Ich gehe nicht ohne euch.« Trotzig sah Violetta ihre Mutter an.
Sie wollte, dass Florentina und die Eltern mit ihnen emigrierten.
»Sei doch vernünftig. Wir können nicht mit euch gehen. Ich kann nicht zulassen, dass unser Theater, das sich seit Generationen in Familienbesitz befindet, in die Hände der Nazis fällt.«
Einerseits konnte Violetta das verstehen, denn auch sie hing am Theater. Aber ihr wurde das Herz schwer bei dem Gedanken, bald die geliebten Eltern und ihre Schwester verlassen zu müssen, in der Ungewissheit eines Wiedersehens.
»Das Leben stellt uns viel zu oft vor schwere Entscheidungen, Violetta.«
Sie wollte gerade etwas erwidern, als schwere Schritte im Flur erklangen. Ihr Vater kehrte pünktlich zum Mittag zurück.
»Roman!« Ihre Mutter ging auf den Vater zu. »Hast du etwas bei Herrn Meier erreichen können?«
Ihr Vater nickte.
Violetta sah ihre Eltern abwechselnd an.
»Wer ist das?«, fragte sie.
»Er hilft euch, Deutschland zu verlassen.«
Sie erfuhr von ihrem Vater, dass dieser Herr Meier der Hannover'schen Widerstandsbewegung angehörte und die Flucht jüdischer Bürger ins Ausland koordinierte. Er kannte die besten Fluchtrouten. Violetta lauschte aufmerksam den Erklärungen des Vaters.
Sein eindringlicher Blick ängstigte sie. Ihre Furcht vor der Flucht wuchs mit jedem Atemzug.
»Es ist so weit.«
Die Worte des Vaters stellten die schicksalhaften Weichen. Violetta hatte den Gedanken an eine Flucht immer weit weggeschoben. Die Neuigkeit kam so plötzlich. Sie schluckte hart.
»Herr Meier hat dir und Hans Einreisevisa für England besorgt. Er wird sie euch rechtzeitig aushändigen. In wenigen Tagen ist es so weit. Ihr fahrt mit dem Zug nach Hamburg. Dort erfahrt ihr dann, wie es für euch weitergeht. Bitte haltet euch streng an die Weisungen, die er euch zukommen lassen wird.« Er zog aus der Manteltasche zwei Zugfahrkarten und hielt sie hoch.
Ein Kloß bildete sich in Violettas Hals. »In ein paar Tagen schon?«, fragte sie erstickt.
Ihr Vater nickte. Sie erkannte in seinen Augen, wie nah auch ihm die Trennung ging.
»Wo werden wir wohnen?«, fragte Violetta heiser.
»Bei einem Cellisten des Londoner Symphonieorchesters, bis ihr etwas Eigenes gefunden habt.«
»Wovon sollen wir eine Wohnung bezahlen? Wir brauchen Arbeit. London ist bestimmt ein teures Pflaster.«
»Keine Sorge. Clive hat mir fest versprochen, sich um ein Vorsingen für dich zu bemühen. In London könnt ihr gut verdienen.«
Violetta vertraute dem Musiker, weil ihr Vater es tat. Jetzt konnte sie nur hoffen, dass sie die Theaterintendanten in England würde überzeugen können, um ein Engagement zu erhalten.
»Ich werde auch meinem damaligen Konzertpartner schreiben«, bot ihre Mutter an, die im vergangenen Jahr in der Londoner Queens Hall gesungen hatte. »Ich bin mir sicher, du wirst London mit deiner Stimme bezaubern.« Sie lächelte ihr aufmunternd zu.
»Danke, Mutti. Und Hans?«
»Er ist so begabt. Ich könnte mir vorstellen, dass seine Operette in England Anklang finden wird. Ich werde es meinem Duettpartner mitteilen. Er hat gute Beziehungen bis ins Königshaus.«
»Weiß Hans schon von alldem?«
Ihre Eltern verneinten.
»Gut, dann werde ich es ihm heute Abend sagen.«
»Wir sollten zeitnah deine Sachen packen«, schlug ihre Mutter vor. »Und kein Wort zu Berta und Justine.«
Am Nachmittag packte Violetta mit Hilfe Bertas zwei Reisetaschen. Es fiel ihr schwer, die Zofe, die schon ihren Großeltern gedient hatte, anzulügen.
»Das hellblaue Seidenkleid muss auch mit«, wies Violetta sie an.
»Das passt nicht mehr hinein, und Sie haben genügend Kleider mit, die sich für ein Vorsingen eignen«, widersprach Berta.
Die Eltern hatten Berta und Justine erzählt, dass sie zu einem Vorsingen nach Salzburg fahren würde.
Auf fast alle guten Kleider hatte Violetta verzichten müssen, denn sie durfte auf die Fähre nur zwei Reisetaschen mitnehmen. Die waren bereits prallgefüllt.
»Ich möchte aber das zum Vorsingen. Es hat mir immer Glück gebracht.« Auf keinen Fall wollte sie auf ihr Lieblingskleid verzichten. Also nahm sie das hellblaue Seidenkleid vom Bügel und stopfte es obenauf in die lederne Reisetasche.
»Aber Frollein Violetta, das wird ja ganz zerknittert sein, wenn Sie es wieder herausnehmen. Was sollen denn die Leute denken?« Berta war im Begriff, das Kleid wieder aus der Reisetasche zu ziehen. Doch Violetta hinderte sie daran.
»In Salzburg wird es bestimmt jemanden geben, der es bügeln kann.«
Berta schüttelte den Kopf.
»Gibt es ein Problem?«, schaltete sich ihre Mutter ein, die unerwartet im Türrahmen stand.
»Ihr Frollein Tochter möchte das hellblaue Kleid mitnehmen. Ich habe ihr gesagt, dass es nicht mehr hineinpasst. Aber sie besteht darauf.«
Ihre Mutter lief auf die Tasche zu, zog das Kleid wieder heraus und hängte es auf den Bügel.
»Berta hat recht. Für ein Vorsingen brauchst du es nicht. Du hast doch genügend andere Kleider eingepackt.«
»Aber keines, das elegant genug wäre«, protestierte Violetta.
»Wir werden nicht darüber diskutieren, junge Dame«, sagte ihre Mutter streng, bevor sie sich umdrehte und wieder das Zimmer verließ.
»Ihre Frau Mutter hat recht.« Berta schloss die Reisetasche und verließ ebenfalls das Zimmer.
Kaum waren beide gegangen, stopfte Violetta ihr Lieblingskleid in die Reisetasche zurück. Zu viele Erinnerungen barg es, als dass sie es zurücklassen konnte.
Zufrieden schloss sie den Reißverschluss. Nach dem Abendessen wollte sie zum Haus der Symphonie fahren und Hans die Neuigkeiten überbringen. Sie sah zum Fenster hinaus. Draußen war es bereits dunkel geworden. Das erinnerte sie an die unangenehmen Begegnungen mit Mahler. Die letzten Tage hatte sie Ängste ausgestanden, die Gestapo könnte Hans' Versteck gefunden haben. Der Gedanke erschreckte sie so, dass ihr übel wurde. Sie rannte hinüber ins Badezimmer und erbrach sich. Dann kehrte sie in ihr Zimmer zurück und legte sich aufs Bett. Violetta starrte an die Decke und sann über ihre Zukunft nach. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als den Rest ihres Lebens mit Hans zu verbringen. Dennoch fürchtete sie sich vor einem Leben in einem anderen Land. Sie schloss die Augen, um sich wegzuträumen. Das half ihr, die Angst zu überwinden. Doch anstelle von Hans' Gesicht sah sie das von Brian Wilcox vor sich. Erschrocken riss sie die Augen auf.
Unten ertönte der Gong. Justine rief zum Essen. Obwohl Violetta keinen Hunger verspürte, begab sie sich nach unten in die gute Stube. Ihre Eltern und Berta saßen bereits am Tisch.
»Wo ist Florentina?«, fragte sie.
»Ich nehme mal an, noch im Theater. Sie wollte sich unbedingt die Probe der Streicher anhören und dann mit dem Taxi zurückkehren. Bestimmt wird sie jeden Moment erscheinen.«
Die Antwort des Vaters verursachte bei ihrer Mutter Stirnrunzeln. »Und wenn sie wieder mit Hannah zu Fuß nach Hause geht?«, gab sie zu bedenken.
»Das glaube ich nicht. Florentina ist doch vernünftig.« Der Vater tätschelte die Hand der Mutter. Doch ihre besorgte Miene blieb, als sie sich Violetta zuwandte.
»Ich habe euch gebeten, bei Einbruch der Dunkelheit zu Hause zu sein. Es ist auf den Straßen gefährlich geworden. Nach dem Attentat auf vom Rath ist es unruhig geworden. Wie damals, als der Thronfolger in Sarajevo erschossen wurde. Da braut sich was zusammen.«
Alle Zeitungen hatten über das Attentat des Juden Herschel Grynszpan auf den Legationssekretär in Paris ausführlich berichtet.
Aber sie musste doch zu Hans! Das konnten die Eltern ihr nicht verwehren.
Wenn ihre Eltern von der unliebsamen Begegnung mit Mahler wüssten, würden sie es ihr erst recht verbieten.
»Aber ihr wisst doch, dass ich jeden Abend zu Hans fahre.«
»Heute nicht mehr«, entschied ihre Mutter.
»Ich kann gut auf mich selbst aufpassen!«
Ihre Mutter öffnete den Mund zum Protest.
»Deine Mutter hat recht. Ab morgen stelle ich dir unseren Wagen und Chauffeur zur Verfügung.«
Der Vorschlag des Vaters war akzeptabel.
»Einverstanden.«
Sie sah zu ihrer Mutter hinüber, die verärgert schien.
Ihr Vater nahm die Hand der Mutter. »Bist auch du damit einverstanden, Leonora?«
»Ja«, gab sie zögernd nach.
Justine trug das Essen auf. Das Porzellan auf dem Tablett klirrte, als ihre gichtknotigen Hände zitterten. Vorsichtig stellte sie das Tablett auf dem weißen Tischtuch ab. Violetta half ihr beim Decken.
Als Leonora später der Dampf der heißen Suppe in die Nase stieg, wurde ihr erneut übel. Sicher lag es an der Aufregung vor ihrer Reise in eine unbekannte Zukunft und daran, dass sie sich um die Familie in der Heimat sorgte. Nach drei Löffeln Suppe schob sie den Teller von sich.
»Aber Frollein Violetta, schmeckt Ihnen meine Suppe nicht?«, fragte Justine gekränkt.
Ihre Mutter schaute sie nachdenklich an.
»Doch, wie immer lecker. Ich habe einfach keinen Appetit. Bestimmt die Aufregung.«
Justine gab sich mit der Antwort zufrieden und setzte sich zu ihnen an den Tisch.
Violetta kannte außer ihnen keine Familie, bei der die Bediensteten mit am Tisch saßen. Das hatte sich nach dem Verkauf der Familienvilla eingebürgert. Auch ihre Mutter hatte damals Entscheidungen treffen müssen. Oft hatte sie ihr und Florentina erzählt, wie schwer es ihr gefallen war, die Villa aufzugeben. Heimlich war Violetta ein paar Mal am einstigen Familiensitz vorbeigefahren. Ein herrschaftliches Haus, umgeben von einem weitläufigen Park. Jetzt gingen die Nazis dort ein und aus.
Immer wieder hatten Berta und Justine ihr von den glanzvollen Zeiten in der Villa Uhlenberg vorgeschwärmt. Jetzt gehörte sie der NSDAP. Ihr Vorfahr, Frederik von Uhlenberg, war ein sehr freiheitsliebender Mensch gewesen. Er würde sich im Grabe umdrehen, wenn er wüsste, dass in seiner Villa der Gauleiter residierte.
»Du hast ja auch kaum etwas gegessen«, riss der Vater sie aus ihren Grübeleien und deutete auf den Teller ihrer Mutter.
»Florentina wollte längst zurück sein.«
»Mach dir keine Sorgen, Leonora. Die Probe wird sicher etwas länger gedauert haben.«
Violetta schaute zum Fenster hinaus. Plötzlich bemerkte sie, dass der Himmel rötlich verfärbt war.
»Schaut mal!«, rief sie und zeigte zum Fenster. Alle wandten sich um. Ihr Vater sprang auf und kam zu ihr.
»Es brennt in der Nähe!«, rief er aufgeregt und stürzte zur Haustür. Ihre Mutter folgte ihm. Als er die Tür öffnete, strömte beißender Brandgeruch herein. Durch die Straße hallten laute, aufgeregte Stimmen. Jemand schrie. Jetzt hielt es auch Berta und Justine nicht mehr auf ihren Plätzen.
»Gott im Himmel! Die Synagoge brennt!«, rief ihre Mutter entsetzt.
»Sie machen es also wahr«, merkte ihr Vater grimmig an. Erneut verspürte Violetta Furcht.
Plötzlich hörten sie das rhythmische Geräusch von Stiefeln auf dem Pflaster. Irgendwo knallte es, dann hörten sie Glas splittern. Wieder folgten Schreie und laute Stimmen.
»Alle ins Haus!«, rief ihr Vater und drängte sie mit dem Arm zurück. Dann verschloss er die Tür.
Entsetzt beobachteten sie durchs Fenster, wie die Sturmtruppen gegenüber beim jüdischen Metzger Simonsohn die Fensterscheiben einschlugen und die Fensterläden zertrümmerten. Anschließend zerrten SA-Männer die Familienmitglieder einzeln an den Haaren aus dem Haus, beschimpften, traten und schlugen sie.
Violetta kannte die Familie Simonsohn. Es waren alles freundliche und hilfsbereite Menschen, besonders deren älteste Tochter Hannah. Wie konnte man nur so etwas tun? Fassungslos wandte sie sich ab, denn sie konnte den Anblick nicht mehr ertragen.
»Hoffentlich war Florentina wirklich vernünftig. Gott steh uns bei«, murmelte ihre Mutter völlig aufgelöst und schlug die Hände vors Gesicht.
Ihr Vater wollte mit geballten Fäusten aus dem Haus laufen, um einzuschreiten. Aber ihre Mutter hielt ihn zurück.
»Roman! Nein! Du kannst da jetzt nicht hinausgehen.«
»Soll ich vielleicht zusehen?« Ihr Vater schüttelte die Hand der Mutter ab.
»Roman, bitte, geh nicht. Du kannst gegen die SA-Männer nichts ausrichten.«
»Vati, Mutti hat recht. Geh lieber nicht.« Noch nie hatte Violetta solche Furcht um ihren Vater verspürt.
»Wie können die so etwas tun?«, jammerte Justine.
Violetta sah, wie die Familienmitglieder in einen Wagen gestoßen wurden.
Sie zuckte zusammen, als draußen erneut Glas klirrte.
»Wo bringen sie sie hin?« Tränen rannen über Bertas volle Wangen. Die SA-Männer zogen weiter. Violetta war wie gelähmt.
»Weg mit dem Judenpack!«, grölten die Nationalsozialisten. Dann folgte ein markerschütternder Schrei. Violetta konnte das kaum ertragen.
»Großer Gott, sie machen es wahr«, sagte Berta. Ihre Lippen zitterten, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Florentina ist immer noch irgendwo in der Stadt. Und was ist, wenn sie Hans finden?« Violetta kam vor Sorge fast um.
»Ich kümmere mich darum«, entschied ihr Vater. Er schaute zum Fenster hinaus. Draußen war es ruhiger geworden.
»Ich komme mit«, sagte Violetta, fest entschlossen, ihn trotz der Gefahr zu begleiten. Doch er schob sie zurück und schüttelte mit dem Kopf.
»Das ist für dich viel zu gefährlich. Ihr bleibt alle im Haus und verriegelt die Tür. Hier seid ihr sicher. Sie wissen sicher, dass hier keine Juden wohnen.«
»Aber Vati ...« Sorgenvoll blickte Violetta zu ihm auf. Was, wenn ihm etwas geschah?
Er zog sie ein Stück zur Seite. »Pass auf die anderen auf, solange ich fort bin. Ich kann mich doch auf dich verlassen?«
»Ja, Vati«, widersprach Violetta leise und drückte seine Hand.
»Roman ...« Ihre Mutter kam zu ihnen.
Er küsste ihre Mutter auf die Stirn.
»Ich verspreche dir, dass ich Florentina finden werde. Und ich werde mich auch vergewissern, dass es Hans gut geht.«
Eine letzte Umarmung, dann verließ er das Haus.