik des Theatergründers. Ich möchte mich gern für Ihre Gastfreundschaft erkenntlich zeigen und lade Sie und Ihre Familie nach London ein. Es würde mich sehr freuen, solch herausragende Künstler wie Sie alle zu einem Konzert zu verpflichten. Das musikbegeisterte London wird Ihnen zu Füßen liegen.
Hochachtungsvoll
Ihr Brian Wilcox
Dann kritzelte er noch ein Postskriptum mit einer deutschen Telefonnummer darunter.
Das ist die Nummer des Herrn, der Ihnen die besten Reiseinformationen geben kann. Sie gehörte Gideons Onkel, der Kontakte zu Fluchthelfern besaß.
Der Tenor war klug und würde den Wink durchschauen. Brian klebte das Kuvert zu und eilte zum Postamt.
Nachdem er den Brief aufgegeben hatte, fühlte er sich besser. Es war ihm ein Bedürfnis, dieser sympathischen und zugleich begabten Familie zu helfen. Was, wenn seine Einladung zu spät käme? Oder die Familie nicht ausreisen mochte, weil sie ihr Theater nicht den Nazis überlassen wollte? Grübelnd trat er den Heimweg an.
Unterwegs kaufte er sich eine Ausgabe der Times wegen des Artikels auf der Titelseite, der über die Ausgrenzung der Juden in Deutschland berichtete. Brian las schnell, um die furchtbaren Szenen, die sich ihm aufdrängten, auszublenden. Er wollte die Zeitung gerade aus der Hand legen, als sein Blick auf die unteren Zeilen fiel. In mehreren deutschen Städten waren Juden und Sozialdemokraten verhaftet worden. Auch Homosexuelle.
Brian schluckte, als er las, dass sich auch Ensemblemitglieder des Hannover'schen Theaters am Park in polizeilichem Gewahrsam befanden und nun deportiert werden sollten. Die Angst um Violetta und ihre Familie schnürte ihm die Kehle zu.
Am frühen Nachmittag erhielt Brian unerwarteten Besuch von Gideon.
»Du?« Brian trat beiseite und zog die Tür auf, um den Freund einzulassen.
»Als du vorhin so schnell gegangen bist, habe ich mich gefragt, ob ich mich sorgen muss, und wollte nach dir sehen.« Gideon trat in den Flur und setzte seinen Hut ab.
»Lass uns in mein Zimmer gehen.«
Während Brian seinem Freund einen Whisky eingoss, berichtete er ihm von dem Zeitungsartikel und seinem Brief an Familie Schwarz.
»Das Schicksal dieser Familie geht dir sehr nah.« Über den Rand seines Glases sah Gideon ihn forschend an.
»Ja. Roman Schwarz und seine Töchter besitzen die Schweizer Staatsbürgerschaft. Ich verstehe nicht, weshalb die Familie nicht in sein Heimatland flieht.« Darüber hatte Brian schon oft nachgegrübelt.
»Meinst du wirklich, Leonora Schwarz würde Deutschland tatsächlich verlassen und ihr Theater im Stich lassen?«
Brian zuckte mit den Achseln. Wahrscheinlich hatte Gideon recht. Violettas Mutter hing sehr an dem traditionellen Theater und hatte ihm in den letzten Jahren wieder zu neuem Glanz verholfen.
»Meine Großeltern haben das auch nicht gewollt und immer betont, dass sie in Hannover zu Hause wären.« In Gideons Augen lag wieder dieser traurige Ausdruck. Seine Eltern und er waren nach England emigriert. Die Großeltern waren zurückgeblieben. Seitdem hatte er nichts mehr von ihnen gehört.
»Ohne meinen Onkel hätten wir es nicht hierhergeschafft. Aber es wird immer schwieriger. England hat die Aufnahme jüdischer Flüchtlinge seit der Annexion Österreichs stark begrenzt. Nur Kinder finden hier zurzeit Zuflucht.«
Brian hatte von den Kindertransporten gehört.
»Alle Familienmitglieder der Familie Schwarz sind hervorragende Künstler! Sie könnten in ganz Großbritannien bei Konzerten auftreten oder sogar ein Bühnenengagement bekommen ...«
Gideon legte seine Hand auf Brians Schulter. »Vergiss nicht, dass sie alles verlieren werden, wenn sie Deutschland verlassen. Ihr Haus, ihr Theater und vielleicht noch mehr. So wie wir. Meine Eltern haben alles verkauft, um zu fliehen und sich anderswo eine neue Zukunft aufzubauen. Dass ich hier als Instrumentenbauer Fuß fassen konnte, war großes Glück. Es gibt so viele andere.«
»Aber nicht so gute.« Brian war von Gideons Fertigkeiten überzeugt.
Doch die Worte des Freundes stimmten ihn nachdenklich. Das Theater war der Stolz der Familie Schwarz. Auch Violetta hatte immer leuchtende Augen bekommen, wenn sie darüber gesprochen hatte. Wäre sie dazu bereit, das Theater und ihre Heimat für die Sicherheit zu opfern?
Gideon war längst gegangen, aber die Sorge um die Familie Schwarz ließ Brian nicht mehr los. Er konnte und wollte nicht noch länger warten.
Entschlossen verließ er sein Zimmer und suchte nach Mrs Dobbs, die einen Fernsprecher besaß.
Er fand die Pensionswirtin in ihrem Wintergarten. Das Telefon war ein Luxus, den sie ihrem Bruder, einem General, verdankte. Sie mochte das neumodische Ding nicht, wie sie es nannte, und benutzte es nie. Wenn ihr Bruder sie besuchte, wollte er jedoch erreichbar sein.
Sie beschnitt ihre Topfrosen und blickte erst auf, als er gegen die Scheibe klopfte.
»Mrs Dobbs?« Brian wusste, dass sie keine Störung mochte, wenn sie sich um ihre geliebten Rosen kümmerte.
»Mr Wilcox, ich hoffe, Sie besitzen einen triftigen Grund, dass Sie mich ausgerechnet jetzt stören.«
»Ja, Mrs Dobbs. Dürfte ich vielleicht Ihren Fernsprecher benutzen?«
Eine steile Falte bildete sich über ihrer Nase, wie immer, wenn sie sich über etwas oder jemanden ärgerte.
»Es geht um Leben und Tod«, schob Brian nach.
Sie legte die Rosenschere auf den Pflanztisch und nickte.
»Kommen Sie.« Sie wischte die Hände an der Schürze ab und bedeutete Brian mit einem Wink, ihr zu folgen.
»Geht es um Ihren Freund Mr Gideon?«, fragte sie auf dem Weg.
»Nein.« In knappen Sätzen berichtete er Mrs Dobbs von seiner Sorge um Familie Schwarz, deren Tochter mit einem Juden liiert war. Zum Glück zeigte Mrs Dobbs Verständnis, denn sie war nicht gut auf die Deutschen zu sprechen. Sie hatte im letzten Krieg ihren Mann verloren.
»Kommen Sie, Mr Wilcox.«
Der Fernsprecher stand auf einem Sekretär in einem kleinen, hellen Zimmer mit Blümchentapeten und -vorhängen.
»Bitte.« Sie deutete auf den Apparat, bevor sie den Raum verließ. Brian nahm den Hörer in die Hand und drehte die Wählscheibe. Kurz darauf meldete sich die Vermittlungsstelle.
»Bitte verbinden Sie mich mit Mr Edgar Southerland.«
»Einen Moment bitte.« Es rauschte in der Leitung.
Bis sich jemand meldete, dauerte es eine gefühlte Ewigkeit. Brian trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte.
Nach einer langen Weile klickte es in der Leitung, und sein Onkel meldete sich am anderen Ende.
Brian war erleichtert.
»Onkel Edgar, ich brauche deine Hilfe.« In wenigen Sätzen erklärte Brian ihm sein Vorhaben.
»Eine Flucht aus Deutschland ist sehr riskant.«
»Aber es ist die einzige Möglichkeit. Ich werde Roman Schwarz ein Telegramm schicken. Du kennst einige in der Einwanderungsbehörde. Bitte, Onkel Edgar, es ist mir sehr wichtig.« Gideon hatte ihm den Namen des Fluchthelfers in Deutschland gegeben. Zusammen mit Onkel Edgar, der die Entscheidungsträger in der Behörde kannte, müsste eine Flucht doch möglich sein. Sein Onkel seufzte.
»Also gut, ich werde sehen, was ich ausrichten kann. Aber versprechen kann ich dir nichts.«
»Danke, Onkel Edgar.«
Nachdem Brian aufgelegt hatte, ging er zum Postamt und schickte zwei Telegramme los, an Roman Schwarz und an Gideons Fluchthelfer in Hannover, der Juden ins Ausland schleuste. Danach fühlte er sich gleich besser.